Bibelvers der Woche 26/2020

Und machte an jeglichem Knauf zwei Reihen Granatäpfel umher an dem Gitterwerk, womit der Knauf bedeckt ward.
1. Kö 7,18

Hier ist ein Link für den Kontext des Verses, zur Lutherbibel 2017.

Zenit der Zeit

Oh! Dieser Vers liegt in unmittelbarer Nachbarschaft zum Bibelvers der letzten Woche. Die beiden Verse lesen sich völlig bruchlos. Ich will also versuchen, sie gemeinsam zu betrachten..

Wieder geht es um die Bautätigkeiten am Tempel. Salomo hat Hiram von Tyrus gerufen (siehe den BdW 1/2020), damit dieser die Bronzearbeiten ausführe. Hiram errichtet vor dem Allerheiligsten zwei riesige Säulen. Sie haben sogar Namen: Jachin und Boas. Ihre Kapitelle, im Vers „Knäufe“ genannt, sehen aus wie Lilien und sind aufwendig verziert mit Granatäpfeln. Granatäpfel sind Symbole für Fruchtbarkeit und Leben: wegen ihrer vielen Kerne und auch wegen ihrer Wirkung als potentes Aphrodisiakum. Sie werden im Hohelied besungen und spielen noch im heutigen Judentum eine wichtige Rolle bei den Neujahrsfeierlichkeiten. 

Auch der Vers der letzten Woche beschrieb Schmuck von Aussenelementen des Allerheiligsten. Von Schnitzwerk war dort die Rede, von Cherubim, Palmen und Blumenwerk, alles golden…!

Das ist schön, nicht wahr? Es ist Mittsommer, die sechsundzwanzigste Woche des Jahres! Und wir sind ganz oben, top of the world.

Dabei sind die beiden Königsbücher von Grund auf pessimistisch. Ihr Einstieg ist der Höhepunkt der Geschichte der jüdischen Reiche, mit dem Großreich Davids, seiner Erweiterung durch Salomo und dem Tempelbau. Danach geht es bergab, mit Hebungen und Senkungen zwar, aber letztlich unaufhaltsam. Das Reich spaltet sich, das große Südreich Israel geht als erstes unter. Das kleine Juda schlüpft in die Rolle des großen Bruders, aber auch dieses Reich nimmt ein gewaltsames Ende, mit der Versklavung seiner Elite und der Zerstörung des Tempels. Damit schließt das Werk. Die beiden Bücher erklären ex post den Untergang, ohne selbst eine Perspektive auf die Zukunft zu entwickeln.

Die fallende Bewegung ist der Bibel als Ganzer durchaus eigentümlich: angefangen bei der Schöpfungsgeschichte bis hin zu den Prophetenbüchern und weiten Teilen des Neuen Testaments.

Wir alle fallen. Diese Hand da fällt.
Und sieh dir andre an: es ist in allen.

Nun stehen aber die Königsbücher in einem chronologischen und inhaltlichen Zusammenhang mit den beiden Samuelbüchern, die vom Aufstieg handeln, aus einer dunklen, durch lokale Fehden und  regionalen Kriegen geprägten Vorzeit bis hin zum Großkönigtum Davids, des Gesalbten Gottes. Nicht ohne Brüche, aber im Ganzen genauso gerichtet und folgerichtig wie die Königsbücher.  

Mittsommer: Mit den beiden schönen, ornamentalen Versen stehen wir auf dem Höhepunkt dieser ungeheuren Bewegung aus Aufstieg und Fall des Gottesvolks. Und zwar konkret am Allerheiligsten, der Wohnstatt Gottes auf dem Berg Moria, hoch über der selbst hochgebauten Stadt, achthundert Meter über dem Meeresspiegel. Von dieser Höhe aus können wir frei in beide Richtungen blicken. Tun Sie es einfach mal, vielleicht sehen Sie etwas anderes als ich. 

Diese Höhe, einmal erreicht, bleibt ja in der Geschichte aufgehoben. Der Gedanke und das Gedenken an den nicht mehr existenten Tempel, dem Ergebnis einer bleibenden Erwählung, ist im Judentum ein geistiger und religiöser Fixpunkt. Es hat die Wohnstatt Gottes gegeben! — dass sie zerstört wurde, macht sie nicht ungeschehen. 

Und wie ich dies schreibe, verstehe ich, dass Christen in sehr ähnlicher Weise mit Jesu Kommen und Gehen umgehen. Rudolf Bultmann spricht vom ‚Dass‘ des Gekommenseins. Dieses ‚Dass“ unterscheidet eine Welt, in der Jesus gelebt, gestorben und wieder auferstanden ist, grundsätzlich von einer Welt, in der dies nie geschehen ist — obwohl diese Welten einander ansonsten sehr ähnlich sehen mögen. 

Das ist in fast schon existenzialistischer Weise tröstlich. Sie sind beide nicht „da“, aber der Gedanke an sie: an das Allerheiligste, an Jesus, bleibt so in tiefer Not ein Trost.

Und doch ist Einer, welcher dieses Fallen
unendlich sanft in seinen Händen hält.

Da ist ein Geheimnis des Glaubens. Ich wünsche uns eine gesegnete Woche — in der auch Granatäpfel ihren Platz haben…!
Ulf von Kalckreuth

Bibelvers der Woche 23/2018

Das ist’s, was der HERR gebietet den Töchtern Zelophehads und spricht: Laß sie freien, wie es ihnen gefällt; allein daß sie freien unter dem Geschlecht des Stammes ihres Vaters,…
Num 36,6

Hier ist ein Link für den Kontext des Verses, zur Lutherbibel 2017.

Kulturelle Evolution in der Eisenzeit

Der Vers steht am Ende des 4. Buchs Mose. Die vereinigten Stämme liegen am Ostufer des Jordan gegenüber der Stadt Jericho, bereit, in das Heilige Land einzufallen. Die Truppen sind gezählt (vgl. den Vers der Woche 18/2018), das noch zu erobernde Land ist zur Hälfte verteilt, Regeln für die Behandlung von Tötungsdelikten sind aufgestellt, sogar Freistädte sind benannt, in welche Totschläger (nicht: Mörder) vor ihren Verfolgern fliehen können… 

Und dann, im letzten Abschnitt des vierten Buchs, gibt es noch recht unspektakuläre Dinge zu regeln. Im gezogenen Vers geht es um die Fortsetzung eines Falles, dessen Studium in Abschnitt 27 begonnen wurde. Dort war vor Mose das Problem gebracht worden, dass ein verdienter Mann namens Zelophehad ohne Söhne gestorben war — was soll nun mit seinem Erbe geschehen? Zwar hatte er keine Söhne, aber vier Töchter. Mose sprach im Namen des Herrn, dass den Töchtern ein eigenständiges Erbrecht zukomme: das Erbe Zelophhad solle also nicht an weiter entfernte männliche Verwandte gehen, was offenbar die relevante Alternative gewesen wäre. 

In Abschnitt 36 nun wird die Fallstudie fortgesetzt: Wenn nun aber die erbberechtigten Töchter Männer aus einem fremden Stamm heiraten, so falle diesen das Erbe zu und der Stamm Manasse verliere Land, argumentieren die Ältesten. Hier gibt es zwei Rechtsprinzipien, die zu achten sind: zum einen soll jedem Stamm auf alle Zeit das seine bleiben — das war durch eine große Zahl von Regeln abgesichert, zu denen auch der Schuldenerlass gehörte, siehe den Vers der Woche 15/2018. Zum anderen ging das Eigentum der Frau in das Erbe ihres Mannes über, auch dies ein nicht verhandelbares Prinzip. 

Mose Antwort im Namen des Herrn ist durchaus jüdisch: die Prinzipen werden geachtet, aber gangbare Wege werden gesucht. Der gezogene Vers enthält die Lösung. Die Töchter haben (offenbar entgegen älterer Auffassungen) ein eigenes Erbrecht. Dann müssen sie auch mit Einschränkungen leben. Sie können frei heiraten, allerdings muß der Erwählte ein Mann aus dem eigenen Stamm sein. So bleibt das Erbe des Stammes erhalten.

In der biblischen Geschichte ist der Text im 13. Jhd. v. Chr. angesiedelt, seine heutige Form hat er spätestens im 6. Jhd. erhalten. Kulturgeschichtlich entstammt er der ausgehenden Eisenzeit. Mir fallen drei Dinge auf. Erstens: Frauen waren mitnichten rechtlos. Oftmals haben im AT die Rechte von Frauen den Charakter von Schutzrechten, wie sie heute dem Bürger gegenüber dem Staat zustehen, nicht jedoch hier. Zweitens: Die in den beiden Abschnitten 27 und 36 gezeigte Rechtsentwicklung mutet verblüffend modern an. Es gab allgemeine Prinzipien. Diese stießen auf konkrete Probleme, in denen sich Widersprüche zeigen. Die aufgefundene Lösung ist dann Synthese und Präzedenzfall, und wird Ausgangspunkt für die Beurteilung der nächsten Probleme etc., ähnlich wie im englischen Recht. Dynamisch und offen — kulturelle Evolution. Drittens: In der Torah, den fünf Büchern Mose, die die Gesetze des Judentums enthalten, geht es nicht nur um Religiöses im heutigen, engeren Sinne. Hier sind unterschiedslos auch Staatsrecht und Zivilrecht Thema, die Schublade „religiös“ scheint nicht zu existieren.

Außer Rechtsetzungen aller Art enthalten Torah und Bibel Ethik, Folklore, Märchen und Legenden, Lieder, Gebete, Geschichtsschreibung, philosophische Diskurse, Propaganda — und immer wieder persönliche und kollektive Begegnung mit Gott. Bei all ihrer normativen Kraft hat sie etwas vertrauenerweckend anarchisches. Kästchendenken ist ihr völlig fremd. Das hält sie lebendig, jung und kraftvoll, wenn die Kästchen um sie herum zusammenbrechen und neue an ihre Stelle treten, die ihrerseits nur von begrenzter Dauer sind… 

Ich wünsche uns eine gesegnete Woche!
Ulf von Kalckreuth

Bibelvers der Woche 22/2018

Abraham zeugte Isaak. Isaak zeugte Jakob. Jakob zeugte Juda und seine Brüder.
Mat 1,2

Hier ist ein Link für den Kontext des Verses, zur Lutherbibel 2017.

Die Nahtstelle

Dieser Vers steht für nichts weniger als die Einheit der christlichen Bibel, in ihren beiden großen Teilen, dem Tanach und dem Neuen Testament. Es ist der zweite Vers des ersten Buchs im Neuen Testament. Der Eingangsvers ist eine Art Überschrift und lautet, nach der Lutherbibel 1912: „Dies ist das Buch von der Geburt Jesu Christi, der da ist ein Sohn Davids, des Sohnes Abrahams“. An den gezogenen Vers schließt sich die komplette Ahnreihe Jesu an, die von den Stammvätern zunächst auf David führt, und von diesem nach Joseph, „… dem Mann Marias, von welcher ist geboren Jesus, der da heißt Christus“. 

Geburtsregister gibt es viele in der Bibel. Sie vermitteln Legitimität, Kontext und Kontinuität und stellen das Geschehen in einen großen historischen Zusammenhang. Zur Erinnerung: In der KW 18 hatten wir einen Vers aus einem anderen Geburtsregister gezogen, in dem die zur Zeit der Landnahme existierenden Sippen auf die Stammväter zurückgeführt wurden.

Matthäus schließt die genealogische Betrachtung wie folgt: „Alle Glieder von Abraham bis auf David sind vierzehn Glieder. Von David bis auf die Gefangenschaft sind vierzehn Glieder. Von der babylonischen Gefangenschaft bis auf Christus sind vierzehn Glieder.“

Die biblische Geschichte vor Jesus wird hier in drei Teile zerlegt, die jeweils in einer Zeitenwende kulminieren: Die Zeit der Stammväter und Richter bis zur Errichtung des Königtums durch David, die Zeit der Eigenstaatlichkeit bis zur Zerstörung in der babylonischen Gefangenschaft und schließlich die Epoche des zweiten Tempels, Zeit der Rekonstruktion und des religiösen Aufbaus, in der das Judentum seine monotheistische und schriftbasierte Gestalt annahm, die es heute noch hat. 

Spinnt man den Faden fort, so ist das von Matthäus Erzählte Teil einer vierten Epoche, die wieder mit einer Zeitenwende enden wird. Aber dieses Geschehen baut auf den ersten drei Abschnitten auf, ist ihre Fortführung und nicht isoliert zu denken. Am Anfang stehen eben immer die Stammväter, Abraham, Isaak und Jakob.

Es gibt Vorschläge aus der akademischen Theologie, das Alte Testament zu entkanonisieren, es gleichsam abzuschaffen. Solchen Vorstellungen kann man gelassen mit Verweis auf die ersten Verse des Neuen Testaments begegnen.

Ich wünsche uns eine gute Woche!
Ulf von Kalckreuth