Bibelvers der Woche 44/2020

Stein zerstreuen und Steine sammeln, herzen und ferne sein von Herzen,…
Pred 3,5

Hier ist ein Link für den Kontext des Verses, zur Lutherbibel 2017.

Alles hat seine Zeit

Ein Vers, wie er aktueller nicht sein könnte. Kohelet, der Prediger, ist populär auch jenseits von Kirchengemeinden und Synagogen, vielleicht sogar in erster Linie dort, und seine Popularität konzentriert sich auf den Abschnitt im dritten Kapitel, aus dem wir gezogen haben. Hier ist Prediger 3,1-8; ich wähle die Übersetzung von Schlachter, die genauer ist als die von Luther: 

Alles hat seine bestimmte Stunde, und jedes Vorhaben unter dem Himmel hat seine Zeit:
Geborenwerden hat seine Zeit, und Sterben hat seine Zeit; 
Pflanzen hat seine Zeit, und das Gepflanzte ausreißen hat seine Zeit;
Töten hat seine Zeit, und Heilen hat seine Zeit; 
Zerstören hat seine Zeit, und Bauen hat seine Zeit;
Weinen hat seine Zeit, und Lachen hat seine Zeit; 
Klagen hat seine Zeit, und Tanzen hat seine Zeit;
Steineschleudern hat seine Zeit, und Steinesammeln hat seine Zeit; 
Umarmen hat seine Zeit, und sich der Umarmung enthalten hat auch seine Zeit;
Suchen hat seine Zeit, und Verlieren hat seine Zeit; 
Aufbewahren hat seine Zeit, und Wegwerfen hat seine Zeit;
Zerreißen hat seine Zeit, und Flicken hat seine Zeit; 
Schweigen hat seine Zeit, und Reden hat seine Zeit;
Lieben hat seine Zeit, und Hassen hat seine Zeit; 
Krieg hat seine Zeit, und Frieden hat seine Zeit.

Schauen Sie sich unseren Vers 5 an. Ganz wörtlich übersetzt lautet er: Zeit, Steine zu werfen und Zeit, Steine zu sammeln. Zeit, zu umarmen und Zeit, der Umarmung fernzubleiben. In der Tat!

Die Verse von Kohelet 3 bringen in vielen Menschen eine Saite zum Schwingen. Ich habe Ihnen einige Links zusammengestellt. Sehr bekannt ist die wörtliche Vertonung des Texts durch die Byrds, in Turn, turn, turn. Auch von den Puhdies aus der DDR gibt es ein Lied mit Worten aus Kohelet 3, das mich sehr anspricht: Wenn ein Mensch lebt. U2 haben Anfang der neunziger Jahre gemeinsam mit Luciano Pavarotti ein Video über eine Schönheitskönigin im eingeschlossenen Sarajewo geschaffen, mit Worten aus Kohelet 3, Miss Sarajewo. Statt den Triumph ihres Sieges auszukosten, entrollt sie vor laufenden Kameras ein Banner mit den Worten „Don’t let them kill us all“. Kohelet 3 steht als Name für ein spannendes Trio von Instrumentalisten zwischen Klezmer und Jazz… Und der Text von „Dust in the Wind“ von Kansas ist zwar aus Kapitel 1, aber schööön — Kuschelrock aus den Siebzigern.

Der Philosoph wollte aber durchaus keinen Kuschelrock vertexten, er hat eine Aussage. Im Orient glaubte man, dass die Dinge „ihre Zeit“, „ihre Stunde“ haben. Ob ein Vorhaben in Liebe, Krieg oder Wettkampf gelingt, hängt davon ab, ob die Umstände günstig sind. Das Zusammentreffen von Umständen im Bedingungskranz einer Entwicklung nannte man „Konjunktur“. Allgemein wurde geglaubt, dass es möglich sei, die Konjunktur zu enträtseln, etwa durch Beobachtung der Sterne oder Lesen aus den Eingeweiden von Opfertieren. Das Schicksal der Menschen lief synchron mit den Ereignissen in der Natur, und wer das eine zu lesen verstand, wusste auch das andere. 

Der Prediger hält das für Unfug — Haschen nach Wind. Die Konjunktur der Lebensdinge gibt es zwar, alles hat seine Zeit, ebenso wie sein Gegenteil, aber sie liegt beim Schöpfer verborgen, und niemand versteht’s, weil Gott sich nicht äußert. Der Philosoph rät dazu, sich nicht zu verkämpfen, denn letztlich sei das Streben aussichtslos oder nur durch Zufall erfolgreich. Statt dessen solle man das Leben zu genießen, und zwar hier und jetzt, in der Jugend. Das Alter beschreibt Kohelet als Geisterbahnfahrt in ein amorphes Totenreich. Wirklich kein Kuschelrock.

In den Worten Kohelets gibt es aber auch eine Mikroperspektive. Er zählt Gegensatzpaare auf. Stets hat beides seinen Platz im Leben, und manches ist nicht ohne sein Gegenteil denkbar. Eine Dynamik aus gegenseitiger Bedingtheit wird spürbar, aus Lieben und Hassen, Geborenwerden und Sterben. Alles trägt als Keim sein Gegenteil in sich und bringt ihn zum Wachsen, so verkehren die Dinge sich in ihr Gegenteil und wieder zurück. Wenn wir wieder in den Lockdown abtauchen müssen, hat dies durchaus mit zu großer körperlicher Nähe zu tun. Und wenn wir der Umarmung fernbleiben, ist vielleicht bald wieder mehr solcher Nähe möglich…. Fast möchte man mit Marx und Hegel meinen, dass es genügen könnte, diese Dynamik zu verstehen, um der Konjunktur der Dinge am Ende doch näher zu kommen.

Kohelet, der Prediger, spricht nicht viel von Gott. Was er sagt, ist indirekt. Gott ist der große Verursacher, der sich nicht in die Karten blicken lässt und mit allem auch sein Gegenteil enthält. Dunkel und abgründig. Das müssen wir aushalten. 

Ja, es ist dies eine Zeit, der Umarmung fernzubleiben, und eine Zeit Steine zu sammeln. Aber die Zeit für Nähe gibt es auch, und in beiden Zeiten können wir mit Gottes Hilfe glücklich sein. Ich wünsche uns eine gesegnete Woche, 
Ulf von Kalckreuth

Bibelvers der Woche 43/2020

Dies sind die Könige des Landes, die Josua schlug und die Kinder Israel, diesseit des Jordans gegen Abend, von Baal-Gad an auf der Ebene beim Berge Libanon bis an das kahle Gebirge, das aufsteigt gen Seir (und Josua gab das Land den Stämmen Israels einzunehmen, einem jeglichen sein Teil,…
Jos 12,7

Hier ist ein Link für den Kontext des Verses, zur Lutherbibel 1984.

Einunddreißig Könige

Das ist ein sehr langer Vers, und der Satz ist noch nicht einmal vollständig. Er erstreckt er sich über fast den ganzen Rest des zwölften Kapitels. Zwei Dinge laufen hier zusammen. Zum einen leitet der Vers eine Art Lebensbilanz Josuas ein: es folgt nämlich eine Liste von nicht weniger als einunddreißig Königen, die Josua im Rahmen der Landnahme für das Volk Israel besiegt hat, beginnend mit dem Kampf um Jericho. Die Liste ist eine Art Inhaltsverzeichnis für das Buch Josua bis Kap. 12. Zum anderen wird im Vers vorweggenommen, was im 13. Kapitel folgt: Josua verteilt nämlich das gewonnene Land an die Stämme der Israeliten. 

Die Bilanz ist beindruckend. Einunddreißig Könige!  Ich habe vor kurzem einen Spiritual wiedergefunden, den ich als Kind im Chor gesungen habe: Little David, play on yo‘ harp — hier ist ein Link zur Version von Kenneth Spencer. Die zweite Strophe lautet:

Oh Josua was the son of Nun,
He never would stop till his work was done!

Aber eigentlich stimmt das gar nicht. Am Ende der Eroberungen ist die Arbeit nicht getan. Kap. 13 beginnt damit, dass Gott aufzählt, was noch alles einzunehmen bleibt; die Liste ist ebenso lang wie die Liste der besiegten Könige. Nun sei aber Josua alt und hochbetagt, und er solle daher das Land verteilen. Das tut Josua: er verteilt Land, das den Israeliten in weiten Teilen gar nicht gehört. 

John Steinbeck erzählt in „Of Mice and Men“ die Geschichte zweier sehr unterschiedlicher Männer, die miteinander als Wanderarbeiter umherziehen, weil sie einen großen gemeinsamen Traum haben: einst sich Land mit Haus, Kühen, Schweinen, Hühnern und Kaninchen zu kaufen und „to live off the fat of the land“. Der Hof ist ständig gegenwärtig. Er hält sie zusammen und sichert ihr seelisches Überleben, auch im tragischen Ende noch, als ein Freund den anderen erschießt.

Die Landverteilung an die Stämme ist Angelpunkt im Alten Testament. Mit der Zuweisung des Raums schafft sie Identität. Auf dem Weg durch die Wüste war die Landverteilung ein Versprechen, um das herum das Volk sich scharte. So blieb es auch nachher lange, bis zur Errichtung des Großreichs durch David und Salomo — für diese Wasserscheide der biblischen Geschichte siehe den BdW 02/2019. Die Nachfolgestaaten aber waren bald bedroht und in ihrer Existenz gefährdet und nacheinander wurden sie ausgelöscht. Da war das versprochene Land zum Bezugspunkt in der Vergangenheit geworden, der aber wiederum Identität für die Zukunft stiften sollte. Die Verfassung Hesekiels für das neue Jerusalem, den künftigen Gottesstaat unter der Führung des Messias, enthält eine neue Verteilung des Lands an die Stämme. So ist das Gelobte Land für die Juden bald Zukunft, bald Vergangenheit und wieder Zukunft, dabei aber immer höchst real, ein wenig wie der Gottessohn für die Christen. 

Was ist unser Bild für das Leben, unser Auftrag vielleicht? Und wohin sind wir gelangt? Am Ende von Josuas Leben stößt in diesem Vers das, was ist, gegen das, was sein soll. Einunddreißig Könige, und es reicht nicht, könnte man sagen. Welchen Sinn haben die Siege, wenn das Land nicht verteilt werden kann? Gott aber sagt: Doch! Es ist gut! Verteile alles!

So endet ein gesegnetes Leben. Und uns allen wünsche ich schon einmal eine gesegnete Woche, 
Ulf von Kalckreuth

Bibelvers der Woche 42/2020

Alsdann werdet ihr an euer böses Wesen gedenken und an euer Tun, das nicht gut war, und wird euch eure Sünde und Abgötterei gereuen.
Hes 36,31

Hier ist ein Link für den Kontext des Verses, zur Lutherbibel 1984.

Wüste bei Eilat

Und die Wüste wird blühen

In eigentümlicher Weise spiegelt unser Vers die Worte von Paulus über den Geist Gottes und das Gesetz im Vers der vorletzten Woche 40/2020. Hesekiel wurde von den Babyloniern verschleppt zu einer Zeit, als es das judäische Reich noch gab, an den Fluß Kebar in Mesopotamien. Er verfolgte den Untergang des Reichs und seiner Hauptstadt Jerusalem aus großer Entfernung, anders als Jeremia, der zur gleichen Zeit auf die Innenperspektive festgelegt war. Nach seiner Berufung zum Propheten war Hesekiel verstummt und musste sich mit seiner Umwelt mit Zeichen und Zeichenhandlungen auseinandersetzen — sprechen konnte er nur, wenn er Worte Gottes wiederzugeben hatte. 

Dann erreichte ihn die Nachricht vom Untergang der Stadt. Die Mauern gefallen, die Häuser verbrannt, der Tempel zerstört, die Einwohner der Willkür der Eroberer preisgegeben, soweit sie Feuer, Pest und Schwert überlebt hatten. Als geschehen war, vor dem er gewarnt hatte, löste seine Zunge sich und er konnte wieder frei sprechen. Wie einfach wäre es nun, zu verkünden, wie recht er doch hatte!

Statt dessen beginnt er über Dinge zu reden, die niemand sich jetzt vorstellen konnte: Eine Zeit, in der Israel und Judäa sich wieder sammeln aus vielen Völkern. Gottes große Gnade für sein Volk, das ihn so enttäuscht hat. Einen König wie David, von Gott gesandt. Ein neues Reich. Die Auferstehung der Toten. Ein Feldzug der Mächte des Bösen gegen die Kinder Gottes, der spektakulär scheitert (siehe Vers der Woche 35/2020). Und schließlich das neue Jerusalem, neue Grenzen, ein neuer Tempel. Wasser fließt daraus, es macht die Wüste fruchtbar — bis hin zum Toten Meer, das vor Fischen wimmelt. Immer eindrücklicher wird Hesekiels Beschreibung einer Welt, die niemand sieht außer ihm…

Aber wie ist das möglich? Hat nicht Hesekiel selbst unbarmherzig immer wieder auf die dramatischen Verfehlungen des Volks hingewiesen und die unabwendbare Vergeltung der verletzten und enttäuschten Gottheit? Das sichere Ende? Denen widersprochen, die sagten, Gott werde sein Volk nicht im Stich lassen und am Ende könne nichts schiefgehen?

Gott spricht zu Hesekiel. Der Fall sei tatsächlich hoffnungslos, das Volk entehre den heiligen Namen des Herrn, wohin es auch kommt. Und daher — um seines heiligen Namens willen, und nicht etwa, weil das Volk gut sei — werde Gott dem Volk einen neuen Geist geben und ein neues Herz. Er werde es von seiner Sünde erlösen und rein machen, ihm das Land zurückgeben, es zu einem Paradies machen. Und dann, so sagt der Vers, wird das Volk erkennen, wie sehr es gefehlt hat! 

Die übliche Reihenfolge ist hier auf den Kopf gestellt. Die Vergebung erfolgt nicht aus dem Bewusstsein und dem Bekenntnis der Schuld, sondern die Verzeihung ist geschenkt, gänzlich a priori, nicht nur ohne Verdienst, sondern sogar ohne Schuldbewusstsein seitens der Menschen. Das Bewusstsein der Schuld folgt der Verzeihung, zeitlich und sachlich.

Das ist überraschend. Hesekiel spricht sonst meist von Schuld und Sühne. Aber es ist auch realistisch. Wenn Konflikte zwischen Eltern und Kindern eskalieren, funktioniert der einfache Mechanismus aus Schuldbewusstsein und Bitte um Verzeihung nicht. Er setzt innere Distanz voraus, die dem Kind in der Hitze des Gefechts völlig fehlt. Die Eltern sind schuld! Wenn dann Verzeihung nicht vorauseilt, findet gar kein Austausch mehr statt und die Bitte um Verzeihung wäre im schlimmsten Fall gelogen, ein Tribut an die größere Macht der Eltern. 

Hier ist es also wieder, rund 630 Jahre vor Paulus. Dieses sonderbare Versprechen vor dem Hintergrund der Katastrophe: Einen neuen Geist, ein neues Herz will ich euch geben und ihr werdet rein vor mir sein. Nicht euer Tun wird das zuwege bringen, sondern meines. Und die Wüste wird blühen!

Ich wünsche uns eine gesegnete Woche,
Ulf von Kalckreuth

Bibelvers der Woche 41/2020

Wer bei einem Vieh liegt, der soll des Todes sterben.
Ex 22,18

Hier ist ein Link für den Kontext des Verses, zur Lutherbibel 1984.

Der Weg des Gesetzes

Der Vers ist eine typische Mitzwah, eine Bestimmung der Torah. Im Judentum bestimmen die fünf Bücher Mose die Regeln für ein gottgefälliges Leben — Gott hat seinem Volk gesagt, welchen Weg es gehen sollen. Diese Regeln sind eine Gnadengabe Gottes am Sinai, in ihrer Gesamtheit beschreiben sie einen Heilsweg. Rabbinische Gelehrte zählen in den fünf Büchern Mose insgesamt 613 Bestimmungen: 248 Gebote und 365 Verbote. Die Mitzwot haben oft keinen im engeren Sinne religiösen Charakter, sondern regeln Fragen des Lebens, die in modernen Gesellschaften unter das Zivilrecht, das Strafrecht, das Familienrecht oder die Sozialgesetzgebung fallen könnten. Unter diesem Link finden Sie die Auflistung der Mitzwot nach Maimonides, dem großen jüdischen Religionsgelehrten des Mittelalters.

Die rabbinische Tradition hat Prinzipen entwickelt, diese Gebote auszulegen und auch das zu regeln, wofür es keine ausdrücklichen Bestimmungen gibt. Die 613 Mitzwot spannen damit einen normativen Raum auf, der das Gottgefällige vom Sündigen unterscheidet. „Ihr sollt heilig sein, denn ich bin heilig“ (3. Mose 19,2). Die Befolgung der Mitzwot ist eine lebenspraktische, tägliche Übung, die uns näher zu Gott bringen und an seiner Seite halten sollen. 

Daraus ergibt sich unmittelbar, wie unser Vers als Mitzwah zu lesen ist: Du bist ein Mensch, sollst heilig sein und dich nicht selbst zum Tier machen.

Die Haltung der christlichen Kirchen zur Torah und den Mitzwot ist nicht einfach zu verstehen. Die Torah wurde nicht in Gänze übernommen und verbindlich gemacht — Paulus legt dar, dass der Versuch, sich durch Befolgung aller Gebote das Heil zu sichern, in die Irre führen muss. Die jüdischen Speisegebote etwa haben im Christentum keine Geltung, die Gebote zu den Feiertagen nur ansatzweise. Aber auch ein Leben mit und aus Christus braucht am Ende Wegweiser und Jesus selbst verweist oft auf die Torah. Die zehn Gebote und das Doppelgebot der Liebe sind Kern christlicher Ethik. Und mit ihnen wurden viele Wertungen des Judentums übernommen, anderes wurde ergänzt. Der Weg des Gesetzes wird auch im Christentum gegangen, bei den Katholiken mehr als bei den Protestanten, und das richtige Maß ist bis heute Stein des Anstoßes. 

Die Wertungen der Torah zur Sexualethik wurden im Christentum vollständig übernommen. Paulus verweist auf sie als Ganzes, vgl. den BdW 2018/42. Viele davon sind auch heute vertraut und natürlich — die Bestimmungen zum Verkehr unter Verwandten etwa oder das Verbot, die eigene Tochter zu Hurerei anzuhalten — aber es sind darunter auch Bestimmungen wie die folgende (Lev 20,15):

Wenn jemand bei einem Mann schläft wie bei einer Frau, so haben sie beide getan, was ein Gräuel  ist, und sollen des Todes sterben; ihre Blutschuld komme über sie. 

Die Strafbarkeit von Sodomie wurde in der alten Bundesrepublik 1969 aufgehoben, wegen Bedeutungslosigkeit. Im Jahr 2012 wurde Sodomie wieder verboten — als Ordnungswidrigkeit im Rahmen der Tierschutzgesetzgebung. Eine Verfassungsbeschwerde zweier Sodomisten wegen Verletzung des Rechts auf sexuelle Selbstbestimmung scheiterte im Jahr 2016. Der Schutz des Tiers habe seinerseits Verfassungsrang. 

Noch einmal zurück zum Weg des Gesetzes. Ich bin tief gespalten. Sodomie mag in unserem Leben keine Rolle spielen. Der Vers und sein Umfeld illustrieren aber, dass der Weg des Gesetzes keine Autobahn ist, einfach zu fahren und schnelle Verbindung zum Ziel. Wir steinigen keine Ehebrecher (Lev 20,10) und wir töten keine Zauberinnen (Ex 22,19). Ich habe nicht gelernt, ein Leben im einundzwanzigsten Jahrhundert nach Regeln aus der Eisenzeit zu führen. Um das tun zu können, mit einem akzeptablen Ergebnis, braucht man eine lange und ganzheitliche religiöse Erziehung. Dazu muss gehören, die Bestimmungen als Richtschnur für das eigene Leben anzunehmen, nicht aber als Basis für das Urteil über andere. Auch verstehe ich die Warnung Paulus‘ vor den Fallstricken der Gesetzlichkeit gut.

Aber die Torah kann Gottes Willen erhellen wie ein Schlaglicht! Nur zwei Beispiele: den Vers der Woche 41/2018 — aus demselben Abschnitt wie der Vers dieser Woche vor genau zwei Jahren — und den Vers der Woche 48/2019. Wie will man darauf verzichten?

Wenn nun Gott sich uns Menschen zweimal in Gnade zugewandt hat: mit seinem Gesetz und mit dem Erlöser, seinem Sohn, und wenn dieser Erlöser immer und immer wieder auf das Gesetz verweist — wie schön wäre es dann für mich, genauer zu wissen, was denn Gottes Wille in meinem Leben ist! Nicht alles ist ja so leicht zu entscheiden wie die Frage, ob Sodomie einen Platz darin hat… 

Heute ist Tag der Deutschen Einheit und Sukkot, das Laubhüttenfest. Der Herr möge mit uns sein!
Ulf von Kalckreuth

Bibelvers der Woche 40/2020

…auf dass die Gerechtigkeit, vom Gesetz erfordert, in uns erfüllt würde, die wir nun nicht nach dem Fleische wandeln, sondern nach dem Geist.
Röm 8,4

Hier ist ein Link für den Kontext des Verses, zur Lutherbibel 1984.

Treffpunkt Tod

Harter Stoff. Aber bleiben Sie bei mir, vielleicht lohnt es sich! Der Vers ist ein Fragment — hier ist der vollständige Satz im Wortlaut der Übersetzung von 2017:

Denn was dem Gesetz unmöglich war, weil es durch das Fleisch geschwächt war, das tat Gott: Er sandte seinen Sohn in der Gestalt des sündigen Fleisches und um der Sünde willen und verdammte die Sünde im Fleisch, damit die Gerechtigkeit, die das Gesetz fordert, in uns erfüllt werde, die wir nun nicht nach dem Fleisch wandeln, sondern nach dem Geist

Der Vers und sein Kontext gehören zum Kern christlichen Glaubens. Ich will, was da steht, zunächst mit meinen Worten wiedergeben. Das Angebot Gottes, die Menschen mit seinem Gesetz zu sich zu führen, läuft auf unserer Seite ins Leere. Ein Leben nach der Thora ist mit der Natur des Menschen unvereinbar. Es gelingt ihm auch dann nicht, wenn der Geist willig ist. Der Mensch braucht eine neue Natur — er muss sein „fleischliches“  Wesen, wie Paulus es nennt, gegen ein „geistiges“ Wesen tauschen, gegen ein Leben aus dem Geist Gottes. Die frohe Botschaft ist, dass Gott seinen Geist denen schickt, die er liebt. Dafür sandte er seinen Sohn: in der Gestalt des Fleischs, selbst aber Träger des Geistes.

Für diejenigen, die aus dem Geist leben, wird das Gesetz irrelevant, als Weg zu Gott ist es nicht nötig. Dennoch muss es — Gesetz Gottes — erfüllt sein. Die Lücke füllt der Tod Jesu am Kreuz. Mit diesem Tod werden Fleisch und Sünde verurteilt und hingerichtet. Wir können unser Leben vom Geist leiten lassen. Der Weg ist frei. Pfingsten! Ein Bild, so groß, dass einem der Kopf zerreißen will. 

Der Vers selbst lässt offen, wie das Gesetz durch den Tod Jesu ultimativ erfüllt wird. Der Wortlaut bezeichnet eine Art stellvertretende Sühne. Paulus unterscheidet den fleischlichen vom geistigen Aspekt der menschlichen Wirklichkeit. Jesus — ganz Geist — wird Fleisch und empfängt in dieser Gestalt das Urteil für alles Fleisch, obwohl er selbst frei von Sünde ist. Andernorts, bei Paulus selbst und bei Johannes, wird der Tod Jesu spezifisch als Opfer interpretiert. Der Tod Jesu Christi, des Gottessohns, war das ultimative Opfer: ein Opfer dargebracht von einem Menschen und zugleich von Gott selbst. 

Das ist ganz harter Stoff. Für die Menschen damals: Johannes 6,48ff berichtet von der entsetzten Reaktion der Zuhörer, als Jesus das Opfer in der Synagoge von Kapernaum ankündigte. Und auch für die Menschen heute: Wie etwa vermittelt man den Opfertod im Kindergottesdienst? In ihrer Kritik an der „Opfertheologie“ ziehen progressiv denkende evangelische Theologen das ganze Bild in Zweifel — Gott in seiner Größe und unerschöpflichen Liebe könne ein Menschenopfer gar nicht „wollen“, und in seiner Allmacht die Entsühnung auch ohne Opfer bewirken. Heilsnotwendig könne dies Opfer nicht gewesen sein. 

Ich bin nicht Theologe und die Auseinandersetzung mit dem Diskurs fällt mir wirklich schwer. Ich erkenne aber, dass dies das Narrativ ist, das Christen zu allen Zeiten angenommen haben. In der Wirklichkeit der Menschen so vieler Generationen hatte der Tod Jesu diese ungeheure Bedeutung. Auch für Jesus selbst, nach dem Zeugnis der Evangelien. Das Narrativ ist geglaubte Wahrheit — wie will man es nun verschieben? Man mag sich dann fragen, wie alles so falsch laufen konnte, wenn der Tod Jesu keine Erlösungstat war — was würde uns das über Gott sagen? Wie kämen wir denn damit zurecht, dass der Tod Jesu sinnlos gewesen wäre? Warum musste der Messias gehen, kaum dass er gekommen war? 

Vielleicht sollten wir an die eigentliche Bedeutung des Opfers im Judentum denken. Es geht dabei nur in sehr speziellen Fällen um Schuld und Sühne. Im Vordergrund steht immer Kommunikation und Gemeinschaft mit Gott. Siehe die Betrachtung zum Bibelvers der Woche 43/2018. Ganz so, wie auch das Gesetz seinem Wesen nach zu Gemeinschaft mit Gott führen soll. Gesetz und Opfer liegen tatsächlich nahe beieinander. 

Jesus stellt für uns die Gemeinschaft mit Gott her. So verstehe ich Paulus und Johannes. Für uns und mit uns findet er das Licht dort, wo es nicht dunkler mehr werden kann, im abgründigen Nichts. Treffpunkt Tod. Gott hat dieses Opfer nicht verhindert, wie er die Opferung Isaaks durch Abraham verhindert hat. Statt dessen hebt er die Folgen auf, in einer Weise, die den Naturgesetzen spottet. 

Morgen ist Jom Kippur. Mögen wir alle im Buch des Lebens eingeschrieben sein!
Ulf von Kalckreuth

Bibelvers der Woche 39/2020

Sie streckt ihre Hand nach dem Rocken, und ihre Finger fassen die Spindel.
Spr 31,19

Hier ist ein Link für den Kontext des Verses, zur Lutherbibel 1984.

Manifest der Weiblichkeit

Das Lob der tüchtigen Frau. Eine Schrift aus dem Orient, 2500 Jahre alt, geschrieben vermutlich von einem Mann… Das erzeugt Erwartungen, und gegen unsere Erwartungen muss der Text sich selbst verteidigen. Bitte lesen Sie ihn, und vielleicht merken Sie sich die Stellen, die Sie überraschen:

Wem ein tugendsam Weib beschert ist, die ist viel edler denn die köstlichsten Perlen. 
Ihres Mannes Herz darf sich auf sie verlassen, und Nahrung wird ihm nicht mangeln. 
Sie tut ihm Liebes und kein Leides ihr Leben lang. 
Sie geht mit Wolle und Flachs um und arbeitet gern mit ihren Händen. 
Sie ist wie ein Kaufmannsschiff, das seine Nahrung von ferne bringt. 
Sie steht vor Tages auf und gibt Speise ihrem Hause und Essen ihren Dirnen. 
Sie denkt nach einem Acker und kauft ihn und pflanzt einen Weinberg von den Früchten ihrer Hände. 
Sie gürtet ihre Lenden mit Kraft und stärkt ihre Arme. 
Sie merkt, wie ihr Handel Frommen bringt; ihre Leuchte verlischt des Nachts nicht. 
Sie streckt ihre Hand nach dem Rocken, und ihre Finger fassen die Spindel. 
Sie breitet ihre Hände aus zu dem Armen und reicht ihre Hand dem Dürftigen. 
Sie fürchtet für ihr Haus nicht den Schnee; denn ihr ganzes Haus hat zwiefache Kleider. 
Sie macht sich selbst Decken; feine Leinwand und Purpur ist ihr Kleid. 
Ihr Mann ist bekannt in den Toren, wenn er sitzt bei den Ältesten des Landes. 
Sie macht einen Rock und verkauft ihn; einen Gürtel gibt sie dem Krämer.
Kraft und Schöne sind ihr Gewand, und sie lacht des kommenden Tages. 
Sie tut ihren Mund auf mit Weisheit, und auf ihrer Zunge ist holdselige Lehre. 
Sie schaut, wie es in ihrem Hause zugeht, und ißt ihr Brot nicht mit Faulheit. 
Ihre Söhne stehen auf und preisen sie selig; ihr Mann lobt sie: 
„Viele Töchter halten sich tugendsam; du aber übertriffst sie alle.“ 
Lieblich und schön sein ist nichts; ein Weib, das den HERRN fürchtet, soll man loben. 
Sie wird gerühmt werden von den Früchten ihrer Hände, und ihre Werke werden sie loben in den Toren.

Der Abschnitt schließt das Buch der Sprüche ab. Dort geht es um Wege „richtigen“ Lebens, die gottgefällig sind und sich empirisch bewährt haben. Und er hat sein Spotlight: Juden rezitieren das ‚Lob der tüchtigen Frau‘ an jedem Schabbat vor dem Mittagessen. 

Wer in der Bibel liest, mag sich oft wundern. Hier ist ein Manifest der Weiblichkeit, ein Lebensentwurf aus der orientalischen Antike, so breit, dass er für zwei oder drei Menschen reichen würde… Ich lese den Abschnitt nochmals und ertappe mich bei dem Gedanken, dass ich selbst — alter weisser Mann, der ich bin — gern tauschen wollte mit dieser Frau. Ihr Leben ist im Gleichgewicht. Sie wirkt nach außen, sie wirkt in die Familie, sie wirkt nach innen, in die eigene Person, und sie ist in Verbindung mit ihrem Schöpfer. Vier Anker. Ja, sie streckt ihre Hand aus nach dem Rocken und ihre Finger fassen die Spindel, aber das ist Teil eines weit gespannten, großzügigen und ganzheitlichen Lebens. Sie weiß, was sie will und lässt wachsen, was nötig ist dafür. Wie wäre es, wenn man von uns sagen könnte, dass Kraft und Schöne unser Gewand seien und wir des kommenden Tags lachten? 

Darf ich uns allen eine solche Woche wünschen? Ich tu’s einfach!
Ulf von Kalckreuth

Nachtrag: Wie der Zufall wollte, besuchte ich heute nachmittag eine Sonderausstellung des Museums im Römerkastell Saalburg. Und da waren Rocken und Spindel zu sehen, und eine Frau, die beides hält. Der Rocken ist ein Stab, an dem die noch unversponnenen Fasern befestigt sind und die Spindel wird gedreht, verwandelt die Faser in einen Faden und nimmt ihn auf. Dies zu koordinieren verlangt viel Übung und eine hervorragende Feinmotorik. Die Handspindel ist uralt: sie stammt aus der Jungsteinzeit und kam erst nach dem Aufkommen des Spinnrads im Spätmittelalter allmählich außer Gebrauch.

Spindel, Rocken und eine Römerin. Römerkastell Saalburg,
Sonderausstellung „HAMMER: Handwerken wie Kelten und Römer“, 19.09.2020

Bibelvers der Woche 38/2020

Da aber Saneballat und Tobia und die Araber und Ammoniter und Asdoditer hörten, daß die Mauern zu Jerusalem zugemacht wurden und daß sie die Lücken hatten angefangen zu verschließen, wurden sie sehr zornig.
Neh 4,1

Hier ist ein Link für den Kontext des Verses, zur Lutherbibel 1984.

Die Stadtmauer Jerusalems — Jerusalem Museum, Januar 2020

Tobe, Welt und springe…!

Die Geschichte einer Heilung. Jerusalem, die entvölkerte und unter den Babyloniern ihrer Elite beraubte Stadt, deren Mauern zerstört waren, füllt sich wieder mit Leben. Unter dem persischen Herrscher Kyros durften die Nachkommen der Exilierten wieder in die einstige Hauptstadt des judäischen Reichs zurückkehren. Mit dem Hohepriester Esra und dem Statthalter Nehemia begann, nach geraumer Zeit, die Konsolidierung und das nation building — aus den Nachkommen der Judäer wurden Juden. Nach diesen Männern sind zwei Bücher der Bibel benannt, die ursprünglich Teile einer einzigen Schrift waren. 

Das große Thema bei Nehemia ist die Stadtmauer. Im Altertum war eine Stadt ohne Mauer schlicht keine Stadt — jeder, der eine Anzahl Bewaffneter aufbrachte, konnte sie berauben und zu Zahlungen pressen. Die Mauer war die Haut der Stadt, ihre Identität, sie unterschied und trennte Innen von Aussen. Hundertvierzig Jahre nach der Eroberung durch die Babylonier war die alte Mauer ein vielfach durchlöcherter, schründiger Trümmerhaufen ohne alle Tore. Eine ergreifende Szene am Anfang des Buchs beschreibt, wie Nehemia nachts heimlich, ohne Begleitung, die Mauer entlang reitet, um sich ein Bild von seiner Aufgabe zu machen. 

Und er stellt sich dieser Aufgabe, unbeirrbar, Schritt für Schritt. Und immer dabei — als Kommentatoren, Spötter, Intriganten und schließlich militärische Gegner sind drei Gegenspieler: Sanbalat, der Horoniter, Tobija, der Ammoniter und Geschem, der Araber. Sie stehen für Fremdvölker, die sich in in den letzten hundertvierzig Jahren im judäischen Land festgesetzt hatten und der Befestigung der Stadt naturgemäß feindlich gesinnt waren. 

Die Mauer heilt und die drei Feindfiguren spiegeln das Geschehen. Die Bewertung der Vorgänge wird im Text nicht durch jubelnde Einwohner Jerusalems verankert, sondern durch die mit dem Fortschreiten des Projekts immer schärfere, ja schließlich panische Reaktion der drei Gegner. Wie bei einem fotografischen Negativ. Das verschafft dem Text Authentizität. Schließlich soll die langsam sich schließende Mauer gegen Feinde schützen, und es wäre kein gutes Zeichen, wenn der Bau sie gleichgültig ließe. 

Im Anschluß an den gezogenen Vers beschließen die drei Feindgestalten, militärisch einzugreifen. Nehemia und die Seinen werden gewarnt und füllen die vielfach noch bestehenden Lücken der Mauer mit Kämpfern aus Fleisch und Blut. Die Fortsetzung des Mauerbaus geschieht dann mit der Waffe in der Hand — die Arbeiter sind bereit, sich umstandslos in eine Armee zu verwandeln. Es fällt schwer, dabei nicht an die ersten Jahrzehnte des modernen Israel zu denken. 

Die drei Feindfiguren als kontrastierende Perspektive in der Ich-Erzählung Nehemias sind sehr wirkungsvoll. Ähnliches findet sich auch in den Psalmen. In der christlichen Kirche werden von alters her Hölle und Teufel so eingesetzt. Ihre Macht, ihre Abwehr und die mit ihnen verbundene Bedrohung erweisen im Umkehrschluss die Größe des Erlösungswerks Jesu Christi. Die Strophen 2 und 3 des Chorals „Jesus meine Freude“ lauten:

Unter deinem Schirmen
Bin ich vor den Stürmen
Aller Feinde frei.
Laß den Satan wittern,
Laß den Feind erbittern,
Mir steht Jesus bei.
Ob es itzt gleich kracht und blitzt,
Ob gleich Sünd und Hölle schrecken:
Jesus will mich decken.

Trotz dem alten Drachen,
Trotz des Todes Rachen,
Trotz der Furcht darzu!
Tobe, Welt, und springe,
Ich steh hier und singe
In gar sichrer Ruh.
Gottes Macht hält mich in acht;
Erd und Abgrund muss verstummen,
Ob sie noch so brummen.

Wer das liest und singt, kann Sanbalat, Tobija und Geschem vor sich stehen sehen… machtlos!

Eine gesegnete Woche wünsche ich uns, ohne alle bösen Feinde,
Ulf von Kalckreuth

Bibelvers der Woche 37/2020

Die Stolzen müssen beraubt werden und entschlafen, und alle Krieger müssen die Hand lassen sinken.
Ps 76,6

Hier ist ein Link für den Kontext des Verses, zur Lutherbibel 1984.

Richten

in der vergangenen Woche die Apokalypse, in dieser Woche das Gericht. Eine Gelegenheit, die Beziehung beider zu betrachten, es lohnt sich. Die Verse 5-10 lauten in moderner Übersetzung:

Du bist herrlicher und mächtiger
als die ewigen Berge.
Beraubt sind die Stolzen und in Schlaf gesunken,
und allen Kriegern versagen die Hände.
Von deinem Schelten, Gott Jakobs,
sinken in Schlaf Ross und Wagen.
Furchtbar bist du!
Wer kann vor dir bestehen, wenn du zürnest?
Wenn du das Urteil lässest hören vom Himmel,
so erschrickt das Erdreich und wird still,
wenn Gott sich aufmacht zu richten,
dass er helfe allen Elenden auf Erden.

Gott ist hier die Macht, vor der alles andere nichtig wird. Die Stolzen und Starken schlafen ein, die Hände ihrer Kriegsleute sind gelähmt. Die Übersetzung „entschlafen“ von 1912 ist für heutige Leser mißverständlich, die Starken sterben nicht, sie werden schlicht belanglos. Der gezogene Vers ist ein Kern des Psalms, er wird am Ende des Psalms noch einmal aufgenommen: „der den Fürsten den Mut nimmt und furchtbar ist für die Könige auf Erden“.

Die Hierarchien, Ergebnis des Spiels der Kräfte auf Erden, sie müssen versinken. Gott setzt seine Ordnung durch. Es ist eine Ordnung für die Elenden auf Erden, nicht für die Mächtigen. Gott richtet in diesem Psalm, er macht die Welt recht. Warum ist die Vorstellung so erschreckend, fremdartig fast? Ein allmächtiges Wesen macht von seiner Allmacht Gebrauch — was ist merkwürdig daran?

Wir haben uns an die Vorstellung gewöhnt, dass das Gericht ausbleibt, zu unseren Lebzeiten jedenfalls, dass es von unserem Leben klinisch sauber abgetrennt ist als ein „Jüngstes Gericht“ in einer anderen Welt. Das hat mit der Welt der Psalmen nichts zu tun. Dort wird von Gott erwartet, dass er Recht schaffe, offen sichtbar im Hier und Jetzt, und eine ganze Reihe von Psalmgebeten kreist um die Frage, wie denn damit umzugehen sei, wenn es nicht sofort geschieht und die Bösen scheinbar triumphieren.

Ich bin daran gewöhnt, in Gott den Anker für ein erfülltes Leben zu sehen, obwohl dieses Leben dem Tod geweiht ist. Befiehl dem Herrn deine Wege und hoffe auf ihn, er wird’s wohlmachen (Ps 37). Warum nicht auch im Großen? Warum sollte er nicht auch Gemeinschaften, Staaten, die Menschheit „recht machen“? Wer wollte ihn daran hindern? Wir? Wenn ich den Vers dieser Woche richtig lese, sagt er schlicht, dass uns das nicht gelingen wird.

Gott kehrt das Oberste zuunterst, das ist ein Leitmotiv der Bibel, siehe Woche 38/2019. Das Leben mit Gott wird dann spannend, wenn wir etwas von ihm erwarten: Heil, Leitung, Gerechtigkeit, Liebe… und dabei riskieren, enttäuscht zu werden. Was geschieht mit einer Liebe, wenn man vom Anderen nichts erwartet? Wer nichts von Gott erwartet, wird auch nichts sehen, nicht vor dem Tode und auch nicht danach.

Es gibt eine jüdische Legende, derzufolge in der Welt stets 36 Gerechte leben müssen, irgendwo und unerkannt, damit die Welt weiterbestehen kann. Vielleicht muß Glaube in der Gemeinschaft verwurzelt sein, damit Gott das Schicksal der Gemeinschaft „richtet“, so wie Gottes Wirken beim Einzelnen auf dem Glauben des Einzelnen baut? Anders gefragt: Wenn eine nennenswerte Zahl von Menschen Gottes Richten erwartet — sehen dann die Lösungen, die wir finden, nicht von vornherein ganz anders aus? Wir brauchen die Vorstellung, dass es ein Richtig gibt und ein Falsch, und es einen Unterschied macht, was wir tun.

Verweilen wir doch ein wenig bei dem Gedanken an den Herrn, „der Pfeile und Bogen zerbricht“, und „herrlicher und mächtiger als die ewigen Berge“ ist, der unser Leben richtet und das Leben aller, und es nicht anonymen Notwendigkeiten überlässt und anheimgibt. Dieser Gedanke gibt Kraft. Und je mehr Wahrheit wir ihm geben, umso wahrhaftiger und kraftvoller wird er, im Hier und Jetzt. 

Eine gesegnete Woche wünsche ich uns allen,
Ulf von Kalckreuth

Bibelvers der Woche 36/2020

…, der niemand beschädigt, der dem Schuldner sein Pfand wiedergibt, der niemand etwas mit Gewalt nimmt, der dem Hungrigen sein Brot mitteilt und den Nackten kleidet,…
Hes 18,7

Hier ist ein Link für den Kontext des Verses, zur Lutherbibel 1984.

Umkehr und rechtes Leben

Wieder Ezechiel/Hesekiel. Der Vers liegt in unmittelbarer Nachbarschaft zum Vers der Woche 7/2018 — so nahe, dass die Betrachtung dazu gut auf den Vers dieser Woche passt, ich erlaube mir daher einen Verweis. 

Dem Propheten geht es um den Zusammenhang von Tun und Ergehen. Die überkommene Auffassung, gestützt durch Ex 34, 6+7 sieht diesen Zusammenhang eher locker: Sünden werden bestraft und gutes Verhalten belohnt, aber nicht notwendigerweise im Leben des Individuums selbst, sondern erst bei den Kindern und Kindeskindern. Großes Unglück ist immer die Folge von Sünde, aber es können auch die Sünden der Vorväter sein. Das kann zu Fatalismus führen — das von den Vorvätern verschuldete Unglück lässt sich ja nicht wenden und die Früchte einer möglichen Umkehr wird nicht der Umkehrende ernten, sondern vielleicht erst die Kindeskinder. 

Aber das ist Gift. Hesekiel kommt es auf Umkehr an. Er schreibt in einer Zeit der Krise: Das Volk und die einzelnen Menschen, die dazugehören, haben sich durch Gottesferne und Egoismus in eine verzweifelte Lage gebracht. Sie haben ihre Heimat verloren — sie leben im Exil, von den babylonischen Eroberern an einem fremden Ort angesiedelt. Der Text ist ein Weckruf: Die Folgen eures Verhaltens treffen euch unmittelbar: die positiven wie die negativen. An eurer Lage seid ihr selbst schuld, und ihr könnt es auch selbst wenden. Wenn ihr umkehrt, wird Gott sich euch zuwenden, in eurem eigenen Leben. Das klingt so gar nicht orientalisch, es klingt beinahe amerikanisch. 

Der gezogene Vers steht in der beispielhaften Beschreibung eines gerechten Menschen:

Wenn nun einer gerecht ist und Recht und Gerechtigkeit übt, der von den Höhenopfern nicht isst und seine Augen nicht aufhebt zu den Götzen des Hauses Israel, der seines Nächsten Frau nicht befleckt und nicht liegt bei einer Frau in ihrer Unreinheit, der niemand bedrückt, der dem Schuldner sein Pfand zurückgibt und niemand etwas mit Gewalt nimmt, der mit dem Hungrigen sein Brot teilt und den Nackten kleidet, der nicht auf Zinsen gibt und keinen Aufschlag nimmt, der seine Hand von Unrecht zurückhält und rechtes Urteil fällt unter den Leuten, der nach meinen Gesetzen lebt und meine Gebote hält, dass er treu danach tut: Das ist ein Gerechter, der soll das Leben behalten, spricht Gott der HERR (Hes 18, 5-9).

Und wenn sein Sohn es anders hält, wird er selbst die Folgen tragen und untergehen, und das beispielhafte Verhalten des Vaters wird ihm nicht helfen. Aber wenn der Sohn dieses Sohns lebt wie es recht ist, soll es ihm gut gehen, dem gewalttätigen und gottlosen Vater zum Trotz. Und wenn der gottlose Sohn selbst sich bekehrt, so kann er damit sein Schicksal wenden. Das gilt für den Einzelnen und — so meint es Hesekiel — auch für das Volk als ganzes. 

Unglaublich modern! Das Grundgesetz der westlichen Kultur. Yes, we can! Du selbst verantwortest dein Tun, und damit hast du dein Leben in der Hand. Es ist die Antithese zur orientalischen Auffassung vom Schicksal, und damit selbst ein wenig naiv, wie wir am Ende der Moderne wissen: Unser Ergehen ist (auch) von den Umständen geprägt, in die wir hineinwachsen, und die haben in der Tat einiges mit dem zu tun, wie unsere Väter gelebt haben, und viel auch mit dem, was in unserer unmittelbaren sozialen Umwelt geschieht. Manche Menschen haben manche Alternativen schlicht nicht. Aber das kann uns nicht aus unserer Verantwortung entlassen. 

Der Vers stößt uns noch auf etwas anderes. Hesekiel gibt eine anschauliche Beschreibung dessen, was rechtes (=“gerechtes“) Leben ist. Wenn man die Skizze liest, und auch das dazugehörige Kontrastbild des bösen Sohns im Anschluß, dann kann man es eigentlich recht gut vor sich sehen, das „rechte Leben“. Christen neigen dazu, Gottes Forderungen in einer Weise zu überhöhen, dass sie unerfüllbar scheinen, um sich dann mit dem Gedanken an Gottes Gnade, personifiziert durch Jesus Christus, zu beruhigen. Aber so ist es ganz sicher nicht gemeint. Mose sagt mit unübertroffener Klarheit:

Denn das Gebot, das ich dir heute gebiete, ist dir nicht zu hoch und nicht zu fern. Es ist nicht im Himmel, dass du sagen müsstest: Wer will für uns in den Himmel fahren und es uns holen, dass wir’s hören und tun? Es ist auch nicht jenseits des Meeres, dass du sagen müsstest: Wer will für uns über das Meer fahren und es uns holen, dass wir’s hören und tun? Denn es ist das Wort ganz nahe bei dir, in deinem Munde und in deinem Herzen, dass du es tust. (Dtn 30,11-14).

Wir bedürfen der Gnade, das ist sicher, aber vielleicht sollten wir auch einfach mal versuchen, ein rechtes Leben zu führen. Die Bibel gibt hierzu lebensnahe und praktischer Beispiele und mit den zehn Geboten klare Regeln. Hesekiels Katalog enthält einen Kern: Gottesfurcht, Rechtschaffenheit und Treue gegenüber den Mitmenschen, den Verzicht darauf, Notlagen anderer auszunutzen und das eigene Interesse über alle und alles zu stellen, sexuelle Integrität, tätige Nächstenliebe, Besonnenheit und eine Orientierung an Gottes Regeln, nicht den eigenen. 

Vieles davon ist sicher nicht unmöglich. Und wir selbst erhalten den Lohn: ein integres Leben, in dem wir selbst uns keine Fallen stellen und in dem der gute Wille, den wir unserer Umwelt entgegenbringen, auf uns zurückstrahlt. Und wo wir fehlen, wird Gottes Gnade uns über den Spalt tragen.  

Eine gesegnete Woche auf rechtem Wege wünsche ich uns allen,
Ulf von Kalckreuth

Bibelvers der Woche 35/2020

Und es wird geschehen zu der Zeit, wann Gog kommen wird über das Land Israel, spricht der Herr HErr, wird heraufziehen mein Zorn in meinem Grimm.
Hes 38,18

Hier ist ein Link für den Kontext des Verses, zur Lutherbibel 1984.

Endkampf

Unser Vers ist aus der Apokalypse von Hesekiel / Ezechiel. Der Schluß des Buchs beschreibt das neue Jerusalem, den Tempel und den Dienst darin in der messianischen Zeit. Die vorangehenden Abschnitte 35-39 sind eine eher lockere Sammlung von Visionen zum Ende der alten Zeit und der Heraufkunft der neuen. Eine leibliche Auferstehung der Toten wird beschrieben und der Endkampf der dunklen Mächte gegen das erneuerte Israel unter Gottes Führung.

Gog ist Herr von Magog, eines mythisch-großen Reiches im Norden. In der Vision Hesekiels lockt Gott König Gog und seine Scharen ins Heilige Land, im Glauben, sie könnten das wiedererstandene Israel überfallen. Dort aber erwartet Gog und seine gewaltigen Heere die Vernichtung. Der Untergang der Heere Magogs wird ausdrucksstark beschrieben.  Der Vers zeigt den Moment, in dem der Vernichtungswille Gottes sich zu regen beginnt.

Es gibt Versuche, Magog mit realen Mächten der Zeit Hesekiels zu identifizieren, aber die Beschreibung der scheinbar unwiderstehlichen, aus vielen großen Völkern zusammengesetzten gewaltigen Streitmacht Gogs von Magog liest sich eher als Vergegenständlichung der dunklen Mächte dieser Welt, wie Saurons Scharen in Tolkiens „Herrn der Ringe und Darth Vaders Imperium im „Krieg der Sterne“. Die Parallelen sind nicht zufällig. Die faszinierende Welt Tolkiens ist deutlich durch christlich-jüdische Eschatologie geprägt — es gibt einen Gottesknecht und einen Messias — und George Lucas überträgt in seinem Film aus dem Jahr 1977 apokalyptische Vorstellungen aus der Bibel in eine massentaugliche Fantasiewelt aus Weltraum, Zen und Märchen. 

Apokalyptische Texte gibt es in der jüdischen Bibel — Hesekiel, Daniel, Micha und Sacharja — wie auch im Neuen Testament: in den Evangelien und in der Offenbarung des Johannes, siehe z.B. den Vers der Woche 5/2019. Sie beschreiben das Ende der alten Welt und den Übergang zu einer neuen, besseren. Der Übergang ist stets durch gewalttätige, vernichtende Auseinandersetzungen geprägt und meist durch einen Endkampf zwischen Gut und Böse.

Warum geht die Heraufkunft der Herrschaft Gottes in diesen Beschreibungen stets mit Krieg und Vernichtung einher? Die Zerstörung des Dunklen hat Zeichencharakter: „So will ich mich herrlich und heilig erweisen und mich zu erkennen geben vor vielen Völkern, dass sie erfahren, dass ich der Herr bin“, heisst es in Hes 38, 23. Das erinnert an die Plagen und die Vernichtung der ägyptischen Streitmacht beim Exodus. Der Endkampf liegt schlicht in der Logik dessen, was berichtet wird. Das Böse, so sehen es die Apokalyptiker, hat große Macht. Um es zu überwinden, muss es besiegt werden — ein Kampf muss sein. Die Härte dieses Kampfs ist kommensurabel mit der Macht, die dem Bösen zugeschrieben wird — wäre die Heraufkunft der messianischen Zeit so leicht wie der Regierungswechsel nach einer Bundestagswahl, könnte es nicht weit her sein mit der Macht des Bösen.

Aber da ist noch etwas. Apokalyptische Visionen sind unmittelbar überzeugend, weil sie eine enge Entsprechung zu einem Vorgang haben, den zwar keiner von uns erlebt hat, den aber jeder vor sich sieht: den eigenen Tod. Wie im Makrokosmos der Apokalyptiker steht für den Einzelnen der Untergang der Welt, wie er sie kennt, unverrückbar fest. Das Versagen einzelner Organe und der dadurch angestoßene Untergang des ganzen Systems mag in einzelnen Fällen Empfindungen hervorrufen, die den Stadien der Vernichtung in der Offenbarung verwandt sind. Und die Jenseitshoffnung des Einzelnen hat ihre Entsprechung in der Erlösungshoffnung für die Welt. Vielleicht ist beides gar dasselbe, übersetzt in eine andere Sprache. Schließlich besteht unsere große Welt aus den vielen Einzelwelten der Individuen, die geboren werden und sterben. 

Die vierte Strophe von „Nun bitten wir den Heiligen Geist“ handelt vom Weg in und durch den individuellen Untergang:

Du höchster Tröster in aller Not,
hilf, dass wir nicht fürchten Schand noch Tod, 
dass in uns die Sinne nicht verzagen, 
wenn der Feind wird das Leben verklagen. 
Kyrieleis.

So sind die apokalyptischen Bilder in eigentümlicher Weise ganz nahe am Kern des Glaubens. Wie unser eigenes Leben ist die Welt als Ganze letztlich irreparabel und dem Untergang geweiht. Aber in einem größeren Zusammenhang ist dieser Untergang aufgefangen und zum Heil gewendet. Wir dürfen gelassen sein und glücklich — inmitten einer gefallenen Welt! 

Eine gesegnete Woche wünsche ich uns allen,
Ulf von Kalckreuth