Bibelvers der Woche 39/2019

…kamen sie zu Gedalja gen Mizpa, nämlich Ismael, der Sohn Nethanjas, Johanan und Jonathan, die Söhne Kareahs, und Seraja, der Sohn Thanhumeths, und die Söhne Ephais von Netopha und Jesanja, der Sohn eines Maachathiters, samt ihren Männern.
Jer 40,8

Hier ist ein Link für den Kontext des Verses, zur Lutherbibel 2017.

Trümmerblume

Viele Namen gibt es in diesem Vers… Die Geschichte Judas, die große Geschichte, die von Königen, Reichen, Armeen, Städten, Siegen und Niederlagen handelt, ist zu Ende. Jerusalem ist erobert und niedergebrannt, seine Mauern und Festungen geschleift, der König getötet, der Tempel beraubt und zerstört, ein Großteil der Einwohnerschaft hinweggeführt, soweit nicht vorher schon Hunger, Pest und Schwert das ihre getan hatten. All das, was Jeremia über lange Jahre hin immer deutlicher drohend über der Stadt hängen sieht und sagt, ist auf sie niedergefallen. 

Im Buch Jeremia gibt es zwei große, treibende Themen. Das eine ist die unabwendbar werdende Vernichtung, die sehr präzise geschildert wird, das andere die trotz allem weiterbestehende Heilszusage Gottes an sein Volk. Die beiden Motive schließen sich eigentlich aus, aber das Buch geht in einen akrobatisch anmutenden Spagat und hält sie gleichzeitig hoch. Das hat eine Menge mit unserem Leben zu tun, wenn man darüber nachdenkt.

Jeremia gelingt es nicht, die beiden Motive nachhaltig in eine Synthese zu führen. Die in aller Schärfe gestellte Frage wird eigentlich erst in den Evangelien beantwortet, in der Erzählung von Gottes Heil, das getötet wird und wieder aufersteht. Aber es gibt Andeutungen: Jeremia kauft einen Acker in seiner Heimatstadt Anatot, die ihn verstoßen hat und tut dies gefangen in einem Verlies in der Stadt Jerusalem, die ihrerseits ausweglos von Feinden umstellt ist. Er erhält von Gott die Zusage, dass die Zeit kommen wird, in der man wieder sät und erntet, in der geheiratet und vererbt wird. Und auch die Geschichte um unseren Vers spricht so. Die große Geschichte ist vorbei, aber die kleine Geschichte, die der Männer, Frauen und Kinder, kann weitergehen und sich vielleicht irgendwann wieder zu einer großen Erzählung zusammenfinden. 

Nebukadnezar hat Gedalja zum Statthalter ernannt. Gedalja kommt aus einer Familie von Ministerialen am judäischen Hof, die mit dem Königshaus nicht verwandt waren. Der Statthalter ist anfangs fast allein in Mizpa, das Land ist verwaist. Jeremia gesellt sich zu ihm, nachdem er seine Freiheit wieder erlangt hat. Aber auch andere kommen, einzelne Führer mit ihren Leuten. Der Satz, dessen zweiter Teil der gezogene Vers ist, lautet im Zusammenhang:

Als nun die Hauptleute, die samt ihren Leuten noch im Lande verstreut waren, erfuhren, dass der König von Babel Gedalja, den Sohn Ahikams, über das Land gesetzt hatte und über die Männer, Frauen und Kinder und über die Geringen im Lande, die nicht nach Babel weggeführt waren, kamen sie zu Gedalja nach Mizpa, nämlich Jischmael, der Sohn Netanjas, Johanan und Jonatan, die Söhne Kareachs, und Seraja, der Sohn Tanhumets, und die Söhne Efais von Netofa und Jaasanja, der Sohn eines Maachatiters, samt ihren Leuten

Gedalja beginnt mit dem Nächstliegenden. Es ist Erntezeit, und über allem Hauen, Stechen und Morden hat niemand mehr an das Korn auf dem Halm gedacht. Gedalja organisiert die Ernte. Das ist eine Saite, deren Schwingung Resonanz findet: nun kommen immer mehr Menschen zurück, die im ganz Juda und den angrenzenden Ländern verstreut sind, von überall her. Die Ernte fällt gut aus: sie „ernteten viel Wein und Sommerfrüchte“.

Gedalja sorgt ganz einfach dafür, dass das Leben weitergehen kann. Das ist machtvoll auf ganz eigene Art. Gedaljas Name bedeutet „Der Herr lässt wachsen“. Mir ist das Wort „Trümmerblume“ eingefallen. Von Blumen verstehe ich nichts, aber als ich sie im Internet fand, sah sie genau aus, wie ich sie mir vorstellte — die blaue Blume. Hier ist ein Link.

Leider endet die Geschichte traurig. Jischmael (Ismael im Vers), ein Davidianer aus der Königsdynastie, ist unter denjenigen, die zu Gedalja stoßen. Als so etwas wie eine nationale Wiedergeburt im Reich der Babylonier in der Luft zu liegen beginnt, tötet Jischmael mit zehn seiner Männer Gedalja und viele andere bei einem Mahl. Johanan, ein anderer der Hauptleute in unserem Vers, überwindet JiKernschmael im Kampf, aber die übrigen verlieren allen Mut. Sie fliehen nach Ägypten, wo sich später ihre Spur verliert. Jeremia zieht mit ihnen. Seinen Acker in Anatot sieht er vermutlich nie. Die Juden gedenken Gedaljas mit einem Fastentag zwischen Rosch Haschana und Jom Kippur.

Gedalja bleibt Episode. Aber seine Geschichte zeigt, wie es hätte gehen können. Wie nach der Katastrophe ein Neuanfang möglich gewesen wäre. Das Potential wird nicht realisiert, die alten Träume von Ruhm und Ehre Davids sind zu mächtig. Aber in Umrissen ist eine andere, alternative biblische Geschichte zu erkennen. Bei Jesaja steht: 

Gedenkt nicht an das Frühere und achtet nicht auf das Vorige! Denn siehe, ich will ein Neues schaffen, jetzt wächst es auf, erkennt ihr’s denn nicht? Ich mache einen Weg in der Wüste und Wasserströme in der Einöde. (Jes 43, 18-19)

Der Gedanke an das Vorige, das Vergangene und Verlorene, birgt Gift und hält uns ab, in die Welt hineinzuwachsen, die vor uns liegen kann, mit Gottes Hilfe, wenn wir es denn zulassen. 

Ich wünsche uns eine Woche, in der das Vorige uns nicht den Blick verstellt für das Neue.
Ulf von Kalckreuth

Bibelvers der Woche 38/2019

Ich sah Knechte auf Rossen, und Fürsten zu Fuß gehen wie Knechte.
Pred 10,7

Hier ist ein Link zum Kontext in der Lutherbibel 2017.

Verkehrte Welt

Ich liebe Kohelet, wie schön, dass wir noch einmal einen Vers daraus ziehen. Beinahe ist es, als käme der Vers aus einem anderen Werk. Während der größte Teil des Buchs eine dichte Argumentation bietet, sind die Abschnitte 9 und 10 lockere Spruchsammlungen. Der vollständige Absatz lautet:

Wenn des Herrschers Zorn wider dich ergeht, so verlass deine Stätte nicht; denn Gelassenheit wendet großes Unheil ab. Dies ist ein Unglück, das ich sah unter der Sonne, gleich einem Versehen, das vom Gewaltigen ausgeht: Ein Tor sitzt in großer Würde, und Reiche müssen in Niedrigkeit sitzen. Ich sah Knechte auf Rossen und Fürsten zu Fuß gehen wie Knechte.

Kohelet spricht von einem „Unglück“ und einem „Versehen“. Normalerweise sind Fürsten die ersten Diener des Königs, nicht Sklaven. Es ist für die Stabilität des Staats und den Mächtigen selbst wichtig, die Starken im Land in ein unmittelbares Loyalitätsverhältnis zu bewegen. Erhält der Starke eine herausgehobene Stellung, so wird er in der Regel die Herrschaft stützen, weil er viel zu verlieren hat. Bleiben die Starken „außen vor“, so werden sie stattdessen die erste Gelegenheit nutzen, sich gegen den Herrscher zu verbünden. Unter diesen Gesichtspunkten wurden Lehen vergeben: die Adelspyramiden sowohl im ersten deutschen Reich wie auch im englischen Königreich spiegeln das Prinzip.

Warum sollte man anders verfahren? Kohelet sagt, es sei dies ein häufiger Fehler: systematisch bekommen immer wieder Menschen mit Sklavenmentalität Macht im Staat. Den Starken zum Fürsten zu machen, birgt auch Gefahren: der mächtige Fürst kann zum politischen Rivalen werden, wenn es ihm gelingt, sich mit anderen Fürsten zu verbünden. Ein schwacher Herrscher wird daher gefügigen Menschen ohne eigene Ambition zum Aufstieg zu verhelfen. Was Kohelet anspricht, ist also ein Symptom von Schwäche. 

Ist das alles? Wendet sich Kohelet an den königlichen Nachwuchs und das Topmanagement?

Nein. Sklaven und Toren an der Macht sind ein Bild. Für den Normalsterblichen wird ein handfester Rat daraus, Wir sollen mit unseren Stärken arbeiten und diese mächtig werden lassen und uns nicht von den Schwächen beherrschen lassen. Ist jemand phantasievoll und analytisch begabt, aber schwerfällig im Umgang mit anderen Menschen, sollte er kein Betätigungsfeld wählen, in dem es darauf ankommt, geschickt nach oben und nach unten zu taktieren und Versprechungen zu machen, Loyalitätsnetze zu spinnen und zu zerreißen. Versucht er sich im Dickicht einer Behörde, so muss er seine Kräfte darauf wenden, seine Schwächen zu kompensieren, und seine Stärken sind nicht gefragt. Und vielleicht wird dann aus der Kompensation gar seine zweite Natur.

Stattdessen könnte der Mensch unseres Beispiels als Berater arbeiten, als Wissenschaftler oder Künstler. Unsere Schwächen verdienen unsere Aufmerksamkeit, aber sie sind keine Kraftquelle. Unser Reich, unsere Existenz müssen wir so ordnen, dass die Starken in uns mächtig sind.

Der Wortlaut nimmt absichtlich eine allgemeine Tendenz der Bibel auf, Machtverhältnisse auf den Kopf zu stellen. Auch darin liegt eine Botschaft, Kohelet lässt ja keine Gelegenheit aus, uns zu sagen, dass die Dinge sich anders als geplant entwickeln können. 

Gott selbst verfährt nämlich genau nach dem Muster, das Kohelet als „Unglück“ und „Versehen“  bezeichnet. Er erwählt ein Sklavenvolk, reißt es aus der Abhängigkeit, führt es durch die Wüste in ein neues Land und hilft ihm, dies Land zu erobern. Mit Joseph und Daniel werden Sklaven zu Fürsten. David, der König Israels, ist als Ziegenhirt aufgewachsen und muss lange wie ein Räuber leben. Und der König der Welt kommt unter Hirten zur Welt und stirbt wie ein Verbrecher. In einem alten Kirchenlied heißt es:

Er entäußert sich all seiner G’walt,
wird niedrig und gering
und nimmt an eines Knechts Gestalt,
der Schöpfer aller Ding,
der Schöpfer aller Ding.

Er wird ein Knecht und ich ein Herr;
das mag ein Wechsel sein!
Wie könnt es doch sein freundlicher,
das herze Jesulein,
das herze Jesulein!

Das Motiv zieht sich durch die ganze Bibel. „Gottes Kraft ist in den Schwachen mächtig,“ schreibt Paulus an die Korinther. „Der Bogen der Starken ist zerbrochen und die Schwachen sind umgürtet mit Stärke“ heißt es bei Samuel. Hesekiel schreibt: „Und alle Bäume auf dem Felde sollen erkennen, dass ich der Herr bin: Ich erniedrige den hohen Baum und erhöhe den niedrigen; ich lasse den grünen Baum verdorren und den dürren Baum lasse ich grünen.“ Im Magnificat singt Maria: „Er stößt die Gewaltigen vom Thron und erhebt die Niedrigen. Die Hungrigen füllt er mit Gütern und lässt die Reichen leer ausgehen“. In diesen Versen, wie auch in dem Vers von Kohelet, klingt das uralte Lied ihrer Namenspatronin Mirjam weiter: 

Lasst uns dem Herrn singen, denn er ist hoch erhaben, Ross und Reiter hat er ins Meer gestürzt.
2. Mo 15,21

Kohelets Botschaft richtet sich an Menschen. Er gibt uns einen Rat der Art, für die man heute bei Coaches viel Geld bezahlt. Gottes Kraft aber ist unbegrenzt: Er muss ihren Einsatz nicht optimieren wie wir, er kann seine Kraft in den Schwachen mächtig werden lassen und damit zeigen, dass Er Herr ist.

Dies ist eine gesegnete Woche, wenn wir aus unseren Stärken leben und unsere Schwächen dem Herrn anvertrauen.
Ulf von Kalckreuth

Bibelvers der Woche 37/2019

Ich kehrte mein Herz, zu erfahren und erforschen und zu suchen Weisheit und Kunst, zu erfahren der Gottlosen Torheit und Irrtum der Tollen,…
Pred 7,25

Hier ist der Link für den Kontext des Verses, ausnahmsweise aus der Züricher Bibel.

Die Frau… und der Sinn des Lebens

Der gezogene Vers ist unvollständig, eine Einleitung. Hier hat jemand alles getan: sein Herz gekehrt, erfahren, gesucht, geforscht, um die großen Strukturen im Leben zu verstehen. Man kann an dieser Stelle innehalten und sich fragen, ob man auch schon einmal an diesem Punkt war, worum es ging und was dabei herauskam — und ob es heute noch wichtig ist. Vielleicht genügt das ja für diese Woche schon?  

Aber die Fortsetzung des Satzes durch den großen Philosophen Kohelet ist ein echter Stein des Anstoßes: 

… und fand, daß bitterer sei denn der Tod ein solches Weib, dessen Herz Netz und Strick ist und deren Hände Bande sind. Wer Gott gefällt, der wird ihr entrinnen; aber der Sünder wird durch sie gefangen. (Pred 7,26)

Ein solcher Satz kann den Ruf eines Menschen ruinieren, wenn man ihn ins Internet stellt, selbst nach zweieinhalbtausend Jahren. Es gibt mehrere Veröffentlichungen zu der Frage, ob Kohelet frauenfeindlich gewesen sei oder nicht. Dabei ist die Frage zentral, ob er sich die Aussage in Vers 26 zu eigen macht oder ob er sie — als Meinung anderer — nur zitiert, um sie dann zu widerlegen. Da geht es um Stilmittel, spezielles Vokabular und Bezüge zu anderen Texten. Ich kann der Diskussion fachlich nicht folgen. Der hebräische Text wirkt auf mich aber durchaus so, als sei Vers 26 dasjenige, was der Prediger im Vers 25 ankündigt, das Ergebnis großer geistiger Mühen. Also muss auch ich mich mühen. Ich habe drei Ebenen gefunden, auf denen der Vers zu uns sprechen kann. 

Liest man ihn für sich selbst, so geht es um sexuelle Anziehung und das andere Geschlecht als Bezugspunkt für das eigene Leben. Kohelet schreibt als Mann für Männer; wo er „Frau“ sagt, mögen Frauen „Mann“ setzen. Der Vers enthält die ernst gemeinte Warnung davor, den anderen zu überhöhen und zum Dreh- und Angelpunkt der eigenen Existenz zu machen. Das hält davon ab, sich den Lebensaufgaben zu stellen. Die Geliebte wird das Leben nicht richten, und sie kann schnell gar zur Ausrede dafür werden, dass nichts gelingt. In „Hard headed woman“ singt Cat Stevens von dieser Überhöhung, und das Lied weiß auch um die Vergeblichkeit.

Mit seiner Warnung bewegt sich Kohelet durchaus im Kontext der Weisheitsliteratur, siehe Sprüche 2,16; 5,3; 6,24; 7,5. Erinnern Sie sich an den schönen BdW 2018/18? Aber Kohelet ist ja nicht nur auf der Suche nach Weisheit, er prüft die Weisheit selbst. Das Ergebnis des Buchs ist, dass das Streben nach Weisheit wie alles andere auch letztlich ein Haschen nach Wind ist, und dass wir uns einem einfachen Leben in Achtsamkeit widmen sollen. Und hier begegnen wir wieder der Frau, aber ganz anders als in 7,26: 

Genieße das Leben mit der Frau, die du lieb hast, solange du das eitle Leben hast, das dir Gott unter der Sonne gegeben hat; denn das ist dein Teil am Leben und bei deiner Mühe, mit der du dich mühst unter der Sonne. Alles, was dir vor die Hände kommt, es zu tun mit deiner Kraft, das tu; denn im Totenreich, in das du fährst, gibt es weder Tun noch Denken, weder Erkenntnis noch Weisheit. (Pred 9,9+10)

Ich behaupte nun: Kohelet ist (auch) ironisch! Er hebt an in Vers 25, um die Summe dessen zu benennen, was er auf seiner Suche nach Weisheit gefunden hat: es ist die Warnung vor der Frau. Ist denn das wirklich alles? Er bestätigt: ja, auf seiner Suche nach Weisheit habe er unter Tausenden nur einen Mann gefunden, den er ernst nehmen konnte, aber nicht eine einzige Frau. Sonst gar nichts? Er hebt nochmals an, und jetzt kommt eine echte Überraschung:

Nur dies fand ich, sieh: Gott hat den Menschen recht gemacht, sie aber suchten große Erkenntnisse (Pred. 7,29)

Im Hebräischen steht für „Erkenntnis“ ein ungewöhnliches Wort: cheschbon bedeutet eigentlich „Zusammenrechnen“ oder „Resultat“. Im modernen Hebräisch steht es für Rechnung oder Konto. Aber es ist exakt dasselbe Wort, das Kohelet im ganzen Abschnitt für seine eigenen Bemühungen verwendet, Weisheit zu erlangen und viele einzelne Beobachtungen zu einer Gesamtsicht zu vereinigen! Unter den großen Übersetzungen hat nur die Züricher Bibel die wörtliche Entsprechung übernommen. Sie führt direkt ins Zentrum der Schrift: Am Ende von Kohelets Streben nach Erkenntnis steht die Einsicht, dass dies Streben nichtig sei. Und auf dem schwankenden Weg dorthin steht als Zwischenergebnis eine Erkenntnis über die Gefahren, die im Weibe wohnen… Das lässt die ganze Luft wieder heraus, die Vers 25 hineingepustet hat. 

Aber Kohelet ist ein messerscharf denkender Philosoph, und das Zwischenergebnis ist mitnichten beliebig. Das Ende des Abschnitts verweist nämlich auf den Anfang der Bibel, die Geschichte vom Sündenfall. Der Mensch (Adam, so auch im hebräischen Text von 7,29) ist gut geschaffen, aber mit dem Griff nach der Frucht vom Baum der Erkenntnis von Gut und Böse verfällt er der Sünde und der Gottesferne. In der Schöpfungsgeschichte ist die Frucht durch die Frau vermittelt. Dies ist die dritte, die symbolische Ebene: Kohelet bindet seine Aussage an den Quellgrund der Bibel an. Auf dieser Ebene geht es nicht mehr um reale Frauen mit menschlichem Körper, sondern um Urbilder, um dasjenige, was uns blind macht und von Gott trennt. Gelungenes Leben ist unmittelbar und angstfrei: „Seht die Lilien auf dem Feld…“ wird Jesus mehrere hundert Jahre später sagen. Dahin ist Kohelet gelangt, das Ergebnis eines Denkerlebens. Wer bietet mehr?

Hinsichtlich der Anklage wegen Misogynie beantrage ich Freispruch wegen erwiesener Unschuld. Ich selbst hatte in der vergangenen Woche meine Silberhochzeit und wünsche uns allen Gottes reichen Segen.
Ulf von Kalckreuth

Bibelvers der Woche 36/2019

Darum ging ihm auch das Volk entgegen, da sie hörten, er hätte solches Zeichen getan.
Joh 12,18

Hier ist ein Link für den Kontext des Verses, zur Lutherbibel 2017.

Wieder ein Vers zum Einzug Jesu in Jerusalem: dem Höhepunkt seiner Wirkung im jüdischen Land — im Sinne von Erfolg und Popularität –, ein paar Tage vor seiner Hinrichtung. Wie ein König zieht er ein: die Menschen begrüßen ihn und schreien ihm Worte aus dem messianischen Psalm 118 entgegen: „Hosianna! Gelobt sei, der da kommt im Namen des Herrn, der König von Israel.“ Der gezogene Vers nennt uns den Grund für Jesu gewaltige Popularität, die den Mächtigen Angst machte: seine Kraft als Wunderheiler, kurz zuvor erst spektakulär bezeugt bei der Auferweckung des Lazarus von den Toten. 

Ich sehe den Vers und seine Szene vor dem Hintergrund des ersten Abschnitts des Johannesbuchs, Joh 1,11f: 

(Das Licht) war in der Welt, und die Welt ist durch dasselbe gemacht; und die Welt erkannte es nicht. Er kam in sein Eigentum und die Seinen nahmen ihn nicht auf.

Als Jesus in Jerusalem einzog, und in den Tagen danach, sollte sich das Schicksal seiner Mission entscheiden, was sein eigenes Volk betraf, jedenfalls. Er lebte in einer Umgebung, die an sich durchaus bereit war, die Transzendenz im Diesseits zu erblicken und die sehnlich die Transformation ihrer Welt in ein Reich Gottes erwartete. Viel mehr als heute vorstellbar. Als wen oder was hätten die Menschen Jesus erkennen können? Für Christen, nach 2000 Jahren Kirchengeschichte, wäre die kurze Antwort: als Verkörperung des Höchsten und als Messias. Aber seine Zeitgenossen hätten nur den zweiten Teil dieser Antwort überhaupt verstanden, und zoomt man heran, sieht man, dass ihnen das Erkennen auch hier nicht leichtfallen konnte.  

Der Messias war eine Herrschergestalt, Überhöhung und Wiederkunft König Davids. So aber ist Jesus nicht aufgetreten. Und es gab weitere Identifikationsangebote: den Gottesknecht, der für Gott und sein Volk leiden würde (Jesaja), den großen Propheten, der wie Moses Mittler zu Gott sein würde (5. Moses) und Elia, dessen Wiederkunft den Messias ankündigen würde (Malachia). Heute sehen Christen Elia in Johannes und setzen im übrigen Messias, Gottesknecht und den großen, von Mose versprochenen Mittler in eins. Im Jahr 33 nach Christi Geburt waren dies verschiedene Personae. 

Haben sie denn nichts erkannt? Der Einzug nach Jerusalem wird von allen vier Evangelisten sehr ähnlich beschrieben. Aber nur bei Johannes, im gezogenen Vers, findet sich ein Hinweis darauf, was dabei die Wahrnehmung der Zeitgenossen dominierte: Jesu Kräfte als Heiler. So sahen ihn die Menschen vor allem anderen: als von Gott begabter und begnadeter Lehrer und Wunderheiler. 

Uns fällt das nicht als erstes ein. Und auch nicht als zweites oder drittes. So aber ist der lebende Jesus tatsächlich aufgetreten, als Heiler, alle vier Evangelien atmen das. Und wir sollten ihn darin ernst nehmen. Auch wenn das nach Johannes für ein Erkennen nicht reicht: Wir brauchen einen Heiler! Vielleicht mehr als alles andere.

Gott schütze uns in dieser Woche, 
Ulf von Kalckreuth

Bibelvers der Woche 35/2019

Und die Knechte Sauls redeten solche Worte vor den Ohren Davids. David aber sprach: Dünkt euch das ein Geringes, des Königs Eidam zu sein? Ich aber bin ein armer, geringer Mann.
1.Sa 18,23

Hier ist der Link für den Kontext des Verses, zur Lutherbibel 2017.

Gesicht“ fallen lassen

Die Geschichte hinter diesem Vers kommt im Religionsunterricht nicht vor. Ein Kampf zweier Männer strebt seinem ersten Höhepunkt zu. König Saul hatte den vitalen, intelligenten und zupackenden David an seinen Hof geholt. David ist charismatisch und erfolgreich. Jeder liebt ihn: das Volk und sogar die eigenen Kinder Sauls.. Der König hingegen leidet unter Depressionen, der Geist Gottes sei von ihm gewichen, heißt es bei Samuel. „Saul hat tausend erschlagen, aber David zehntausend“ singt das Volk, und tanzt dazu, und Saul kennt und hasst den Vergleich. Wo er David früher gefördert hat, will er ihn nun vernichten.

Saul baut eine Situation auf, die den jungen Emporkömmling überfordern soll. Er stellt eine Hochzeit mit seiner ersten Tochter Merab in Aussicht. David soll dafür „nur“ des Herrn Kriege gerecht führen, sagt Saul. Die Lockspeise ist vergiftet. Saul will seinen Unterführer in den Philisterkriegen zu Tode kommen lassen. David ist nichts und hat nichts, muss aber Ebenbürtigkeit beweisen und einen angemessenen Brautpreis bezahlen. Da der Preis nicht klar bestimmt ist, könnte Saul immer mehr fordern, solange, bis es schief geht. David macht sich klein und verzichtet, mit fast denselben Worten wie im gezogenen Vers: „Wer bin ich? Und was ist meine Sippe, das Geschlecht meines Vaters, in Israel, dass ich des Königs Schwiegersohn werden soll?“

Merab geht an einen anderen. Aber Saul hat eine jüngere Tochter, Michal. Diese liebt David, und Saul wiederholt sein Angebot. David wiederholt seine Antwort — das ist der gezogene Vers. Wieder nimmt er sich zurück. In der zweiten Runde sprechen David und Saul nicht mehr direkt miteinander, sondern nur noch über Knechte. Saul muss jetzt eine klare Ansage machen, eine dritte Runde wird es nicht geben. Er nennt einen sehr hohen, aber festen Preis: Der Bräutigam soll hundert Vorhäute getöteter Philister präsentieren. Mit seinen Männern überfällt David die Philister und bringt dem König doppelt so viel wie gefordert: zweihundert Vorhäute. Saul gibt ihm seine Tochter Michal zur Frau. Diese Runde geht an David: er hat nun den familiären Background, den er braucht. Aber das blutige Ringen geht noch lange weiter.

Davids Taktik erinnert an eine Szene auf dem Basar: er begrenzt sein Interesse, um Saul zur Abgabe eines festen Angebots zu bringen. Aber es ist mehr. David hat die Fähigkeit, in kritischen Situationen auf Status zu verzichten. Wenn man genau hinsieht, hat ihm dies zuvor bereits den Sieg über Goliath ermöglicht. Diesem gefürchteten Kämpfer war David als Gegner im Zweikampf formal gleichgestellt. Hätte er versucht, diese Rolle auszufüllen, wäre er verloren gewesen. Aber er verzichtet auf Rüstung und Schwert und sieht mit seiner braunen Haut und dem Hirtenstock so lächerlich aus, dass Goliath seine Deckung aufgibt und ihn nahe an sich herankommen lässt. David nutzt die Chance sofort. Auch in unserer Geschichte rettet sich David und siegt, indem er sich nicht wie ein Brautwerber verhält, nicht versucht, dem Brautvater gegenüber groß und prächtig aufzutreten. Er nimmt es in Kauf, sein Gesicht zu verlieren. 

Viel später geschieht noch einmal Vergleichbares (2. Sam 6,17-23). Als David alle Kämpfe und das Königtum gewonnen hat und die Bundeslade nach Jerusalem holt, springt und tanzt er mit nacktem Oberkörper und leinenem Priesterschurz vor der Lade; ganz und gar nicht wie ein König. Diesmal macht er sich vor Gott dem Herrn klein. Seine Frau Michal, die ihn geliebt hat und vor ihrem Vater rettete, versteht es nicht und verachtet ihn.

Es ist keine gute Idee, sich Rollenforderungen regelmäßig zu verweigern. Jeder, der etwas bewirken will — ein König allemal — muss Statusfragen ernst nehmen. Aber wenn diese den taktischen Spielraum so einschränken, dass das Ganze in Gefahr gerät, kann David sich davon lösen. Es fällt ihm sogar leicht, denn er bezieht seine Selbstachtung aus dem Ja Gottes, nicht aus dem „Gesicht“ in den Augen der anderen. Dies Motiv kehrt in den Psalmen immer wieder. Vielleicht ist dies die geistliche Botschaft hinter dieser nicht sehr schönen Geschichte: Wenn es ums Ganze geht, müssen wir uns klein machen können. Der Glaube kann uns die Kraft dazu geben.

Ich wünsche uns eine Woche, in der wir immer klar sehen, worum es wirklich geht. 
Ulf von Kalckreuth

Bibelvers der Woche 34/2019

Zu der Zeit ward Hiskia todkrank. Und der Prophet Jesaja, der Sohn des Amoz, kam zu ihm und sprach zu ihm: So spricht der HErr: Bestelle dein Haus; denn du wirst sterben und nicht lebendig bleiben!
Jes 38,1

Hier ist der Link für den Kontext des Verses, zur Lutherbibel 2017.

Sterben und Leben

König Hiskia von Juda erkrankt zum Tode, und zwar gerade, als er und sein Volk durch ein Wunder von einer anderen tödlichen Bedrohung errettet wurde, dem Angriff der Assyrer unter Sanherib. Jesaja, der Prophet des Herrn, sagt ihm, er möge sich keine Illusionen machen. „Bestelle dein Haus, denn Du wirst sterben und nicht lebendig bleiben.“

Hiskias Krankheit und seine Errettung hat uns zu Beginn des Jahres bereits einmal beschäftigt. Anfang März zog ich ein Vers aus demselben Abschnitt, meine Ausführungen dazu könnten für den Vers von heute geschrieben sein.

Nun gibt es aber eine Möglichkeit, weiter darüber nachzudenken. Der gezogene Vers ist wie ein rotes Stop-Schild: bei Ihnen stößt er vielleicht ganz andere Gedanken und Assoziationen an. Mir fallen zwei Dinge ein.

Erstens. Vor zweieinhalb Wochen, auf unserem Camping-Urlaub, wohnten meine Frau und ich dem Gottesdienst einer freien evangelischen Gemeinde bei. Nach der Begrüßung durch den Leiter trat eine Frau mitteren Alters nach vorn und erklärte der Gemeinde, sie habe ein Gespräch mit ihrem Arzt gehabt, und es handele sich bei Ihren Beschwerden um einen bösartigen Hirntumor. Wenn die verbliebenen Behandlungsmöglichkeiten gut anschlügen, könne sie vielleicht noch ein Jahr leben. Ziemlich genau das also, was Hiskia von Jesaja hören mußte. Die Frau war kämpferisch. Sie betete laut zu Jesus, sie sang, mit einer Fahne in der Hand, und sie bat die Gemeinde, mit ihr zu beten. Nach diesem Gebet blieb während des ganzen Gottesdienstes eine Frau bei ihr und flehte Rettung herab. 

Ich fühlte damals, dass ich mich anders verhalten hätte. In den Urlaubswochen hatte ich viel Jeremia gelesen, und es schien mir wichtig, den richtigen Umgang mit dem Unabwendbaren zu lernen. Ich sagte Antje, dass ich wohl hätte versuchen wollen, die verbliebene Zeit so gut und sinnvoll wie möglich zu nutzen. Auch Hiskia hätte so reagieren können — es war sogar buchstäblich das, was Jesaja im Namen des Herrn von ihm verlangte. Aber Hiskia betet. Und er wird gerettet, „against all odds“ und sogar entgegen der Ankündigung des Propheten. „Denn ich werde wandeln vor dem Herrn im Lande der Lebendigen“ singt in Psalm 116 ein anderer, der vom Tode errettet wurde. Ich werde versuchen, über die Gemeinde der Frau das Gebet des Hiskia zukommen zu lassen — vielleicht habe ich den Vers deshalb gezogen. 

Zweitens. Liest man die Worte Jesajas in Ruhe, so sind sie schlicht wahr, und zwar für jeden von uns und zu jeder Zeit. Wir alle werden sterben und nicht lebendig bleiben, und wir müssen daher unser Haus bestellen. Memento mori — „Lehre uns bedenken, dass wir sterben müssen, auf dass wir klug werden“, Ps 90,12. Wenn ich dies schreibe, sitze ich gerade in der Business Class eines Flugzeugs der Etihad Air auf dem Weg nach Abu Dhabi zum Weiterflug nach Kuala Lumpur. Ich bin 11.277 Meter über dem Boden, bald überqueren wir die türkische Ostgrenze, phantastische Wolkengebirge unter mir. Alles genau wie in den Werbevideos, der viele Platz, das Essen, die gutaussehende orientalische Stewardess. Es ist gut, daran erinnert zu werden, dass wir sterben müssen, dass wir keine Götter sind, allem Anschein zum Trotz. Es ist ja so leicht geworden, unseren Anfang und unser Ende zu vergessen. 

Vielleicht sagt uns der Vers auf etwas sonderbare Weise auch, dass wir nicht verzweifeln sollen. Im Angesicht des sicheren Todes können wir noch unser Haus bestellen. Und wir können beten. Beides ist richtig und beides kann die Welt ändern.

Der Herr behüte uns in dieser Woche!
Ulf von Kalckreuth

Bibelvers der Woche 33/2019

Da kam einer, der entronnen war, und sagte es Abram an, dem Ausländer, der da wohnte im Hain Mamres, des Amoriters, welcher ein Bruder war Eskols und Aners. Diese waren mit Abram im Bunde.
Gen 14,13

Hier ist ein Link für den Kontext des Verses, zur Lutherbibel 2017.

Einwanderung — zwei Geschichten

Die fünf Bücher Mose stehen am Anfang der Bibel, sie stellen uns nicht nur Gott vor, als Person, in Auseinandersetzung mit den Menschen, sondern auch das israelitische Volk, ebenfalls als Person, in Auseinandersetzung mit Gott, der Umwelt und sich selbst. Sie enthalten den Gründungsmythos: wie kam das Volk Gottes ins Land, wie wurde es zu dem, was es war, in welcher Beziehung steht es zu seinen Nachbarvölkern? 

Wir kennen eine Antwort: nach der Emigration der Stammväter wuchs das Volk in Ägypten heran. Es wurde von Moses herausgeführt, um dann vierzig Jahre durch die Wüste zu ziehen. Unter seinem Nachfolger Josua fiel es in Palästina, das Gelobte Land ein, sengend, brennend und mordend, und zwar von AUSSEN. Verwandtschaftliche Beziehungen gab es zu Völkern des Umlandes: Moabitern, Edomitern, Ammonitern, Arabern — mit den in Kanaan einheimischen Ethnien hatte das Volk Gottes aber rein gar nichts zu tun. 

Die Genesis enthält aber noch eine ganz andere Erzählung. Abraham, ein aramäischer Halbnomade, erhält in der Stadt Haran von seinem Gott den Befehl, alles hinter sich zu lassen und sich aufzumachen in ein Land, das sein Gott ihm zeigen wird. Er folgt diesem sonderbaren Auftrag und macht sich in Kanaan heimisch: er schließt Bündnisse mit den Clans in der Umgebung, siedelt auf einem Eichenhain auf dem Land des Amoriters(!) Mamre und erwirbt schließlich von einem Hethiter(!) namens Efron ein Erbbegräbnis, die Höhle Machpela, damit er dort seine Frau Sarah bestatten kann (Gen 23). Der Kauf des Grundstücks findet vor einer großen Gruppe von Hethitern statt und verschafft dem alten Mann Abraham Anerkennung und notariell beurkundetes Bürgerrecht. Als er stirbt, findet er selbst in Machpela seine Ruhestätte, und nach ihm auch Isaak und Jakob und ihre Frauen. 

Abrahams Geschichte erzählt vom langsamen Heimischwerden in Kontakt, Konflikt und Kooperation mit der gebietsansässigen Umgebung in Palästina. Unser BdW zeigt einen Ausschnitt. Ein kanaanitischer König hat gemeinsam mit einigen Verbündeten seinem Oberherren die Gefolgschaft gekündigt. Dieser zieht, unterstützt von Verbündeten, gegen die Aufrührer zu Felde: vier Könige gegen fünf. Unter den letzteren sind auch die Könige von Sodom und Gomorrha, in deren Land sich Lot, Abrahams Bruder, heimisch gemacht hat. Die vier verbündeten Könige verlieren die Schlacht und Lot wird verschleppt. Abraham ist Oberhaupt eines größeren Clans, und gemeinsam mit dem Amoriter Mamre und seinen beiden Brüdern bildet er einen Stoßtrupp von 318 berittenen Kämpfern. In einer Kommandoaktion befreit er Lot und das den Königen von Sodom und Gomorrha geraubte Gut aus der Gewalt der fünf Könige. Dafür wird er von Melchisedek gesegnet, selbst König und Priester Gottes in Salem (vermutlich Jerusalem), dem er dafür den Zehnten gibt. Diese eigenartige Stelle haben wir in 2019 KW 8 kennengelernt. 

Spätestens mit der Befreiungsaktion und der rituellen Anerkennung durch Melchisedek gehört Abraham, „der Ausländer“, dazu. Er ist Mitspieler in Kanaan mit lokalem Gewicht. Zur Befreiung seines Bruders nutzt er bestehende Bündnisse und geht neue ein. Ganz friedlich verläuft diese Einwanderung offensichtlich nicht, aber — welch ein Gefälle zum Buch Josua. Das Narrativ von Landnahme und Eroberung ist Mainstream des Alten Testaments und hat die Erzählung von Besiedlung durch Infiltration und Integration überlagert. 

Aber ich liebe diese Geschichte. An Abraham denke ich immer gern, wie er dem Ruf Gottes folgt, ins Heilige Land reist, dort auf dem Eichenhain lebt, immer mit seinem Gott und der Verheißung, schließlich sehr spät Kinder zeugt und am Ende stirbt, „alt und lebenssatt“. Seine Urenkel sind die Väter der zwölf Stämme Israels, allesamt Sabras, im Heiligen Land geboren. Und sein erster Sohn ist Ismael, der Stammvater der Araber und Midianiter. Beim Buch Josua hingegen habe ich vor mehr als vierzig Jahren den ersten Versuch abgebrochen, die Bibel ganz zu lesen. Viel später habe ich erfahren, dass die archäologische Evidenz im Grunde auf Seiten der uralten Abrahamsgeschichte liegt. Für eine großflächige Vernichtung kanaanitischer Städte und Siedlungen in kurzer Zeit gibt es keine Belege, wohl aber für eine dauerhafte kulturelle Koexistenz von Kanaanitern und Hebräern. Schön, nicht wahr?

Ich wünsche uns eine gesegnete Woche, in lebendiger Auseinandersetzung mit unserer Umwelt.
Ulf von Kalckreuth

Bibelvers der Woche 32/2019

… die trat hinzu von hinten und rührte seines Kleides Saum an; und alsobald stand ihr der Blutgang. 
Luk 8,44

Hier ist ein Link für den Kontext des Verses, zur Lutherbibel 2017.

Unreinheit und Heil

Jesus war als Wunderheiler bekannt und immens populär in Galiläa und darüber hinaus. Seine Heilungen waren durch körperliche Berührungen gekennzeichnet. In der Geschichte um den Vers ist eine kleinere Heilung in eine größere eingebettet. Jesus eilt zu einem sterbenden Mädchen und gerät er in ein Gedränge. Eine Frau mit unstillbarem Blutfluss setzt dabei ihre eigenen Hoffnungen in den Wunderheiler: sie berührt Jesus von hinten. Augenblicklich ist sie geheilt. 

Jesus merkt, dass etwas geschehen ist. Mitten im Getümmel stellt er eine Untersuchung an. Schließlich bekennt die Frau, wie es um sie steht und was sie getan hat. Jesus sagt ihr zu, dass ihr Glaube sie geheilt habe.

Im Judentum ist eine Frau unrein, solange sie menstruiert. Wen sie berührt und was sie berührt, wird unrein. Dies bringt heftige Einschränkungen sozialer Art mit sich. Normalerweise nur für einige Tage im Monat, aber Frauen mit krankhaftem Blutfluss kommen aus diesem Status gar nicht mehr heraus. Reinheit kann nur durch ein Opfer wieder erlangt werden, dies aber erst, wenn der Blutfluss mindestens sieben Tage zum Stillstand gekommen ist. Unten angefügt sind die Bestimmungen aus Leviticus im Wortlaut. 

Die Frau, der Jesus begegnet, hatte also fast ständig den Staus einer Unberührbaren. Darüber hinaus war sie körperlich geschwächt: der dauernde Blutverlust ging an die Substanz. Auch materiell war sie am Ende: ihr ganzes Vermögen hatte sie bei Ärzten gelassen, ohne Erfolg. Das Spannungsmoment liegt nun darin, dass sie in ihrer Not es wagt, Jesus, den über alle Maßen Heiligen, zu berühren. Sie selbst tut dies bewusst, Jesus hingegen spürt nur eine Kraft von sich abgehen, weiß aber — so jedenfalls sagt er — nicht an wen. 

Wer eine Blutflüssige anrührt, wird selbst unrein bis zum Abend. Die Frau nun hat Jesus angerührt, die personifizierte Reinheit. Leviticus 15,31 enthält eine nachdrückliche Warnung aus der Zeit der Wüstenwanderung: wer das Allerheiligste (die Stiftshütte, den Sitz der Thora) verunreinigt, muß sterben. Hier aber, in dieser Szene, ist Jesus das verkörperte Wort Gottes. Was wird geschehen?

Unser kleiner Vers enthält in der Nussschale eine Schlüsselbotschaft des Neuen Testaments. Die Frau stirbt nicht, sie wird geheilt. Das ist die frohe Botschaft. Diese Heilung ist prototypische Erlösung, wie ja Sünde im Judentum in erster Linie eine Form der Unreinheit ist. Jesus verlangt von der Frau, dass sie sich zu ihrer Unreinheit und zu ihrer Rettung bekenne und verkündet dann, dass ihr Glaube es sei, der sie reinige. Dabei stellt er die überlieferte jüdische Dichotomie von Reinheit und Unreinheit in keiner Weise in Frage. 

Zwischenzeitlich ist das Kind, das Jesus retten wollte, gestorben. Nun geht nicht mehr um Unreinheit und Sünde, sondern um das unschuldige Leben selbst. Jesus dringt vor zu dem toten Mädchen. Dann nimmt er einfach ihre Hand und sagt: Kind, steh auf. Und das Mädchen steht auf.

Ich wünsche uns eine Woche, in der uns der Glaube hilft, 
Ulf von Kalckreuth

Anhang: Leviticus 15,19-31

Wenn eine Frau ihren Blutfluss hat, so soll sie sieben Tage für unrein gelten. Wer sie anrührt, der wird unrein bis zum Abend. Und alles, worauf sie liegt, solange sie ihre Zeit hat, wird unrein und alles, worauf sie sitzt, wird unrein. Und wer ihr Lager anrührt, der soll seine Kleider waschen und sich mit Wasser abwaschen und unrein sein bis zum Abend. Und wer irgendetwas anrührt, worauf sie gesessen hat, soll seine Kleider waschen und sich mit Wasser abwaschen und unrein sein bis zum Abend. Und wer etwas anrührt, das auf ihrem Lager gewesen ist oder da, wo sie gesessen hat, soll unrein sein bis zum Abend. Und wenn ein Mann bei ihr liegt und es kommt sie ihre Zeit an bei ihm, der wird sieben Tage unrein und das Lager, darauf er gelegen hat, wird unrein.

Wenn aber eine Frau den Blutfluss eine lange Zeit hat, zu ungewöhnlicher Zeit oder über die gewöhnliche Zeit hinaus, so wird sie unrein, solange sie ihn hat; wie zu ihrer gewöhnlichen Zeit, so soll sie auch da unrein sein. Jedes Lager, worauf sie liegt die ganze Zeit ihres Blutflusses, soll gelten wie ihr Lager zu ihrer gewöhnlichen Zeit. Und alles, worauf sie sitzt, wird unrein wie bei der Unreinheit ihrer gewöhnlichen Zeit. Wer davon etwas anrührt, der wird unrein und soll seine Kleider waschen und sich mit Wasser abwaschen und unrein sein bis zum Abend. Wird sie aber rein von ihrem Blutfluss, so soll sie sieben Tage zählen und danach soll sie rein sein. Und am achten Tage soll sie zwei Turteltauben oder zwei andere Tauben nehmen und zum Priester bringen vor die Tür der Stiftshütte. Und der Priester soll die eine zum Sündopfer bereiten und die andere zum Brandopfer und die Frau entsühnen vor dem HERRN wegen ihres Blutflusses, der sie unrein macht.

Und ihr sollt die Israeliten wegen ihrer Unreinheit absondern, damit sie nicht sterben in ihrer Unreinheit, wenn sie meine Wohnung unrein machen, die mitten unter ihnen ist.

Bibelvers der Woche 31/2019

Ein Kluger sieht das Unglück und verbirgt sich; aber die Unverständigen gehen hindurch und leiden Schaden.
Spr 27,12

Hier ist ein Link für den Kontext des Verses, zur Lutherbibel 2017.

Was ist Weisheit?

Das könnte in jedem Karriereratgeber stehen und es ist ganz sicher „richtig“: Steht man vor unabwendbarem Unheil, dann sind keine Kämpfertugenden mehr gefragt — überleben wird, wer sich klein macht, niedriges Profil zeigt und und es versteht, besseren Zeiten abzuwarten. In unserer eigenen Geschichte war diese Regel im Jahr 1933 ebenso einschlägig wie im Jahr 1945.

Dennoch ist der Spruch in mehrerer Hinsicht interessant. Das Buch der Sprüche gehört zur sog. Weisheitsliteratur, ebenso wie das Buch Kohelet (Prediger). In Letzterem aber wird sehr nachdrücklich die These vertreten, dass man dem guten Rat aus Spr 27,12 gar nicht folgen kann. Denn dazu müsste ja die Zeichen der Zeit erkennen. Der Prediger vertritt die Auffassung, dass es für alles Konjunkturen gibt, Zeiten, in denen etwas gelingt oder misslingt: allein von diesen Konjunkturen hängt es ab, ob unser Bestreben Erfolg hat: 

Ein jegliches hat seine Zeit, und alles Vorhaben unter dem Himmel hat seine Stunde: geboren werden hat seine Zeit, sterben hat seine Zeit; pflanzen hat seine Zeit, ausreißen, was gepflanzt ist, hat seine Zeit; töten hat seine Zeit, heilen hat seine Zeit; abbrechen hat seine Zeit, bauen hat seine Zeit,… (Pr 3,1ff.)

Die Tragik liegt für den Prediger nun darin, dass es dem Menschen nicht gegeben ist, die relevante Konjunktur zu erkennen, und dass deswegen all sein Streben notwendig vergeblich bleibt: „Alles ist eitel…“

Seit einigen Tagen schon lese ich das Buch Jeremia. Es handelt vom Untergang des hebräischen Südreichs, Juda, und es ist gut möglich, das beide, der Prediger und der unbekannte Verfasser unseres Bibelverses oben, konkret an diese traumatische Zeit zurückdachten. 

Es geht um ein Politikspiel mit blutigem Ausgang. Zedekia, der letzte König von Juda, war stark geschwächt. Juda musste zuvor schon vor Nebukadnezar kapitulieren, viele Einwohner, darunter der größte Teil der Elite waren aus Jerusalem nach Babylon weggeführt. Zedekia selbst war von Nebukadnezar als Vasall eingesetzt und hatte dem babylonischen Großkönig bei Gott dem Herrn die Treue geschworen. Aber die Befestigungen Jerusalems waren intakt und Zedekia verfügte über eine funktionierende Armee, denn Juda sollte für Babylon eine strategische Stütze gegen das feindliche Ägypten sein. In den Jahren danach geriet der babylonische König in Schwierigkeiten. Ein Feldzug gegen Ägypten misslang, und er musste Kriege gegen abhängige Königreiche im Norden führen. Nun machte der ägyptische Pharao Jerusalem Avancen und versprach Zedekja, ihm den Rücken freizuhalten, wenn er sich von Babylon lossagte. Würde Nebukdadnezar die Kraft haben, darauf nochmals zu reagieren? Und würde er es überhaupt wollen? Babylon war 1600 km entfernt und es gab eine Anzahl anderer rebellischer Provinzen und Vasallenreiche. 

Was waren hier die Zeichen der Zeit? Zedekia wusste es lange nicht. Auch die Berater waren gespalten. Jeremia sah genau, was die Konsequenzen der beiden Optionen sein würden, aber das half dem König nichts, es gab mehrere Propheten, die eine ganz andere Botschaft hatten. Jeremia nannte sie „Lügenpropheten“, und so nannten diese ihrerseits Jeremia. Zedekia sah die Chance, die Schwäche des Imperiums im Norden auszunutzen und Juda zu alter Größe zurückzuführen, ganz wie sein Vater Josia es einst mit den Assyrern getan hatte. Konnte er diese Gelegenheit verstreichen lassen?

Schließlich stellt Zedekia die Tributzahlungen an Nebukadnezar ein und sagt sich vom Großkönig los. Die erste Hoffnung wird enttäuscht: Nebukadnezar gelingt es, rasch eine Armee nach Syrien / Palästina zu führen. Auch die zweite Hoffnung trügt: Vor die Wahl gestellt, nach Jerusalem oder gegen das benachbarte, gleichfalls aufständische Ammon zu ziehen, entscheidet sich Nebukadezar für Jerusalem. Er fällt in das Land ein. Zunächst schließt er keinen Belagerungsring um die Stadt. Er bleibt mobil: erst müssen die anderen Festungen Judas niedergekämpft werden, und da sind auch noch die Ägypter. Diese erfüllen ihr Versprechen und starten einen Entlastungsangriff. Die Babylonier ziehen tatsächlich ab, den Ägyptern entgegen. Aber dann erweist sich auch die letzte Hoffnung als leer: der Angriff der Ägypter wird abgewehrt und die Verbündeten ziehen sich zurück. Nun ist die Stadt eingeschlossen, niemand kann sie verlassen, Wasser und Vorräte gehen zu Ende, Seuchen brechen aus — am Ende fällt sie fast widerstandslos und wird zerstört, viele der überlebenden Bewohnern werden weggeführt. Das Reich geht unter.

Wer hat hier recht — der Prediger oder der unbekannte Autor des BdW? Irgendwie beide, auf ihre je eigene Art. Der Prediger hätte von der Rebellion a priori abgeraten, weil Zedekja nicht in der Lage sein würde, die dafür erforderlichen Informationen zu sammeln und richtig zu deuten. Der Autor von Spr 27,12 hätte gesagt, der König die Vergeblichkeit des Unterfangens durchaus hätte sehen können, wenn er denn weise gewesen wäre. Im Licht des BdW war die Rebellion schlicht die Handlung eines Unverständigen. So sieht es natürlich auch Jeremia: bereits früh kommt für ihn das Unheil klar sichtbar und unaufhaltsam aus dem Norden. Ich kann mir aber gut vorstellen, dass Zedekia — anders als Jeremia ohne Zugang zu Gottes Ratschluss ex machina — gar keine Möglichkeit hatte, die hoch ambivalente Lage abgesichert zu beurteilen. Dann hätte geholfen, wenn er mit dem Prediger seine fehlende Erkenntnis erkannt hätte. 

Worin also liegt Weisheit? Die Umstände richtig zu deuten, oder um die Grenzen der eigenen Erkenntnismöglichkeiten zu wissen? Oder gar darin, zu unterscheiden, welche Art Weisheit jeweils angebracht ist? In allen drei Fällen gilt es, achtsam zu schauen und zu hören, auch nach innen — und vielleicht nehmen wir wahr, dass Gott doch zu uns spricht. 

Ich wünsche uns Weisheit von der je richtigen Sorte, in dieser Woche und darüber hinaus, 
Ulf von Kalckreuth

Bibelvers der Woche 30/2019

Richtet nicht, auf dass ihr nicht gerichtet werdet.
Mat 7,1

Hier ist ein Link für den Kontext des Verses, zur Lutherbibel 2017.

Us and them

Unser Vers führt ins Zentrum der christlichen Ethik. Jesus gibt Antworten auf die beiden zentralen ethischen Fragen — erstens: Wie sollen wir uns anderen Menschen gegenüber verhalten? und zweitens: wie sollen wir das Verhalten anderer Menschen uns gegenüber bewerten?

Die Antwort auf die erste Frage ist die goldene Regel. Kurz hinter dem gezogenen Vers steht sie in der folgenden Form (Mt 7,12) 

Alles nun, was ihr wollt, dass euch die Leute tun sollen, das tut ihr ihnen auch! Das ist das Gesetz und die Propheten.

Weiter kommt auch Kant mit dem kategorischen Imperativ nicht. Die Goldene Regel ist im Doppelgebot der Liebe (Mk 12, 29) enthalten. In Mt 5,43ff wird sie zur Feindesliebe zugespitzt. Ökonomen können die Goldene Regel übrigens auf ihre eigene Art formulieren: „Wenn du entscheidest, ziehe alle Folgen deiner Handlungen in Betracht, bei dir selbst und bei anderen — es gibt in Wahrheit keine Externalitäten!“ Es ist evident, dass diese Regel „stimmt“, dass sie ein soziales Optimum beschreibt, wenn sich jeder daran hält!

Damit gibt Jesus die Frage, wie wir uns verhalten sollen, in überraschender Weise vollständig an uns selbst zurück. Dasselbe geschieht mit der zweiten Frage, wie wir das Verhalten anderer beurteilen sollen, siehe auch Lk 6, 36 ff. Die Kriterien, die wir selbst an andere anlegen, wird Gott an uns anlegen. Die Gleichsetzung ist sehr prominent im Vaterunser enthalten „Und vergib uns unsere Schuld, wie auch wir vergeben unseren Schuldigern“. Gott wird hier nicht aufgefordert, Schuld bedingungslos zu vergeben, sondern er wird aufgefordert, sich uns gegenüber als Richter so zu stellen, wie wir es untereinander tun. Im Gleichnis vom „Schalksknecht“ (Mt 18) wird die Analogie von richten und gerichtet werden in ein plastisches Bild gebracht, der Hörer des Gleichnisses wird dabei unversehens in die Rolle Gottes, des obersten Richters versetzt. 

Wir sollen uns also verhalten, als ob alle Folgen unseres Handelns uns selbst träfen. Das ist die Goldene Regel Und auf das Verhalten der anderen sollen wir so antworten, als ob es um unser eigenes Verhalten gehe. Dies sagt der gezogene Vers. Das muß nicht zwangsläufig bedeuten, dass es gar keine Antwort geben soll — auch an unser eigenes Verhalten stellen wir ja Forderungen. Aber die Forderungen sollen, ebenso wie die an unser  eigenes Verhalten, liebevoll sein. Im Ergebnis soll es keine Grenze geben zwischen uns und den anderen.

Wow! Ganz einfach und fast unmöglich. Aber das ist wirklich so gemeint!

Man kann ja mal üben. Im Familienkreis ist es richtig schwer. Aber aus diesem Kontext bezieht Jesus viele Analogien. Unter Kollegen — vielleicht sogar etwas leichter? Und ganz Fremden gegenüber? In der Auseinandersetzung mit echten Gegnern und Feinden? Nicht richten? Beobachten und Hinnehmen? Unsere Antworten werden sehr persönlich und individuell ausfallen. Umgekehrt aber sind es diese Antworten, die uns als Mensch charakterisieren. Das jedenfalls sagt der Vers in unnachahmlicher Kürze.  

Aber dann — zu manchen Zeiten geht es irgendwie, ist es schlicht einfacher als an anderen Tagen. Manchmal ist die Grenze zwischen uns selbst und anderen durchlässiger und das Üben fällt leichter. Auch hierin liegt Gnade. Eine solche Woche wünsche ich uns. 
Ulf von Kalckreuth