Desgleichen auch etlicher gute Werke sind zuvor offenbar, und die andern bleiben auch nicht verborgen
1 Tim 5,25
Hier ist ein Link für den Kontext des Verses, zur Lutherbibel 1984.
Geschehen, ungeschehen und alles, was dazwischen liegt
Ein Urteil über unser Handeln ist in manchen Fällen (menschen)möglich, sagt unser Vers, in anderen Fällen aber muss es Gott dem Herrn und dem Jüngsten Gericht überlassen bleiben — wir sehen manches, aber nicht alles. Dies gilt für Gutes wie für Verwerfliches:
Bei einigen Menschen sind die Sünden offenbar und gehen ihnen zum Gericht voran; bei einigen aber werden sie hernach offenbar. Desgleichen sind auch die guten Werke einiger Menschen zuvor offenbar, und wenn es anders ist, können sie doch nicht verborgen bleiben. 1 Tim 5, 24+25.
Es ist nicht ganz klar, wen oder was Paulus in dem Brief an seinen Schüler meint. Vorher spricht er über Gemeindeleitung, und dass man vorsichtig sein muss, wenn es darum geht, Leitungsbefugnisse zu übertragen. Aber dazwischen gibt es auch noch andere Gedanken. Ich lese den Vers als allgemeine, vom konkreten Gegenstand losgelöste Überlegung.
Die Handlungen anderer können wir zum jeweiligen Zeitpunkt nur unvollkommen beurteilen, schreibt Paulus. Wie sieht es mit unseren eigenen aus? Und wie steht es um Dinge, die wir nicht getan haben, aber gut und gern hätten tun können — wenn wir in eine Lage gekommen wären, die eine entsprechende Entscheidung von uns verlangt?
Es gibt eine spannende Interpretation der Quantenmechanik, die besagt, dass die einem Weltzustand möglicherweise erwachsenden quantenphysikalischen Folgezustände gleichberechtigt nebeneinander stehen und alle gleichermaßen real sind. In Wahrheit gibt es keinen Zufall. Die Welt verzweigt sich immer weiter, wir sitzen auf einem bestimmten Ast und sehen nur, was uns dorthin geführt hat — die vielen anderen Äste, die Parallelwelten, sehen wir nicht. Es gibt sie aber dennoch, so diese Auffassung. Klingt irre, ist aber durchaus ernst zu nehmen. Man spricht von der Viele-Welten-Interpretation der Quantentheorie und vom Multiversum. Hier zwei Links: ein Wikipedia-Artikel und eine einfache Darstellung.
Wir sehen diese anderen Welten nicht, man könnte daher sagen, sie sind irrelevant. Aber in moralischer Hinsicht sind sie von großer Bedeutung. Neben dem, was wir kennen und sehen, stünde ja gleichberechtigt alles andere, das es geben könnte oder hätte geben können. Ein Ulf, der ein großer Wissenschaftler wurde, ein Schlachtenlenker, ein Frauenmörder oder — um alledem aus dem Weg zu gehen und sich dem zu widmen, worauf es wirklich ankommt — ein Mönch. Ein Ulf, der früh gestorben ist, einer, der zum Trinker wurde, einer, der viele Kinder von vielen Frauen hat, oder auch ein kinderloser Playboy. Jede dieser unzählig vielen Welten ist eine Abfolge von Bedingungskränzen für Ulfs Handlungen, Entscheidungen und Worten — und er hätte in der einen Welt Schreckliches getan, in der anderen Gutes, in den meisten wohl beides. Einen Überblick über sich und sein Handeln hat er nicht, kann er gar nicht haben. Er könnte allenfalls in sich hineinhorchen, um zu spüren, was möglich ist.
Mir ist diese Vorstellung wichtig. Wir tragen auch Verantwortung für das, was wir in bestimmten Situationen tun würden oder getan hätten. Das scheinbare Glück, vor manche Fragen gar nicht gestellt zu sein, ist Trug und Blindheit. Wer die vielen Welten überschaut — Gott also, niemand sonst — sieht, was Ulf unter jeder denkbaren Voraussetzung getan hätte, sieht auch die dazugehörige Verteilung. Hier Verwerfliches, dort vielleicht strahlend Helles. Absolute Gerechtigkeit, die wollen wir doch immer haben: hier wäre sie…!
Ich stelle mir dann vor, dass wir vor Gottes Thron mit den vielen Welten konfrontiert werden, und mit unseren Rollen darin. So du willst Sünde zurechnen — Herr, wer kann bestehen? fragt Psalm 130. Ja, wer kann dann noch bestehen? Und der Psalm selbst antwortet: Denn bei dir ist die Vergebung, dass man dich fürchte.
Vielleicht ist es so, vielleicht fallen wir in die Liebe Gottes! Es war wiederum Paulus, der diese Begegnung auf unsterbliche Weise beschrieben hat:
Denn unser Wissen ist Stückwerk, und unser prophetisches Reden ist Stückwerk. Wenn aber kommen wird das Vollkommene, so wird das Stückwerk aufhören (…) Wir sehen jetzt durch einen Spiegel in einem dunklen Bild, dann aber von Angesicht zu Angesicht. Jetzt erkenne ich stückweise, dann aber werde ich erkennen, gleichwie ich erkannt werde. Nun aber bleiben Glaube, Hoffnung, Liebe, diese drei; aber die Liebe ist die größte unter ihnen.
(1 Kor 13,9-13)
Ich wünsche uns eine gesegnete Woche, in jeder der unzähligen Welten, die sie gebären wird.
Ulf von Kalckreuth