Denn Gott ist mein Zeuge, wie mich nach euch allen verlangt von Herzensgrund in Jesu Christo.
Phi 1,8
Hier ist ein Link für den Kontext des Verses, zur Lutherbibel 1984.
Die Macht der Liebe
Am Anfang der Paulusbriefe steht die Begrüßung, am Ende ein Segen und dazwischen die Botschaft. Hier, im Philipperbrief, liegt wesentliche Botschaft schon in der Begrüßung.
Das habe ich erst gar nicht gesehen. Als ich den Bibelvers zog, sah ich nur, dass Paulus hervorhebt, wie wichtig ihm die Angesprochenen sind. Ich wollte dann eine kleine Betrachtung schreiben über das Thema „Wish you were here“. Weil ich gerade auf dem Rückweg von einer weiten Reise bin, wäre das nicht schwer gewesen. Aber dann irritierte mich das Wörtchen „Denn“. Denn was dahinter steht, ist eine Begründung oder ein Grund. Wofür? Worum geht es?
Vorher spricht Paulus davon, dass die Gemeinde in Philippi gesegnet sei: Gott werde in ihr das Werk vollenden, das er begonnen hat. Dabei könnte er es belassen. Statt dessen geht er einen Schritt zurück und fragt sich, wie er selbst zu dieser Einschätzung kommt. Er ist überzeugt, dass er recht hat, sagt er, weil er die Gemeinde in seinem Herzen hat, also liebt. Und dafür ruft er Gott in unserem Vers zum Zeugen auf.
Das klingt sonderbar, wie verkehrte Logik. Wir würden andersherum fragen — warum liebst du diese Gemeinde? — und nach Gründen suchen. Paulus aber begründet mit seiner Liebe die Einschätzung, dass die Gemeinde gesegnet sei.
Man kann das auf zwei Arten lesen, und ich denke, beide sind richtig. Zum einen könnte Liebe einen direkten und privilegierten Zugang zur Wirklichkeit vermitteln. Ich sehe richtig, weil ich liebe. Wir würden vielleicht antworten: Nein, Liebe macht blind — wer liebt, dessen Wahrnehmung ist nicht objektiv und spiegelt eher die Wünsche Wünsche und Sehnsüchte des Liebenden als die Wirklichkeit des Geliebten. Paulus dürfte dies nicht fremd sein, aber er mißt der Liebe eine Erkenntniskraft jenseits des Verstandes zu:
Die Liebe höret nimmer auf, wo doch das prophetische Reden aufhören wird und das Zungenreden aufhören wird und die Erkenntnis aufhören wird. Denn unser Wissen ist Stückwerk und unser prophetisches Reden ist Stückwerk. Wenn aber kommen wird das Vollkommene, so wird das Stückwerk aufhören. (…) Wir sehen jetzt durch einen Spiegel ein dunkles Bild; dann aber von Angesicht zu Angesicht. Jetzt erkenne ich stückweise; dann aber werde ich erkennen, wie ich erkannt bin. (1 Kor 13, 8-10+12).
Weiterhin aber könnte der Liebe eine selbständige, wirklichkeitsverändernde Kraft innewohnen. Wie Fürbitte und Segen. Der Satz hieße dann: Der Segen Gottes wird mit Euch sein, weil ich Euch liebe! Nicht im Sinne von Erklärung, sondern von Ursache und Wirkung. Das hat etwas Grundstürzendes.
Ein Kind würde es vielleicht so sagen: „Warum ist denn dein Papa so großartig? — „Weil ich ihn lieb habe!“ — nicht etwa anders herum. Paulus ist kein Kind, er weiß, was er schreibt. Der Herr wird mit dir sein, dein Leben wird in guten Bahnen verlaufen, du wirst nicht fallen, weil ich dich liebe! Sonderbar. Oder nicht? Welche Rolle spielt die Liebe der Eltern für die Persönlichkeit von Kindern? Hat sie nicht konstitutive Kraft? Und wie steht es um die Liebe zwischen Geliebten und Eheleuten? Kann nicht das Wissen, geliebt zu werden, ein Dasein begründen?
Paulus verallgemeinert dies nur ein kleines bißchen. Durchaus unbescheiden, übrigens. Und er sagt, dass wir die Welt verändern können mit unserer Liebe!
Was bedeutet das? In meinem Lebenskontext, in Ihrem? Können Sie es sehen?
Wie Glaube und Hoffnung hat Liebe Macht, eigenständige Kraft. Sie ist nicht nur das Spiegelbild des geliebten Wesens, sie wirkt auf das Gegenüber zurück. Der Abschnitt aus dem Korintherbrief, aus dem oben schon zitiert wurde, endet wie folgt: Nun aber bleibt Glaube, Hoffnung, Liebe, diese drei, die Liebe aber ist die größte unter ihnen (1. Kor 13, 13).
Gott befähige uns zur Liebe,
Ulf von Kalckreuth