Er sprach: Du sollst nicht mehr Jakob heißen, sondern Israel; denn du hast mit Gott und mit Menschen gekämpft und bist obgelegen.
Gen 32,29
Hier ist ein Link für den Kontext des Verses, zur Lutherbibel 1984.
Namen
Halbzeit, Sommersonnenwende. Willkommen auf dem Gipfel, von hier führen alle Wege bergab.
Gestern dachte ich, dass ich die Betrachtung zum Vers eigentlich schon geschrieben habe, vor gut zwei Jahren nämlich. Der Bibelvers der Woche 33/2023 geht dem Vers dieser Woche unmittelbar voran, und eigentlich ist alles gesagt, dachte ich. Gucken Sie bitte rein, wollte ich Ihnen deshalb einfach zurufen.
Aber jetzt sitze ich in einem Zug. Er fährt in meine Heimatstadt. Ich will ein Grab besuchen, und die Landschaft zieht vorüber. In ein paar Tagen habe ich Geburtstag. Und vielleicht lässt sich doch etwas zu sagen.
Da erhält jemand einen neuen Namen — von Gott. Nachdem er gekämpft hat, mit Gott, mit den Menschen und mit sich selbst. Die meisten von uns behalten ihren Namen ein Leben lang, zumindest den Vornamen. Ulf ist Ulf ist Ulf — aber ist das so? Bin ich derselbe wie vor einem Jahr, vor zehn, vierzig, sechzig? Sicher nicht. Mit diesen früheren Verkörperungen teile ich Erinnerungen. Sie können auf Ereignisse zurückgreifen, die mir auch zugänglich sind. Mehr oder weniger — ich erinnere mich anders, als sie das tun, und die Menge der gemeinsamen Erfahrungen wird mit zunehmendem Abstand schnell kleiner. Dann gibt es Konventionen: wir haben dieselben biographischen Daten, dieselben Eltern — wirklich dieselben? — zum Teil auch Geschwister, die denselben Namen tragen. Immerhin: wir, ich heute und meine Verkörperungen in der Zeit, wir tragen denselben genetischen Code mit uns herum, er konstituiert und limitiert unsere Entwicklungsmöglichkeiten.
Eine Ähnlichkeit, also, die mit zunehmender zeitlicher Distanz abnimmt. Eigentlich müsste man von Ulf (2025), Ulf (2015), Ulf (1985) und Ulf (1965) sprechen. Das wäre nützlich, Ulf (2025) könnte sich dann mit Ulf (2015) streiten, ohne dass dabei Missverständnisse entstehen… Aber solange die Diskontinuität das normale Maß nicht überschreitet, ignorieren wir sie einfach. Auch ein Toter behält den Namen. Name steht für Identität. Identität ist eine nützliche Fiktion, so ist es.
Es gibt Brüche, die über das normale Maß hinausgehen. Solche Brüche können mit einem neuen Namen markiert werden. Jemand wird geadelt. Jemand wird zum Papst gewählt. Jemand wird aus der Fremdenlegion entlassen. Konvertiten erhalten oft einen neuen Namen, wenn sie mit der Taufe das Christentum annehmen. In der Bibel wird Abram zu Abraham, Sarai zu Sarah, Simon zu Petrus, Saulus zu Paulus. Und Jakob, der ‚Hinterlistige‘, wird zu Israel, ‚der mit Gott streitet‘ — oder für den Gott streitet?
New game, clean slate. Gibt es das? Im Leben nicht wirklich. Die abnehmende Ähnlichkeit mit den früheren Verkörperungen bleibt, auch wenn jemand zum Papst gewählt wird. Und die gemeinsame Erinnerung an vergangene, prägende Abscheulichkeiten auch.
„Freut euch, dass eure Namen im Himmel geschrieben sind!“. So stand es auf der Traueranzeige für meinen Vater. Im Reich Gottes werden wir vielleicht einen neuen Namen empfangen. Von Gott, wie Jakob. Beunruhigeńd ist diese Vorstellung, und schön. Wie könnte er klingen, dieser Name?
Ich wünsche uns eine gesegnete Woche,
Ulf von Kalckreuth