Wer dem Armen gibt, dem wird nichts mangeln; wer aber seine Augen abwendet, der wird viel verflucht.
Spr 28,27
Hier ist ein Link für den Kontext des Verses, zur Lutherbibel 1984.
Sehen und leben
Als ich diesen Vers zog, dachte ich, hier sei nicht viel Arbeit zu tun: er ist selbsterklärend und es gibt keinen Kontext zu erläutern. Das Buch der Sprüche ist eine Sammlung von Merksätzen, die Richtschnur sein sollen für ein gelungenes Leben, und zwischen diesen Merksätzen besteht meist wenig direkte Beziehung.
Aber gestern, auf dem Fahrrad, stand mir plötzlich der zweite Teil des Verses vor Augen: „Wer aber seine Augen abwendet, der wird viel verflucht“. Die Sprüche lehren manche Verhaltensweisen und warnen vor anderen. Meist werden die positiven bzw. negativen Konsequenzen genannt oder wenigstens angedeutet. Die Sprüche kommen in Doppelversen: Dieselbe Aussage wird zweimal gemacht, oft je einmal positiv und negativ gewendet. Sie wird dabei nicht einfach wiederholt, sondern in zwei Perspektiven gestellt. Das erleichtert die Aufnahme im Langzeitgedächtnis, es gibt den Merksätzen aber auch Tiefenschärfe, eine dritte Dimension.
Wir sollen nicht einfach freigiebig sein, blind sozusagen, oder es den Staat richten lassen als gutwillige Steuerzahler, sondern wir sollen hinsehen und wahrnehmen. Wer es nicht tut, begibt sich in Gefahr. Das ist keine Drohung mit der Strafe Gottes. Wenn das Buch der Sprüche warnt, dann wohnen die negativen Konsequenzen der angesprochenen Handlung selbst inne, es sind ihre langfristige Folge. Gott tritt nicht persönlich als strafende Instanz in Erscheinung, er gibt sein Gesetz als Wegweiser. Wer Weisung und Weisheit verachtet, tut dies zum eigenen Schaden. Hier ein Link zum Bibelvers der Woche 40/2022.
Wer nicht hinsieht, den bestraft das Leben, sagt der Spruch. Wer nicht hinsieht, verliert den Kontakt mit seiner Wirklichkeit und seiner Umwelt, wird einsam und unglücklich, lese ich.
Es ist Karfreitag. Gelegenheit, über das Leben und seine Einsamkeiten nachzudenken. Wie oft habe ich nicht hingeschaut, weil es entlastet, weil es die Welt einfach und überschaubar macht, weil sich Alltag und „Notwendigkeiten“ nur so bewältigen lassen. Und es stimmt: wer dies zur dominanten Strategie macht, der ist auf dem Weg in eine sehr enge und ganz private Hölle. Ohne Gott und ohne Teufel. Ganz allein.
Nun bin ich ins Grübeln gekommen, und plötzlich erschließt sich mir auch der erste Teil des Spruchs. Er spannend. Ich bin Ökonom, und für Ökonomen fundamental ist die sogenannte Budgetrestriktion. Damit ist folgender Sachverhalt gemeint: Ein Euro, den man für eine Sache ausgibt, ist für alle anderen Verwendungen verloren. Sehr einfach und sehr mächtig, und es wäre gut, wenn mehr Menschen und Politiker diesen Satz verinnerlichen könnten. Der Schreiber des Verses kennt die Budgetrestriktion, das zeigt die absichtlich paradoxe Formulierung. Wer etwas dem Armen gibt, der kann es nicht mehr für die Erfüllung eigener Wünsche ausgeben. Ja. Aber ist das alles? Der Spruch setzt fort: „… dem wird nichts mangeln“. Wird mir etwas fehlen? Das ist die „richtige“ Frage. Irgendwie kommt es zurück, sagt der Spruch. Kann ich damit gar meinem eigenen Mangel abhelfen? Die Antwort gibt der zweite Teil des Spruchs.
Der Herr gebe uns die Kraft, zu sehen. Er nehme den Schleier von unseren Augen. Er sei besonders dann mit uns, wenn wir die Not des anderen nicht ertragen wollen.
Ulf von Kalckreuth