Bibelvers der Woche 20/2019

Als wir aber solches hörten, baten wir und die desselben Ortes waren, daß er nicht hinauf gen Jerusalem zöge.
Apg 21,12

Hier ist der Link für den Kontext des Verses, zur Lutherbibel 2017.

Reise nach Jerusalem

Das ist eines unserer Cluster: Paulus auf der Reise nach Jerusalem, siehe auch die BdW 2018 KW 28 und 2018 KW 30. Die Anbindung an den Mutterboden, die judenchristliche Gemeinschaft mit Zentrum in Jerusalem, war schwach geworden. Paulus lässt in den griechischen Gemeinden für die „Heiligen“ in Jerusalem sammeln und will das Geschenk nach Jerusalem bringen, auf Ausgleich bedacht.

Paulus und seine Gefährten haben Griechenland hinter sich gelassen, sind an Zypern vorbeigefahren und über Tyrus ins Heilige Land nach Caesarea gelangt. Im Hause von Philippus, eines Führers der Christengemeinschaft (der übrigens vier Töchter hatte, „Jungfrauen, die alle prophetisch redeten“) begegnet er einem Propheten. Dieser nimmt Paulus Gürtel, bindet sich die Hände und sagt: „Den Mann, dem der Gürtel gehört, werden die Juden binden und den Heiden überantworten“. Und Paulus’ Gefährten sagen ihm: „Tu‘s nicht!“ — das ist der Vers.

Eines Propheten hätte die Warnung freilich nicht bedurft: Paulus selbst sieht in Apg 20,22ff die Katastrophe kommen, und auch seine Anhänger wussten Bescheid. Es war mit Händen zu greifen: schon in Ephesus und auf der weiteren Schiffsreise ging es um sein Leben. Paulus hatte Nichtjuden zu Anhängern des Gottes der Juden gemacht, in großem Stil, und ihnen gesagt, dass die Torah für sie nicht gelte, weil es im Kern nicht auf das Gesetz ankomme, sondern auf seine Überwindung in Jesus Christus. Eine neue Religion war im Entstehen. Das war schon für Judenchristen sehr schwierig. Für die Ultraorthodoxen“ unter den Juden öffnete Paulus die Heilsgemeinschaft der Juden für Menschen, die nicht dazugehören und gleichzeitig wurde das Gesetz diskreditiert. Und dies durch einen pharisäischen Schriftgelehrten — das war unerträglich!

Hier war also die Verabredung — alles ist vorbereitet, er wird erwartet, führt Geld mit sich und ein wichtiges Anliegen. Aber auch die konkrete Vorahnung der Katastrophe. Treffpunkt Jerusalem: dorthin führte auch die letzte Wanderung Jesu, der ebenfalls wusste, was ihn dort erwartete. Auch an Stephanus mag Paulus gedacht haben, dessen Tod er selbst beigewohnt hatte. War Paulus frei? Hätte er sich zu diesem Zeitpunkt, angesichts der Prophezeiung und der Bitte der Gefährten, für einen Abbruch entscheiden können? Mehrmals vorher ist er Situationen ausgewichen, die lebensgefährlich zu werden drohten. 

Paulus setzt seine Reise nach Jerusalem fort, hinein in ein ungewisses Feld aus Dunkel und Licht; er hält seine Verabredung ein. 

Mir hat der Vers ein wenig geholfen, mit dem BdW der letzten Woche umzugehen. Den Vers zu Paulus zog ich nämlich versehentlich beim Abspeichern des Verses zum Genozid an den Midianitern. Ich dachte kurz daran, Apg 21,12 als alternativen BdW für die KW 19 gelten zu lassen. Als ich mir diesen aber näher betrachtete, verstand ich, dass ich das nicht durfte.

Ich wünsche uns eine Woche, in der wir die Kraft haben, wichtige Verabredungen einzuhalten.
Ulf von Kalckreuth 

Bibelvers der Woche 19/2019

Nimm die Summe des Raubes der Gefangenen, an Menschen und an Vieh, du und Eleasar, der Priester, und die obersten Väter der Gemeinde; …
Num 31,26

Hier ist der Link für den Kontext des Verses, zur Lutherbibel 2017.

Herz der Finsternis

Wenn ich einen Vers ziehe, gibt es einige Abschnitte in der Bibel, vor denen ich mich fürchte. Dieser hier gehört nun dazu. 

Der Herr befiehlt Mose kurz vor dessen Tod einen Rachefeldzug gegen die Midianiter, ein Wüstenvolk, den Arabern verwandt. Die Israeliten überfallen die Midianiter mit 12.000 Kriegern und töten alle Männer, deren sie habhaft werden können. Sie nehmen die Habe der Überfallenen; Frauen und Kinder lassen sie zunächst leben. Mose zürnt — gerade die midianitschen Frauen hätten doch das Unglück über die Israeliten gebracht. Also werden auch die Knaben getötet sowie alle Frauen, „die schon einen Mann erkannt und bei ihm gelegen hatten“. Nur die Mädchen bleiben am Leben. Es sind 32.000. Das erlaubt einen Blick auf die Zahl derer, die nicht überlebt haben.

Genozid also, knapp und präzise geschildert. Von Gott selbst angestoßen und von seinem Erzpropheten organisiert. Der gezogene Vers steht am Beginn der buchhalterisch genauen Regelung für die Teilung der Beute: der geraubten Mädchen, Tiere und Wertgegenstände. Von allem geht die Hälfte an die kämpfende Truppe, von diesem Teil wiederum steht ein festgelegter Satz dem Herrn zu — Gott wird als Kämpfer eingestuft. Er erhält zwei Promille aus der Hälfte, also ein Promille der Gesamtheit, darunter ausdrücklich 32 Mädchen. Die andere Hälfte geht an das ganze Volk, davon wiederum ein Teil an die Priester. 

Was den Anteil Gottes betrifft, so hat mich meine Hebräisch-Lehrerin davon überzeugt, dass es nicht um Menschenopfer geht, sondern dass „Trumah“ hier eine Art Abgabe ist. Das Wort kann zwar ein Opfer bezeichnen, Menschenopfer aber waren explizit verboten, und die in der Auflistung gleichfalls dem Herrn zugeführten Esel sind unreine Tiere, also für Opferhandlungen ungeeignet. 

Auch so aber ist das beschriebene Geschehen alptraumhaft genug. Woran können wir uns halten? Die Schilderung der Wüstenwanderung als ganze ist sicher nicht „historisch“. Dennoch mag es Bezüge zu realen Ereignissen geben. Auch in Richter 6-8 wird von einem Krieg zwischen den Israeliten und den Midianitern berichtet, der für letztere verheerend ausging. Und wann und wie auch immer der Text in das Buch Numeri gelangte, aus einer älteren Vorlage oder aus mündlicher Tradition: dem damaligen Redakteur und seinen Lesern erschien er „richtig“ — er entspricht dem Bild des Schreibers und seiner Leser von Gott und der eigenen Geschichte. Davon jedenfalls können wir sicher ausgehen. 

Dabei hat der Feldzug etwas eigentümlich Selbstzerstörerisches. Die Midianiter unterschieden sich in ihrer nomadischen Lebensweise von den Israeliten nicht. Man kannte sich gut. Die Völker waren verwandt, auch die Midianiter galten als Abkommen von Abraham. Mose war seinerzeit aus Ägypten nach Midian geflohen, hatte dort Zippora, eine Midianiterin, geheiratet, und sein Schwiegervater Jethro war midianitischer Priester — vermutlich sogar Priester des Herrn, denn er wohnte am Gottesberg. Die Begegnung mit Gott am Dornbusch hatte Mose, als er Jethros Schafe hütete. Jethro half Mose bei der Organisation des wandernden Volks. Später sollte Bileam, ein Prophet, die Israeliten im Auftrag der midianitischen Könige verfluchen, aber der Fluch geriet dem Volk zum Segen. Noch später (4. Mo 25) ließen sich Midianiterinnen mit den Israeliten ein. Das erregte den Zorn Gottes. 

Sonderbar also: die Völker waren verschwägert und es ist sogar denkbar, dass die Israeliten den Namen ihres Gottes bei den Midianitern kennengelernt haben: die Erzählung vom brennenden Dornbusch, von Jethro, dem Priester, und der Offenbarung am Berg Horeb deuten darauf hin. Wie mag Zippora das Massaker aufgenommen haben, wie Jethro? 

Wie kann man damit umgehen? Gott ist ewig und immer gleich. In dieser Ewigkeit ist er aber für uns nicht erkennbar. Was wir erkennen, sind Bilder von Gott. Diese Bilder sind nicht ewig, sondern wandelbar, wie wir Menschen. Sie haben viel mit uns selbst zu tun. Das ist legitim: wir sind nach seinem Bilde geschaffen, also ist sein Bild in uns.

Im Angesicht dieses furchtbaren Texts ist es verführerisch zu sagen, dass die alten Bilder eben falsch seien. Wissen wir, ob unser Bild heute richtig ist? Wer so verfährt, liest in der Bibel gern nur noch dasjenige, was glatt durch die Filter des Zeitgeistes geht — und das ist nicht eben viel. Die Warnung aus dem BdW der vergangenen Woche (2019 KW 18) vor selbst verfertigter Religion ist hier am Platz. Vielleicht ist es daher besser, einen größeren Abstand einzunehmen und die Bilder zu betrachten, als Bilder eben, nicht als eigentliche und ewige Wahrheit. 

Wir sind nach Gottes Ebenbild geschaffen, also ist sein Bild in uns. Ich habe einen Dominikanermönch sagen hören, er liebe es deshalb so sehr, Menschen zu beobachten, weil sich in allem was sie sind und tun, Eigenschaften des Göttlichen widerspiegeln. Er sagte das mit einem Lächeln, das um den Abgrund weiß. In der Tat: wenn wir und die Welt Gottes Werk sind, verhält sich alles Geschaffene irgendwie zu ihm. Auch die dunklen Seiten, auch die allerschwärzesten. Irgendwie ist alles enthalten und impliziert in dem, was selbst unerkennbar bleibt. 

In diesem Sinne ist der Abschnitt, in dem der Vers enthalten ist, eine Reise in die Finsternis in unseren eigenen Herzen. In Joseph Conrads „Heart of Darkness“ ist eine solche Reise am Ufer des Kongo angesiedelt; eine sehr bekannte Verfilmung spielt im Vietnamkrieg. Joseph Conrads Erzählung kulminiert in Bildern, die denen aus dem Midianiterfeldzug gleichen. 

Ich schreibe diese Zeilen am 2. Mai, dem israelischen Holocaust-Gedenktag, Jom Ha’schoa. Vielleicht ist das ein Schlüssel. Das „wahre“ Bild gibt es nicht, das wäre ein Widerspruch in sich. Was ist, wenn wir eine Verantwortung tragen für diejenigen Bilder des Unkenntlichen, die wir übernehmen, entwickeln, und wirksam werden lassen — in uns und dann auch in der Welt? Die Vielfalt der Bilder zulassen, sehen, begreifen, sich aber dann zu entscheiden und dabei Mitschöpfer werden? Geht das, ohne sich Religion selbst zu verfertigen?

Ich wünsche uns eine Woche, in der die Finsternis in unseren Herzen keine Macht über uns hat.
Ulf von Kalckreuth

Bibelvers der Woche 18/2019

Und er gab des Tages ein Wunderzeichen und sprach: Das ist das Wunderzeichen, daß solches der HErr geredet hat: Siehe der Altar wird reißen und die Asche verschüttet werden, die darauf ist.
1. Kö 13,3

Hier ist ein Link für den Kontext des Verses, zur Lutherbibel 2017.

Zwei Könige — und dazwischen ein Prophet

Der Vers führt uns zurück in die Frühzeit der geteilten Königreiche. Das sagenhafte Reich Davids und Salomos ist zerbrochen, in ein Nord- und ein Südreich. Im Norden hat sich Jerobeam als König von zehn der zwölf Stämme Israels durchgesetzt. Jerobeam pflegt religiösen Pluralismus. Er errichtet Heiligtümer in Bet-El und Dan, auf denen nicht (nur) dem Herrn geopfert wird. Der Baalskult wird gefördert, Opferstätten auf den Höhen eingerichtet, auf denen nicht-levitische Priester dienen und alternative Opferfeste werden eingeführt. In der Kultstätte von Bet-El bringt der König selbst Brandopfer dar. 

Ein namenloser Prophet kommt des Wegs nach Bet-El. Während der König am Altar steht, verkündet der Prophet, dass dereinst ein König namens Josia kommen werde, der die Priester der Höhen schlachten und ihr Fleisch auf diesem Altar verbrennen werde. Er kündigt zur Bekräftigung ein Wunderzeichen an — an dieser Stelle hat der gezogene Vers seinen Platz. Der König will den Propheten ergreifen lassen, doch sein Arm erstarrt in ausgestreckter Haltung. Dann geschieht das angekündigte Wunder: der Altar birst und die Asche wird zerstreut. Jerobeam braucht die Hilfe des Propheten, um seinen Arm wieder bewegen zu können. Zum Dank will er dem Propheten ein Geschenk machen, doch dieser lehnt ab — er habe den Auftrag, nicht zu verweilen, kein Wasser zu trinken und kein Brot zu essen. 

Ein alter Prophet kommt herzu und sagt, auch er sei Prophet und er habe vom Herrn den Auftrag, den jungen Propheten zu bewirten. Dieser bleibt und folgt der Einladung. Auf seiner Weiterreise wird er von einem Löwen getötet. Der alte Prophet, der den jungen verführt und ins Unglück gestürzt hat, ist tief traurig, und er stellt seine eigene Grabstätte zur Verfügung. In 2.Kö 23 wird berichtet, wie drei Jahrhunderte später Josia, König des Südreichs, dafür sorgt, dass dies Grab des namenlosen Propheten vor der Vernichtung gerettet wird, als er, ganz wie prophezeit, die Kultstätten zerstören und die illegitimen Priester des Nordens auf dem Altar schlachten lässt.

Harte Kost– nicht nur wegen der robusten Missionierungsstrategie Josias. Der junge Prophet greift König Jerobeam am Altar öffentlich an, im Auftrag des Herrn. Eigentlich verwirkt er damit sein Leben, doch ein Wunder bewahrt ihn. Er verliert sein Leben dennoch, als er entgegen der Weisung einer gut gemeinten Einladung folgt. Der erste Teil der Geschichte erinnert an Elijas Kampf mit den Baalspriestern, der zweite an Moses Strafe für seinen Ungehorsam am Haderwasser. Der Wortlaut der Prophezeiung wirft Fragen auf. Josia war der große religiöse Reformer des Südreichs gegen Ende der Königszeit. Unter ihm fanden umfangreiche Redaktionsarbeiten an den Schriften statt; das Alte Testament, wie wir es kennen, begann damals Gestalt anzunehmen. Wenn nun sein Name am Anfang des 1. Königsbuchs in einer Prophezeiung auftaucht, mag es mit diesen Redaktionsarbeiten zu tun haben. Aber die sperrige Geschichte vom namenlosen Propheten und dem gespaltenen Altar ist alt. Hätten Josias Redakteure die Geschichte erfunden, wie könnten sie den Propheten für seinen Ungehorsam sterben lassen?

So spielt nun diese eigenartige Geschichte gleichermaßen am Anfang der Königszeit und dreihundert Jahre später an ihrem Ende, vermittelt durch einen steinernen Altar und einen namenlosen Propheten, der in beiden Zeiten zugleich lebt. Wie der Altar, so zerbricht auch der Prophet. Oft sehnen gläubige Menschen sich nach klaren Zeichen. Für solche unzweideutige Klarheit mag der sich spaltende Altar im gezogenen Vers exemplarisch sein. Aber allzu klare Zeichen und Anweisungen lassen keine Spielräume. Denn das ist begriffsnotwendig: Wenn der uneingeschränkte Herrscher des Universums eine Anweisung gibt, personalisiert und unmissverständlich, dann kann man sie nicht missachten. Propheten sind, kurz gesagt, Menschen, denen Klartext zugemutet wird. Das tut ihnen durchaus nicht „gut“: Die großen Propheten Jeremia, Hesekiel, Jona, Micha, Elia, Johannes führen ein Leben an der Grenze des Erträglichen, wie am Ende auch Jesus. Mit wieviel Klarheit können wir eigentlich leben? Die Geschichte vom Baum der Erkenntnis — kann denn Unwissen am Ende auch Gnade sein? 

Ich wünsche uns eine gute Woche, mit Wissen und Unwissen an den rechten Stellen,
Ulf von Kalckreuth

Bibelvers der Woche 17/2019

Mache dir zwei Drommeten von getriebenem Silber, dass du sie brauchst, die Gemeinde zu berufen und wenn das Heer aufbrechen soll.
Num 10,2

Hier ist ein  Link für den Kontext des Verses, zur Lutherbibel 2017.

Clarion call

Das Volk Israel zieht in der Wüste umher. Die Stiftshütte war gebaut, das Pessachfest war eingesetzt und die Israeliten hatten sich vollständig der Führung Gottes anvertraut: Sie blieben lagern, solange die Wolke über der Stiftshütte stand und brachen ihr Lager ab, wenn die Wolke über der Stiftshütte sich erhob, und folgten ihr.

Ein Bild wie aus einem Traum. An einigen Stellen sind Berichte erhalten geblieben, die ein wenig Licht auf dieses Leben in der Wüste werfen. Die Einsetzung von Richtern durch Mose in Ex 18 zum Beispiel. Oder sanitäre Vorschriften, den Umgang mit Fäkalien betreffend in Dtn 23. Oder hier: die Einführung von Signaltrompeten und Vereinbarung über Signale.

Wo viele Menschen zusammenleben, bedarf es der Koordination. Die Trompeten dienten dem Zweck, den Aufbruch zu organisieren. Mit unterschiedlichen Signalen wurde den Lagern im Osten und im Süden der Aufbruch befohlen. Es gab auch Signale für eine Versammlung. Die Trompeten wurden im Krieg eingesetzt, damit der Herr der Israeliten gedenke, und als Freudenzeichen bei den Opferfesten. Nur die Priester, die Söhne Aarons, durften sie blasen. Das Brockhaus-Bibellexikon beschreibt die hebräische Trompete als „gerades Metallinstrument mit schlanker Röhre, wohl eine Elle lang, und ohne Ventile“. Eine Fanfare also. Man kann man laute und prägnante Signaltöne damit erzeugen, ich kenne Fanfaren von den Umzügen beim Heimatfest meiner Stadt. Der Bericht über die Trompeten ruft in mir eine lebendige Vorstellung auf. Wieviel Menschen kann man damit erreichen? Den Radius, auf dem das Signal gut und differenziert hörbar ist, würde ich im Gelände auf ein bis anderthalb Kilometer schätzen, darüber hinaus wird es schwierig. In locker verteilten Lagern lassen sich in diesem Radius zehn bis zwanzigtausend Menschen unterbringen. Beinahe kann ich diese Lager vor mir sehen. 

Nun wird die Größe des Volks in der Wüste verschiedentlich mit rund 600.000 wehrfähigen Männern angegeben. Nach der ersten Volkszählung in Numeri waren es 603.550 Männer über zwanzig Jahren, die mit dem Heer hinausziehen konnten, ohne Leviten. Mit Frauen, Kindern und Greisen wären es mehr als dreimal so viel, dazu Vieh (2Mo 12,38). Bei lockerer Lagerung nach Stämmen und Sippen dürfte die Fläche der Stadt Frankfurt (rund 700.000 Einwohner) sicherlich nicht genügen. Es ist nicht möglich, den Zug so vieler Menschen mit zwei Fanfaren zu koordinieren, realistisch wären dann ein Netz von Fanfaren oder Signalfeuer. Salomon vergrößert die Zahl der Trompeten auf 120 (2Chr 5,12), für Jerusalem allein.

Das ist ein Hinweis, dass die Berichte aus Israels Vorzeit, insbesondere ihre scheinbar präzisen numerischen Angaben, nicht allzu konkret gelesen werden sollten. Den Berichten kommt (auch) eine spirituelle Dimension zu. Hier ist sie nicht schwer zu sehen. Das Wort „clarion call“ im Englischen bedeutet Weckruf, eine „sehr klare Botschaft, dass ein Wandel nötig ist“ (Cambridge Dict.) Das Wort Gottes ist ein solcher Weckruf. Zwei silberne Trompeten, zu blasen beim Auszug, vor Versammlungen, beim Opferfest und im Krieg. Ein schönes Bild. Und wie sollten wir dabei heute nicht an Ostern denken, Signalfeuer für eine neue Welt?

Frohe, gesegnete Ostern wünscht uns
Ulf von Kalckreuth

Bibelvers der Woche 16/2019

…und meine Nieren sind froh, wenn deine Lippen reden, was recht ist.
Spr 23,16

Hier ist ein Link für den Kontext des Verses, zur Lutherbibel 2017.

Sprechhandlungen

Das Buch der Sprüche gehört zur Weisheitsliteratur, ebenso wie der Prediger (Kohelet), das Hohelied, Hiob und manche Psalmen. Es enthält Erfahrungssätze für gelingendes Leben. Dabei geht es davon aus, dass solche Grundsätze ihre Belohnung in sich selbst tragen: sie fördern das Glück und wehren dem Schaden, individuell wie kollektiv, weil ihre Befolgung das Leben verbessert, nicht in erster Linie, weil ein strafender Gott dahinter steht.

Das ist wichtig für unseren Vers. Wir sollen nicht reden was recht ist, weil es sich so gehört und Gott es von uns verlangt, sondern weil es das Beste für uns ist. Der ganze Satz lautet: 

Mein Sohn, wenn dein Herz weise ist, so freut sich auch mein Herz; und meine Nieren sind froh, wenn deine Lippen reden, was recht ist. 

Sprecherin ist die Weisheit, als Person. In Kapitel 8 sehen wir sie als Schöpfungsmittlerin, sie spielt zu den Füßen Gottes. Die Nieren galten den Hebräern als der Sitz von Empfindungen und Emotionen, nicht der Seele übrigens (die Übersetzung von 2017 will Reibung vermeiden und ist ungenau!) Rechtes Reden ist für die personifizierte Weisheit also von essentieller, quasi körperlicher Bedeutung. Die Forderung ist, anders als viele andere in Kap. 23, weder selbstevident noch wird sie begründet. Warum ist es für uns gut „zu reden, was recht ist“? 

Im modernen Deutsch gibt es das Wort „Lippenbekenntnis“. Unterstellt wird dabei ein Auseinanderklaffen von Wort und Handlung. Aber Worte sind selbst Handlungen. Die Linguistik kennt den Begriff der Sprechhandlung: in der Tat „tun“ wir das meiste mit Worten. In der hebräischen Kultur war dies eine sehr grundlegende Vorstellung: Gott schafft die physische Welt mit Worten, und sein Wort, die Torah, konstituiert die geistige Welt. Wie Gott sind wir fähig, mit Worten Wirklichkeit zu schaffen: Durch Benennen, durch Segen und Fluch, durch Lob und Klage, Argumente, Gebet, Urteil, Preis, Verachtung und Zynismus erschaffen wir die Welt um uns herum. Und wenn in den Psalmen immer wieder ausführlich die bösen Taten der Feinde beschrieben und beklagt werden, so geht es dort zuallermeist um Reden: abwertendes, lügnerisches, betrügerisches, verleumderisches, meineidiges Reden. Vielleicht deshalb ist die Forderung nicht begründet — für den zeitgenössischen Leser war sie selbstevident!

Unsere Rede schafft unsere Haltung, und unsere Haltung schafft — langfristig, über die Jahre und vielleicht erst über die Generationen — unsere Welt.

Ich wünsche uns eine Woche, in der es uns gelingt, zu reden, was recht ist.
Ulf von Kalckreuth

P.S. Hier ist eine Website, die Verse aus dem Buch der Sprüche per Zufallsgenerator zieht. Das ist natürlich kein Ersatz für den Bibelvers der Woche…!

Bibelvers der Woche 15/2019

… wenngleich über ihm klingt der Köcher und glänzen beide, Spieß und Lanze.
Hiob 39,23

Hier ist ein Link zum Kontext in der Lutherbibel 2017.

Momente mit Gott im Grenzbereich

Weiterhin Passionszeit… ein Vers aus Hiob. Diesmal nicht aus dem Teil, in dem Hiob klagt und fragt, sondern aus Gottes Antwort aus dem Sturm. Zum Buch und seiner existentiellen Frage siehe den Text zum BdW 19/2018

Am Mittwoch sprach ich mit meiner Hebräisch-Lehrerin über den Text eines Lieds von Hanan Ben Ari. Hier ist ein Youtube-Link zu „Mah ata rozeh mimeni? — Was willst Du von mir? Die Schlüsselzeilen lauten: 

Genug geschwiegen. Jetzt sprich:
Was willst Du von mir? Was? Was?
Wer hat Dich gebeten, mir eine Seele zuzuwerfen?
Warum kommst Du nicht zur Mittagszeit? 
Halt mich fest. Sieh mir in die Augen.

Meine Tochter Mathilde hörte das Lied und wollte wissen, was der Text bedeutet. Ich übersetzte ein wenig und sagte, dass der Mann wohl mit Gott redet. Sie meinte, so dürfe man doch mit Gott nicht sprechen. Aber so ähnlich fragen Hiob, Jeremiah und manche der Psalmisten, und am Ende seines Lebens auch Jesus. 

Gottes Antwort aus dem Sturm: Vordergründig geht es um Gottes inkommensurable Macht und seinen über aller Vernunft stehenden Ratschluss, die es unsinnig machen, Rechte einzuklagen. Dahinter handelt der Text aber auch davon, wann und wo man Gott begegnet. 

Zum Beispiel zur Mittagszeit! Die Umgebung unseres Verses liest sich wie folgt: 

Kannst du dem Ross Kräfte geben oder seinen Hals zieren mit einer Mähne? Kannst du es springen lassen wie die Heuschrecken? Schrecklich ist sein prächtiges Schnauben. Es stampft auf den Boden und freut sich, mit Kraft zieht es aus, den Geharnischten entgegen. Es spottet der Furcht und erschrickt nicht und flieht nicht vor dem Schwert. Über ihm klirrt der Köcher und glänzen Spieß und Lanze. Mit Donnern und Tosen fliegt es über die Erde dahin und lässt sich nicht halten beim Schall der Trompete. Sooft die Trompete erklingt, wiehert es »Hui!« und wittert den Kampf von ferne, das Rufen der Fürsten und Kriegsgeschrei.

Ein Pferd, das mit seinem Reiter mit voller Kraft und gänzlich angstfrei auf die gegnerische Schlachtreihe zustürmt — in der gleißenden Mittagssonne blitzen die Waffen und die Welt ist angefüllt von unglaublichen Tönen: donnernde Hufe, Trompeten, überall Rufe und Kriegsgeschrei. Ein Kavallerieangriff, Sekunden vor dem blutigen Zusammenprall. Die Bewegung wird zur Zeitlupe, dann zum „Still“. Da also ist Gott. 

Politisch höchst inkorrekt natürlich. Ich ging mit dem Lied von Ben Ari im Kopf auf meinen Arbeitsplatz zu, in einem Frankfurter Büroturm. Noch ein paar Meter. Ja, warum zeigst du dich nicht, wo bist du? Und auf einmal war da das Morgenlicht, der Aprilhimmel, ich spürte den kühlen Wind, sah die vielfältige Bewegung auf der Straße, die Menschen, die Autos um mich her. Da also! Die Welt als Interface. Der Vers aus Hiob fiel mir ein, ich verstand ihn auf einmal und spürte den Donner der Schlacht und das unaufhaltsame Stürmen des Pferdes unter mir. So betrat ich die vollsynthetische Welt des Frankfurter Trianon, die keine Außenluft kennt. Was für ein Absturz! Und ich wusste, dass das Bild richtig ist, auch wenn ich’s nicht erklären kann.

Momente mit Gott im Grenzbereich. Wollen wir sie eigentlich? Was wollen wir?
Ulf von Kalckreuth

PS: Die erste Antwort Gottes aus dem Sturm (ab Kap 38!) ist von ungeheurer poetischer Kraft. Ich habe erlebt, wie ein Prediger sie einfach nur vorgelesen hat. 

Bibelvers der Woche 14/2019

Wie dürft ihr sagen: Wir sind die Helden und die rechten Kriegsleute?
Jer 48,14

Hier ist ein Link für den Kontext des Verses, zur Lutherbibel 2017.

Vom Umgang mit Unglück — anderer und eigenem

Passionszeit — und wieder Jeremia, wie vor zwei Wochen. Der neue Vers ist aus der Weissagung des Propheten gegen Moab. Aus demselben Abschnitt hatten wir im vergangenen Jahr in der Woche 44/2018 einen anderen Vers gezogen. Die Textumgebung habe ich damals ausführlich beschrieben.

Jeremia steht unter enormem Druck, gleich doppelt. Juda ist dem Untergang geweiht. Der König hat sich verspekuliert — er hatte sich mit Ägypten verbündet, um sich der Oberhoheit der Babylonier zu entledigen, aber sein Bündnispartner erwies sich gegen Nebukadnezar als militärisch schwach. Nach der katastrophalen Schlacht von Karkemisch muss Ägypten sich weiträumig zurückziehen. Jeremia erkennt die Zeichen der Zeit nicht nur früh, er benennt sie auch sehr laut und sehr deutlich. Viel zu deutlich für die Herrschaft im immer weiter schrumpfenden, bald auf die Hauptstadt reduzierten Juda. Wie im eingeschlossenen Berlin muß das Leben in der Stadt sich angefühlt haben. Auf Jerusalem lastet der malmende Druck Nebukadnezars, auf Jeremia außerdem der Druck der verzweifelnden Führung. 

Jeremia sieht, dass auch Moab, Nachbar und Gegner des jüdischen Königreichs, dem Untergang der alten Ordnung anheimfallen wird. Das könnte etwas Entlastendes haben. Für ihn selbst, wie auch im seinem Verhältnis zur Umgebung, die ihm vorwirft, mit seinen Prophezeiungen das Unglück noch zu befördern, siehe den Text zum Vers der Woche 11/2019. Eine Prophezeiung gegen Moab wäre eine großartige Gelegenheit, die Solidarität mit dem eigenen Volk zur Schau zu stellen. 

Aber Jeremia lässt die Gelegenheit verstreichen und verzichtet auf jeden Triumph. Wie im Fall Judas sieht er den herannahenden Untergang Moabs als Folge von Sünde, von Verstrickung. Der Herr greift ein, um Seine Ordnung wieder herzustellen. Jeremia ist in anrührender Weise einfühlend, er leidet die Qualen des Feindvolks in einer Weise mit, dass sein Text expressionistisch-lyrische Qualitäten bekommt. Für einen antiken Schreiber unerhört. 

In Ergänzung zum Vers der vergangenen Woche kann man hier also darüber nachdenken, wie man sich zum Unglück anderer stellen möchte, derjenigen, die in ihren Verstrickungen unterzugehen drohen. In weiten Teilen der Bibel, insbesondere der Psalmen, ist die Antwort einfach: wenn es den Sündigen schlecht ergeht, wird die Welt besser. Das ist nicht nur psychisch entlastend. Die Wertung erklärt sich solidarisch mit dem strafenden Herrn des Himmels und der Erde, und was kann daran falsch sein? Jeremia stellt sich mit seiner Trauer nicht nur gegen das Sentiment seiner Umwelt, oberflächlich hat sie gar etwas Subversives im Verhältnis zu Gott. 

Aber Jeremia hat recht! Gott braucht unsere Solidarität in der Strafe nicht. Ganz und gar nicht. Jesus erklärt uns, dass wir nach dem Maß gemessen werden, mit dem wir andere messen. 

Der gezogene Vers selbst spricht eine sonderbare Warnung aus. Der in Frage gestellte Satz „Wir sind die Helden und die rechten Kriegsleute!“ wirkt eigentlich nicht besonders hochmütig oder verblendet. Selbstvertrauen ist für Soldaten ja nicht nur eine Tugend, sie ist notwendige Voraussetzung. Kämpfer müssen so zu sich sprechen, um kämpfen zu können — man stelle sich kurz vor, Soldaten würden sich vor der Schlacht das Gegenteil sagen. Es scheint, als hielte Jeremiah eben dies für verfehlt oder wenigstens für sinnlos — im Angesicht der unabwendbaren Katastrophe hat rituelles Aufpumpen keine positiven Wirkungen mehr. Es verstellt vielmehr den Blick auf die Wirklichkeit und kann dazu führen, dass die letzten Ressourcen auf sinnlosen Kampf gerichtet werden statt aufs Überleben. Im Vers geht es also um den Umgang mit eigenem Unglück: vor dem Unausweichlichen müssen wir die konventionelle, auf Vermeidung gerichtete Sicht aufzugeben und die Dinge so zu sehen, wie sie sind — das ist notwendige Bedingung für jedes sinnvolle Weiterleben. 

Schaut man noch genauer hin, so wird aus dem Textzusammenhang nicht klar, ob sich das „ihr“ wirklich an die imaginären moabitischen Truppen richtet oder nicht doch an die realen Zuhörer und Betrachter im eigenen Reich, das sich ja in derselben verzweifelten Lage befindet. Die Unbestimmtheit könnte volle Absicht sein. Liest man den Vers als an die eigene Adresse gerichtet, erschließt sich eine völlig neue Dimension — der Vers und der Abschnitt wären dann auch subversiv mit Hinblick auf die Führung von Juda, wehrkraftzersetzend gar. Wie eigentlich hat Jeremia das Verfassen derartiger Texte überlebt? 

Ich wünsche uns eine Woche, in der wir Zeichen der Zeit richtig sehen und klar benennen können.
Ulf von Kalckreuth

Bibelvers der Woche 13/2019

Denn deine Pfeile stecken in mir, und deine Hand drückt mich.
Ps 38,3

Hier ist ein Link für den Kontext des Verses, zur Lutherbibel 2017.

Zerfall… und Wiederaufbau

Der dritte Bußpsalm. Nicht das, worüber man sich zu Beginn einer neuen Woche freut. Der Betende ist körperlich und seelisch am Ende. Krankheit drückt ihn nieder, der Psalm findet krasse Worte für den Zustand der fortschreitenden Auflösung, in dem Körper und Geist sich befinden. Der Zerfall findet seine Entsprechung im sozialen Bereich: Freunde und Verwandte ziehen sich zurück und die feindlich gesinnten Kräfte werden übermächtig. Der Betende sieht dies als Strafe Gottes für seine Sünden. Das ist die Saite, die der gezogene Vers anschlägt. Er steht an zweiter Stelle im Psalm, der Eingangsvers lautet: „Herr strafe mich nicht in meinem Zorn und züchtige mich nicht in deinem Grimm!“ Der Betende bekennt seine Sünden und bittet um Verschonung.  

Ein Thema, das sich durch die ganze Bibel zieht: unser Unglück kann Strafe Gottes sein, der Ausfluß unserer Verfehlungen. So formuliert klingt es „alttestamentarisch“, und mit Absicht lasse ich den negativen Beiklang mitschwingen: da ist jemand, der keine Sünde ungestraft lässt, bis ins dritte und vierte Glied (2. Mose 34,7).

Hier liegt, Zeitgeist und Beiklang zum Trotz, aber eine tiefe Wahrheit. Sind nicht unser Verhalten und unsere Verfasstheit letztlich eins? Kann denn aus einer kranken inneren Verfasstheit gesundes Verhalten erwachsen, und korrumpieren nicht umgekehrt unsere Verfehlungen die Seele? Mit der mitmenschlichen Umgebung wird ein Dreieck daraus: in einer Umwelt voll Hass und Streit kann nur ein Heiliger friedlich und innerlich gelassen bleiben, und andererseits kehren die Ergebnisse unserer Dysbalancen über die Umwelt schnell zu uns selbst zurück. Das eine bedingt das andere. Krankheit führt zu Verfehlung, Verfehlung zu Krankheit, und beides wird von unserer Umwelt aufgenommen, verstärkt und zurückgegeben. Die Punkte des Dreiecks stützen sich gegenseitig. Eine psychophysische Armutsfalle. Wir machen unsere Hölle und unsere Hölle macht uns. Und dies vielleicht wirklich bis ins dritte und vierte Glied.

Wie kann man aus einer solchen Lage herauskommen? Es geht nicht ohne einen Angelpunkt außerhalb dieses Systems von Rückkopplungen. Wir brauchen Gott. Als „Deus ex Machina“ im Wortsinne, der außerhalb und oberhalb unserer Mechanismen steht. Der uns helfen kann, „trotz allem“ unser Verhalten zu ändern, wenigstens an einigen Stellen, der uns in unserer Umgebung Atemluft schenken kann, der uns zusätzliche Kraft dort verleiht, wo eigentlich alle Reserven aufgebraucht sind. Und dann kann die positive Rückkopplung auch andersherum laufen. Bis am Ende vielleicht eine ausgewogene körperliche und seelische Verfasstheit ein großzügiges und gemeinschaftsorientiertes Verhalten stützt und beides bei den Mitmenschen Ansehen und Wertschätzung bewirkt und Liebe ermöglicht. Aber am Anfang steht das Eingeständnis: der eigenen Korruption, der verzweifelten äußeren Lage, des geistigen und körperlichen Verfalls. Und dann die Bitte. Der Psalm schließt mit den Worten: 

Verlass mich nicht, HERR, mein Gott, sei nicht ferne von mir!
Eile, mir beizustehen, Herr, meine Hilfe!

So sei es für uns in dieser Woche. 
Ulf von Kalckreuth

Bibelvers der Woche 12/2019

Und man setzte sie ihm gegenüber, den Erstgeborenen nach seiner Erstgeburt und den Jüngsten nach seiner Jugend. Des verwunderten sie sich untereinander.
Gen 43,33

Hier ist ein Link für den Kontext des Verses, zur Lutherbibel 2017.

Unverfügbar

Im September des vergangenen Jahrs hatten wir in Woche 36 einen Vers aus der Josephsgeschichte gezogen. Josephs Verwalter durchsucht das Gepäck der Brüder, bis er zuletzt den „gestohlenen“ Becher bei Benjamin findet. Zutiefst entehrt müssen die Brüder dem Verwalter folgen, als Gefangene. Die Betrachtung dazu enthält eine Einführung in die Josefsgeschichte.

Der jetzt gezogene Vers aus Genesis ist kurz vorher zu finden. Auf ihrer zweiten Fahrt nach Ägypten werden die elf Brüder an den Tisch Josephs mit den ägyptischen Würdenträgern geladen. Trennung und Machtgefälle werden deutlich. Joseph, die Ägypter und die Brüder erhalten je eigene Speisen, denn die Ägypter essen nicht mit den Hebräern, und Joseph als Vizekönig hat gesellschaftlich keine Gemeinsamkeit mit den Bittstellern aus Palästina. Aber Joseph tut etwas, das alle Anwesenden verblüfft. Den Ehrenplatz ihm gegenüber vergibt er doppelt: an den ältesten und den jüngsten der Söhne, Ruben und Benjamin. Ruben ist erstgeborener Sohn und Haupt der Sippe in Abwesenheit des Vaters. Benjamin ist der zweite Sohn von Rachel, er hat also als einziger nicht nur denselben Vater wie Joseph, sondern auch dieselbe Mutter. Und Joseph lässt den Brüdern von seinem Essen geben, Benjamin aber fünfmal mehr als den anderen. Mit der doppelten Besetzung des Ehrenplatzes achtet Joseph formal das Erstgeburtsrecht Rubens, gibt aber gleichzeitig seinen Präferenzen Raum.  

Dem Erstgeburtsrecht kommt in der Kultur der Hebräer ein geradezu verfassungsmäßiger Rang zu. Der Erstgeborene erhält den doppelten Erbteil und auf ihm ruht ein besonderer Segen. Er gehört Gott dem Herrn selbst und mußte durch ein besonderes Opfer ausgelöst werden — hier werden archaische Abgründe sichtbar. Die Erstgeburt berechtigt zur Priesterschaft und zur Stellvertretung des Vaters, solange Geschwister zusammenleben. Einfache Regeln haben eine wichtige friedensstiftende Funktion. Für das Recht der ersten Geburt gilt dies in besonderer Weise. Die Erbfolgekriege der Geschichte zeigen, was geschieht, wenn die einfachen Regeln versagen.

Die Regel wird jedoch in den Vätergeschichten immer wieder durchbrochen. In Kap. 49, am Ende der Josephgeschichte, benennt Jakob auf dem Totenbett das Erstgeburtsrecht Rubens ausdrücklich: „Ruben, mein erster Sohn bist du, meine Kraft und der Erstling meiner Stärke, der Oberste in der Würde und der Oberste in der Macht“. Das ist fast wie eine Definition. Im nächsten Atemzug aber entzieht er Ruben ebendieses Recht: „Du sollst nicht der Oberste bleiben, denn du bist auf deines Vaters Lager gestiegen, daselbst hast du das Bett entweiht, das du bestiegst.“Jakob gibt das Erstgeburtsrecht an Joseph, den er mit seinen Söhnen Ephraim und Manasse doppelt erben lässt. Was Jakob tut, ist nur wegen einer schweren sittlichen Verfehlung möglich, grundsätzlich war es nach hebräischem Recht ausdrücklich verboten. 5. Mose 21,15-17 bestimmt, dass ein Vater, der einen Erstgeborenen von einer ungeliebten Frau hat, auf keinen Fall das Recht der Erstgeburt an ein Kind der von ihm geliebten Frau weitergeben darf. Vielleicht bereitet der gezogene Vers mit dem geteilten Ehrenplatz den Entzug von Rubens Erstgeburtsrechts symbolisch vor. 

Mehr solche Brüche gibt es noch. Jakob selbst hat das Erstgeburtsrecht Esaus betrügerisch an sich gebracht. Und für die Folgegeneration zieht er seinen Enkel Ephraim dem erstgeborenen Manasse vor, an Joseph vorbei, gegen dessen Einspruch gar. In der Generation vorher wurden Ismael und seine Mutter Hagar von Abraham und Sarah in die Wüste gejagt. Das Motiv blitzt schon bei Kain und Abel auf: Eigentlich hätte nur Kain das Opfer vollziehen dürfen — den drohenden Verlust seines Erstgeburtsrechts verhindert er auf seine eigene Weise. Auf der Geschichte der Erwählung lastet eine rätselhafte, geradezu unheimliche Spannung, wie zwischen Kontinentalsockeln: ein wirkmächtiges und immer wieder bekräftigtes Prinzip wird immer wieder durchbrochen, in einem Kontext von Gewalt, Schande und Betrug.

Man kann versuchen, in dieser Dialektik von Regel und Verstoß einen in den ältesten Geschichten fortdauernden Rest einer archaischen Ultimogenitur zu finden. Dafür scheint es jedoch keine Belege zu geben. Richtiger ist es vielleicht, in der Bevorzugung der Jüngeren eine ausdrückliche Hervorhebung des Ausnahmecharakters zu sehen. Die Regel und ihre normative Kraft wird genutzt, um das Außergewöhnliche des Vorgangs besonders hervorzuheben. Es mag zwar das Erbe und sogar der väterliche Segen einer einfachen und akzeptierten Regel folgen —für Gott, für Seine Erwählung und für Seine Wege gilt dies aber gerade nicht. Hier gibt es keine Regel, auch nicht die Ultimogenitur, nur Sein Wille; hier gibt es nur Ausnahmen.  

Wie mögen Ruben und Benjamin sich gefühlt haben, als sie unvermittelt nebeneinandersaßen, dem fremden Herrscher gegenüber? Wie kamen sie mit den Extraportionen zurecht, die dem Jüngsten vor den Augen seiner Brüder aufgetischt bekam? Der Herr verleihe uns Abstand in dieser Woche, von uns selbst und von unseren Wertungen.
Ulf von Kalckreuth  

Bibelvers der Woche 11/2019

So bessert nun euer Wesen und Wandel und gehorcht der Stimme des HErrn, eures Gottes, so wird den HErrn auch gereuen das Übel, das er wider euch geredet hat.
Jer 26,13

Hier ist ein Link für den Kontext des Verses, zur Lutherbibel 2017.

Ein Prophet bei der Arbeit

Der Spruch dieser Woche wirkt unauffällig, beinahe langweilig — es ist ja genau das, was „man“ von der Bibel erwartet: Wir mögen uns bessern, damit uns kein Übel widerfahre. 

Spannend, beinahe unerhört, wird der Ausspruch durch den Kontext. Der Sprecher, Jeremia,  ist nämlich des Hochverrats angeklagt: es wird ihm zur Last gelegt, dass er gegen die Stadt geweissagt habe. Er soll sterben. Jeremia antwortet, die Kläger mögen ihr Wesen und Wandel bessern (das ist der gezogene Vers) und im Übrigen mit ihm verfahren, wie ihnen beliebe. Sie sollten dabei aber wissen, dass der HErr es ganz sicher nicht ungestraft ließe, wenn sie ihn töteten, nur weil er den Auftrag des HErrn erfüllt habe. Das war als Argument schwer von der Hand zu weisen. Keiner nämlich hatte Jeremia beschuldigt, sich seine Berufung nur ausgedacht zu haben.

Warum eigentlich nicht? Warum ist das Argument so stark? Ist es denn nicht erstrebenswert, im Namen des HErrn zu sprechen und dabei jedermanns Ohr offen zu finden? Kann die Aussicht auf eine solche herausgehobene Position nicht die innere Bereitschaft stark fördern? 

Wohl kaum. Für die Propheten des AT gibt es meist eine Berufungserzählung, und sie ist oft traumatisch und führt die Berufenen an den Rand ihrer geistigen Gesundheit. Von denjenigen, die über diesen Rand hinausgelangt sind, wissen wir nichts mehr. Fast alle versuchen händeringend, die Berufung abzuwehren. Diese Berufung ist das Ende des Lebens, das sie kennen, mit Familien, mit Freunden — als Propheten müssen sie die Folgen tragen, wenn sie anderen Menschen, sehr mächtigen darunter, Wahrheiten ins Gesicht sagten, um welche diese nicht gebeten haben. Die Klagepsalmen in Jer 11-20 sind sprechend. Jeremia war ein im Wesen zaghafter und zurückhaltender Mann, man nennt ihn den „weinenden Prophet“. Sein Dienst in der Zeit des Zusammenbruchs von Juda führte ihn mehrfach in Todesgefahr und brachte ihn schließlich gar in einer mit Schlamm gefüllten Zisterne im Hof des Königs. 

Aber für diesmal kommt er davon. Es gibt Anwesende, die sich an Micha erinnerten, den König Hiskia in einer vergleichbaren Situation nicht tötete. Der HErr hatte dies seinerzeit zum Anlass genommen, seinen Zorn zu dämpfen. Berichtet wird andererseits auch das Schicksal des Propheten Uria, den König Jojakim bis in das (verbündete) Ägypten hinein verfolgte. Ägypten lieferte ihn aus und der König ließ den Mann mit den unangenehmen Wahrheiten hinrichten. 

Jeder wusste, wie es den Propheten gehen kann. Das machte sie glaubhaft und deshalb für die Autoritäten auch bedrohlich. Kurz gesagt: sie waren gefährlich, weil sie gefährlich lebten. Wie würden wir mit einer solchen Berufung umgehen? Wer nimmt das auf sich? Gibt es darum keine Propheten mehr?

In der Tat: Möge es uns in dieser Woche gelingen, unser Wesen und Wandel ein wenig zu bessern. Und mit unseren Berufungen verantwortlich umzugehen. Was immer diese auch seien, so viele davon gibt es nicht. 
Ulf von Kalckreuth