Bibelvers der Woche 23/2018

Das ist’s, was der HERR gebietet den Töchtern Zelophehads und spricht: Laß sie freien, wie es ihnen gefällt; allein daß sie freien unter dem Geschlecht des Stammes ihres Vaters,…
Num 36,6

Hier ist ein Link für den Kontext des Verses, zur Lutherbibel 2017.

Kulturelle Evolution in der Eisenzeit

Der Vers steht am Ende des 4. Buchs Mose. Die vereinigten Stämme liegen am Ostufer des Jordan gegenüber der Stadt Jericho, bereit, in das Heilige Land einzufallen. Die Truppen sind gezählt (vgl. den Vers der Woche 18/2018), das noch zu erobernde Land ist zur Hälfte verteilt, Regeln für die Behandlung von Tötungsdelikten sind aufgestellt, sogar Freistädte sind benannt, in welche Totschläger (nicht: Mörder) vor ihren Verfolgern fliehen können… 

Und dann, im letzten Abschnitt des vierten Buchs, gibt es noch recht unspektakuläre Dinge zu regeln. Im gezogenen Vers geht es um die Fortsetzung eines Falles, dessen Studium in Abschnitt 27 begonnen wurde. Dort war vor Mose das Problem gebracht worden, dass ein verdienter Mann namens Zelophehad ohne Söhne gestorben war — was soll nun mit seinem Erbe geschehen? Zwar hatte er keine Söhne, aber vier Töchter. Mose sprach im Namen des Herrn, dass den Töchtern ein eigenständiges Erbrecht zukomme: das Erbe Zelophhad solle also nicht an weiter entfernte männliche Verwandte gehen, was offenbar die relevante Alternative gewesen wäre. 

In Abschnitt 36 nun wird die Fallstudie fortgesetzt: Wenn nun aber die erbberechtigten Töchter Männer aus einem fremden Stamm heiraten, so falle diesen das Erbe zu und der Stamm Manasse verliere Land, argumentieren die Ältesten. Hier gibt es zwei Rechtsprinzipien, die zu achten sind: zum einen soll jedem Stamm auf alle Zeit das seine bleiben — das war durch eine große Zahl von Regeln abgesichert, zu denen auch der Schuldenerlass gehörte, siehe den Vers der Woche 15/2018. Zum anderen ging das Eigentum der Frau in das Erbe ihres Mannes über, auch dies ein nicht verhandelbares Prinzip. 

Mose Antwort im Namen des Herrn ist durchaus jüdisch: die Prinzipen werden geachtet, aber gangbare Wege werden gesucht. Der gezogene Vers enthält die Lösung. Die Töchter haben (offenbar entgegen älterer Auffassungen) ein eigenes Erbrecht. Dann müssen sie auch mit Einschränkungen leben. Sie können frei heiraten, allerdings muß der Erwählte ein Mann aus dem eigenen Stamm sein. So bleibt das Erbe des Stammes erhalten.

In der biblischen Geschichte ist der Text im 13. Jhd. v. Chr. angesiedelt, seine heutige Form hat er spätestens im 6. Jhd. erhalten. Kulturgeschichtlich entstammt er der ausgehenden Eisenzeit. Mir fallen drei Dinge auf. Erstens: Frauen waren mitnichten rechtlos. Oftmals haben im AT die Rechte von Frauen den Charakter von Schutzrechten, wie sie heute dem Bürger gegenüber dem Staat zustehen, nicht jedoch hier. Zweitens: Die in den beiden Abschnitten 27 und 36 gezeigte Rechtsentwicklung mutet verblüffend modern an. Es gab allgemeine Prinzipien. Diese stießen auf konkrete Probleme, in denen sich Widersprüche zeigen. Die aufgefundene Lösung ist dann Synthese und Präzedenzfall, und wird Ausgangspunkt für die Beurteilung der nächsten Probleme etc., ähnlich wie im englischen Recht. Dynamisch und offen — kulturelle Evolution. Drittens: In der Torah, den fünf Büchern Mose, die die Gesetze des Judentums enthalten, geht es nicht nur um Religiöses im heutigen, engeren Sinne. Hier sind unterschiedslos auch Staatsrecht und Zivilrecht Thema, die Schublade „religiös“ scheint nicht zu existieren.

Außer Rechtsetzungen aller Art enthalten Torah und Bibel Ethik, Folklore, Märchen und Legenden, Lieder, Gebete, Geschichtsschreibung, philosophische Diskurse, Propaganda — und immer wieder persönliche und kollektive Begegnung mit Gott. Bei all ihrer normativen Kraft hat sie etwas vertrauenerweckend anarchisches. Kästchendenken ist ihr völlig fremd. Das hält sie lebendig, jung und kraftvoll, wenn die Kästchen um sie herum zusammenbrechen und neue an ihre Stelle treten, die ihrerseits nur von begrenzter Dauer sind… 

Ich wünsche uns eine gesegnete Woche!
Ulf von Kalckreuth

Bibelvers der Woche 22/2018

Abraham zeugte Isaak. Isaak zeugte Jakob. Jakob zeugte Juda und seine Brüder.
Mat 1,2

Hier ist ein Link für den Kontext des Verses, zur Lutherbibel 2017.

Die Nahtstelle

Dieser Vers steht für nichts weniger als die Einheit der christlichen Bibel, in ihren beiden großen Teilen, dem Tanach und dem Neuen Testament. Es ist der zweite Vers des ersten Buchs im Neuen Testament. Der Eingangsvers ist eine Art Überschrift und lautet, nach der Lutherbibel 1912: „Dies ist das Buch von der Geburt Jesu Christi, der da ist ein Sohn Davids, des Sohnes Abrahams“. An den gezogenen Vers schließt sich die komplette Ahnreihe Jesu an, die von den Stammvätern zunächst auf David führt, und von diesem nach Joseph, „… dem Mann Marias, von welcher ist geboren Jesus, der da heißt Christus“. 

Geburtsregister gibt es viele in der Bibel. Sie vermitteln Legitimität, Kontext und Kontinuität und stellen das Geschehen in einen großen historischen Zusammenhang. Zur Erinnerung: In der KW 18 hatten wir einen Vers aus einem anderen Geburtsregister gezogen, in dem die zur Zeit der Landnahme existierenden Sippen auf die Stammväter zurückgeführt wurden.

Matthäus schließt die genealogische Betrachtung wie folgt: „Alle Glieder von Abraham bis auf David sind vierzehn Glieder. Von David bis auf die Gefangenschaft sind vierzehn Glieder. Von der babylonischen Gefangenschaft bis auf Christus sind vierzehn Glieder.“

Die biblische Geschichte vor Jesus wird hier in drei Teile zerlegt, die jeweils in einer Zeitenwende kulminieren: Die Zeit der Stammväter und Richter bis zur Errichtung des Königtums durch David, die Zeit der Eigenstaatlichkeit bis zur Zerstörung in der babylonischen Gefangenschaft und schließlich die Epoche des zweiten Tempels, Zeit der Rekonstruktion und des religiösen Aufbaus, in der das Judentum seine monotheistische und schriftbasierte Gestalt annahm, die es heute noch hat. 

Spinnt man den Faden fort, so ist das von Matthäus Erzählte Teil einer vierten Epoche, die wieder mit einer Zeitenwende enden wird. Aber dieses Geschehen baut auf den ersten drei Abschnitten auf, ist ihre Fortführung und nicht isoliert zu denken. Am Anfang stehen eben immer die Stammväter, Abraham, Isaak und Jakob.

Es gibt Vorschläge aus der akademischen Theologie, das Alte Testament zu entkanonisieren, es gleichsam abzuschaffen. Solchen Vorstellungen kann man gelassen mit Verweis auf die ersten Verse des Neuen Testaments begegnen.

Ich wünsche uns eine gute Woche!
Ulf von Kalckreuth