Dies ist die Last über Damaskus: Siehe, Damaskus wird keine Stadt mehr sein, sondern ein zerfallener Steinhaufe.
Jes 17,1
Hier ist ein Link für den Kontext des Verses, zur Lutherbibel 1984.
Zerfallende Steinhaufen…
Dies ist einer der sogenannten „Fremdvölkersprüche“. So nennt man Passsagen in den Büchern der Propheten, die sich aus dem engen Bezug zum Volk Gottes in den beiden Staaten Juda und Israel lösen und die Nachbarvölker in den Blick nehmen. Unser Vers ist der Einstieg in einen Abschnitt, in dem Jesaja den Untergang des Reichs Aram-Damaskus (Syrien) prophezeit — oder vielleicht auch kommentiert: die Ereignisse, von denen die Rede ist, haben zu seiner eigenen Zeit stattgefunden. Meine Bibel verweist auf die in 2. Kö 17 berichteten Geschehnisse, den ephraimitisch-syrischen Krieg. Auch das Jesajabuch spricht über diesen Krieg, in Kap. 7 und 8. Es geht um eine Kette aus Bündnissen und Gegenbündnissen, die schließlich das Ende aller schwächeren Beteiligten bedeuten.
Ich will es ganz kurz machen. Über Jahrhunderte existierten zwei Reiche nebeneinander her, in denen Gott der Herr verehrt wurde, das Nordreich Israel und das Südreich Juda — nicht besonders friedlich und manchmal offen kriegerisch gegeneinander, obwohl die Einwohner sich als Angehörige desselben Volkes betrachten. Im achten Jahrhundert v. Chr. verbündet sich das reichere und mächtigere Nordreich mit Aram-Damaskus (Syrien), einem selbständig gewordenen ehemaligen Vasallen. Die vereinten Armeen marschierten gegen die Hauptstadt des Südreichs, Jerusalem. König Ahas von Juda kann sich mit knapper Not halten. Er ruft das mächtige Assyrien unter Tiglat-Pileser III zu Hilfe, zahlt Tribute und gelobt Vasallentreue, um den Schutz des Assyrers zu erhalten. Tiglat-Pileser geht darauf ein und schlägt die Verbündeten vernichtend. Damaskus legt er in Trümmer und das Nordreich wird zu einem auf einen kleinen Kern reduzierten Vasallenstaat. Beide, Nord- und Südreich, sind nun im Orbit Assyriens.
Das ist leider nicht das Ende. Das Nordreich versucht, mit Hilfe von Ägypten seinen Verpflichtungen zu entkommen. 722/20 v. Chr. fällt Assyrien im Nordreich ein und verschleppt die Einwohner Samarias und der umliegenden Gebiete. Ihre Spur verliert sich. Nicht viel später, im Jahr 705 v. Chr., hätte Juda um ein Haar dasselbe Schicksal ereilt. Auch der König in Jerusalem wollte mit Hilfe der Ägypter dem Würgegriff der Assyrer entkommen. Eine gewaltige assyrische Armee zerschlägt die Städte und Festungen Judas und belagert Jerusalem. Nur ein Wunder — möglicherweise eine Pest im Lager der Assyrer — kann die Verteidiger retten.
Recht betrachtet ist unser Vers also gar kein Fremdvölkerspruch. Assyrien ist in dieser traurigen Erzählung die große Krake, die alles verschlingt. Aber es sind Uneinigkeit und Taktieren der Kleinen, die ihr die Beute in die Fangarme treiben. Jesaja warnt Ahas eindringlich vor dem Gegenbündnis mit Assyrien. Aber vielleicht hatte der judäische König zu diesem Zeitpunkt bereits keine Wahl mehr. Damaskus macht den Anfang; am Ende ist die ganze Levante gefüllt mit Blut und zerfallenden Steinhaufen.
Eine frohe Botschaft sehe ich hier nicht. Der Herr lasse uns gerade durchs Leben gehen!
Ulf von Kalckreuth