Bibelvers der Woche 01/2021

Weh euch, Schriftgelehrte und Pharisäer, ihr Heuchler, die ihr das Himmelreich zuschließet vor den Menschen! Ihr kommt nicht hinein, und die hinein wollen, lasst ihr nicht hineingehen.
Mat 23,13

Hier ist ein Link für den Kontext des Verses, zur Lutherbibel 1984.

Wald und Bäume

Jesus steht für Liebe — der Kern seiner Ethik hebt den Gegensatz auf zwischen dem Individuum und seiner Umwelt. Ein besonders friedlicher Mensch war er dabei nicht. Er konnte scharf und verletzend sein und Hierarchien bedeuteten ihm nichts. Wäre ein konzilianter Jesus von Nazareth am Kreuz gestorben? Wohl kaum — wer hätte ein Interesse daran gehabt? 

Der für diese Woche gezogene Vers ist ein Satz von der Art, die den Kopf kosten können. Pharisäer und Schriftgelehrte vertraten eine am Wortlaut orientierte Sicht auf die Gebote der Thora — sie zogen einen ‚Zaun um die Thora‘, wie man heute sagt, damit sie nicht verletzt werde. Für Jesus war das ein Irrweg. Das Reich Gottes war nahe herbeigekommen, hatte im Kern schon eingesetzt und wer mit Äusserlichkeiten vom Eigentlichen ablenkt, versperrt den Weg. Pharisäern und Schriftgelehrten hingegen galten Führer wie Johannes und Jesus als Quelle von Disziplinlosigkeit und Chaos; schlimmer noch: als Schwarmgeister, die ihre Nachfolger dem Gesetz entfremdeten, das Gott uns anvertraut hat. 

Jesus konnte aus vielen einzelnen Vorschriften die Essenz ziehen, er sah den Wald und nicht die Bäume und wies den Weg: „Das Reich Gottes ist da und es ist nicht da — lebt es, dann ist es Wirklichkeit, für euch und durch euch“, und „Wie ihr übereinander urteilt, wird der Vater über euch urteilen“, und „Liebt Gott über alles und den Anderen wie euch selbst“. Schwer und gleichzeitig einfach. Seine Worte über Pharisäer und Schriftgelehrte in Mat 23 aber hatten nichts Versöhnliches mehr, das Tischtuch war zerschnitten. Der Schnitt tut weh, immer noch. 

Liest man den Text, mag man auch ins Heute schauen. Wer befördert mit seinen Feststellungen und Urteilen über Gottes Wort und Willen die eigenen Interessen, auf Kosten derer, die abgelenkt werden? Die Falle der Selbstgerechtigkeit steht aufgespannt da. Und da müssen auch kleine Blogger gut aufpassen…

Gottes Segen sei mit uns — im neuen Jahr und immer,
Ulf von Kalckreuth

Bibelvers der Woche 53/2020

Er hat von Angesicht zu Angesicht mit euch aus dem Feuer auf dem Berge geredet.
Dtn 5,4

Hier ist ein Link für den Kontext des Verses, zur Lutherbibel 1984.

Theophanie

Wenn wir beten, sprechen wir aus, was wir von Gott wollen. Aber was will Gott von uns? Auf diese Frage stoße ich zur Zeit immer wieder, auch in mir selbst.

Der Vers erinnert daran, dass Gott selbst es uns gesagt hat und zwar direkt und unmittelbar, so dass es jeder hören konnte. Vom Berg Sinai aus hat Gott dem Volk Israel die zehn Gebote verkündet. Danach waren die Israeliten so mit Angst erfüllt, dass sie die weitere Auseinandersetzung mit dem mächtigen und unheimlichen Gott dem Mose überliessen — er sollte mit Gott sprechen und seinen Willen weitergeben. Die zehn Gebote aber waren von Gott dem Volk unmittelbar verkündet. Ex 20 und Dtn 5 enthalten leicht unterschiedlichen Fassungen. Hier ist Dtn 5, 6-21 aus der Lutherbibel 2017:

Ich bin der Herr, dein Gott, der dich aus Ägyptenland geführt hat, aus der Knechtschaft. Du sollst keine anderen Götter haben neben mir.
Du sollst dir kein Bildnis machen in irgendeiner Gestalt, weder von dem, was oben im Himmel, noch von dem, was unten auf Erden, noch von dem, was im Wasser unter der Erde ist. Du sollst sie nicht anbeten noch ihnen dienen. Denn ich, der Herr, dein Gott, bin ein eifernder Gott, der die Missetat der Väter heimsucht bis ins dritte und vierte Glied an den Kindern derer, die mich hassen, aber Barmherzigkeit erweist an vielen Tausenden, die mich lieben und meine Gebote halten.
Du sollst den Namen des Herrn, deines Gottes, nicht missbrauchen; denn der Herr wird den nicht ungestraft lassen, der seinen Namen missbraucht.
Den Sabbattag sollst du halten, dass du ihn heiligst, wie dir der Herr, dein Gott, geboten hat. Sechs Tage sollst du arbeiten und alle deine Werke tun. Aber am siebenten Tag ist der Sabbat des Herrn, deines Gottes. Da sollst du keine Arbeit tun, auch nicht dein Sohn, deine Tochter, dein Knecht, deine Magd, dein Rind, dein Esel, all dein Vieh, auch nicht dein Fremdling, der in deiner Stadt lebt, auf dass dein Knecht und deine Magd ruhen gleichwie du. Denn du sollst daran denken, dass auch du Knecht in Ägyptenland warst und der Herr, dein Gott, dich von dort herausgeführt hat mit mächtiger Hand und ausgerecktem Arm. Darum hat dir der Herr, dein Gott, geboten, dass du den Sabbattag halten sollst. 
Du sollst deinen Vater und deine Mutter ehren, wie dir der Herr, dein Gott, geboten hat, auf dass du lange lebest und dir’s wohlgehe in dem Lande, das dir der Herr, dein Gott, geben wird. 
Du sollst nicht töten.
Du sollst nicht ehebrechen.
Du sollst nicht stehlen.
Du sollst nicht falsch Zeugnis reden wider deinen Nächsten.
Du sollst nicht begehren deines Nächsten Frau.
Du sollst nicht begehren deines Nächsten Haus, Acker, Knecht, Magd, Rind, Esel noch alles, was sein ist.

Gott erscheint und spricht. Nicht zu einzelnen, die sich dann Fragen zu ihrer geistigen Gesundheit gefallen lassen müssten, sondern zu allen gleichzeitig, so dass jeder seinen Nachbarn fragen kann, ob er dasselbe gehört hat. Und dass auch in Zukunft kein Zweifel aufkommt, schreibt Gott das Gesprochene eigenhändig auf zwei Steintafeln, als Bundesurkunde. Noch stärker lässt sich die Bedeutung dieser Gebote nicht unterstreichen. Die Tafeln wurden in der Bundeslade getragen und im Allerheiligsten zunächst der Stiftshütte, später des Tempels aufbewahrt. Sie standen für die Gegenwart Gottes selbst. Im Tempel wurden sie jeden Morgen rezitiert. Viele der Ge- und Verbote in den fünf Büchern Mose lassen sich unmittelbar aus den zehn Geboten ableiten. Die zehn Gebote sind Kern auch der christlichen Ethik, so unklar sonst auch das Verhältnis zum mosaischen Gesetz ist. Jesus nennt sie ausdrücklich als Voraussetzung für ein gottgefälliges Leben (Mk 10,19) und er zitiert sie immer wieder einzeln. Das Doppelgebot der Liebe kann als Zusammenfassung der zehn Gebote betrachtet werden.

Die zehn Geboten sind uns direkt gegeben, ohne jede Vermittlung. Wenn man sich fragt, was denn eigentlich Gott von uns will, geben sie eine gute, praktische, aber auch verbindliche Antwort. Vielleicht ist es nicht für die ganze Antwort, aber wie immer diese lauten mag: die zehn Gebote sind ein wichtiger Teil. Die Beziehung mit Gott ist ein Bund, und ein Bund hat zwei Seiten. In den Tagen, seit ich den Vers gezogen hatte, habe ich sie jeden Morgen gelesen, sozusagen als Morgengebet.

Heute ist Weihnachten. Das Jahr endet und ein neues beginnt. Worauf kommt es an, worauf soll es ankommen? Ich wünsche uns schöne Feiertage und eine gute und ruhige Woche bis zum Jahresende, in Gottes Schutz,
Ulf von Kalckreuth

Bibelvers der Woche 52/2020

Und er ging zu Hagar, die ward schwanger. Als sie nun sah, dass sie schwanger war, achtete sie ihre Frau gering gegen sich.
Gen 16,4

Hier ist ein Link für den Kontext des Verses, zur Lutherbibel 1984.

Maschine und Keil

Im Jahr 1985 veröffentlichte Margaret Atwood einen Roman, der später verfilmt wurde und als Vorlage für eine Serie diente. Der deutsche Titel lautet Der Report der Magd. Aufgrund chemischer, bakteriologischer und radioaktiver Verseuchung sinkt die Fruchtbarkeit der Menschen in den USA drastisch. In der Folge wird Fruchtbarkeit wichtiger als alles andere. Eine christlich-fundamentalistische Gruppierung übernimmt die Macht und verwandelt das Land in einen Gottesstaat. Die Frau wird auf ihre Funktion als Gebärerin fokussiert und beschränkt. Frauen verlieren ihre bürgerlichen Rechte. Sie sind dabei aber ausgesprochen ungleich. Während Ehefrauen den höchsten Status einnehmen, gibt es neben einer Kaste von Unberührbaren auch „Mägde“. Das sind Frauen, die wegen ihrer Fertilität in ein spezielles Dienstverhältnis zu Angehörigen der Elite gestellt werden und diesen Kinder gebären sollen. Atwood erzählt ihre Geschichte aus der Sicht einer Magd.

Die Welt Abrahams, vielleicht 4000 Jahre vor unserer Zeit, ist nicht weit weg von Atwoods Fiktion. Abraham ist Chef eines großen halbnomadischen Clans. Unter seinem Befehl stehen so viele waffenfähige Knechte (Gen 14,14), dass er damit kleine Kriege führen kann. Er und seine Frau Sara sind alt geworden und trotz einer Zusage Gottes immer noch kinderlos. Im Clan sind Kinder alles: sie tragen die kollektive Identität fort und stützen die Erwachsenen im Alter, stehen für Wehrhaftigkeit und Vitalität, mit ihnen steht und fällt der Status der Frauen. 

Sara gibt auf und bietet Abraham ihre ägyptische Magd Hagar als Zweitfrau an, sie soll ihm an ihrer Statt Kinder gebären. Das war in solchen Fällen ein gängiges Verfahren, auch die beiden Ehefrauen Jakobs lassen sich von ihren Mägden helfen. Die Ehe wird geschlossen und vollzogen, Hagar wird schwanger. Sofort entsteht ein Konflikt zwischen den Frauen — das ist der gezogene Vers. 

Wir sind hier im Inneren einer Maschine, der Clanwelt, wo ein Rädchen ins andere greift, und die Akteure wenig Wahlmöglichkeiten haben. In dem Moment, als Hagars Schwangerschaft offenbar wird, nimmt Sara einen Wandel an ihrer Magd wahr — sie achte ihre Herrin gering. Es ist nicht wichtig, ob Hagar sich tatsächlich anders verhält oder ob sich Saras Wahrnehmung ändert — beide sind in ihrer Rolle gefangen. Die Schwangerschaft bedeutet für die Sklavin einen ungeheuren Bedeutungszuwachs und für die Herrin ist sie eine Bedrohung. Sie interveniert bei Abraham, und der sagt einen Satz, der Hagars Tod bedeuten könnte: „Siehe, deine Magd ist unter deiner Gewalt: tu mit ihr, wie dir’s gefällt!“ Sara drangsaliert ihre Sklavin derart, dass diese das Lager flieht. 

Des Herrn Engel findet sie an einer Wasserquelle in der Wüste und bedeutet ihr, zurückzugehen und sich unter das Joch ihrer Herrin zu beugen. Sie folgt und bringt ihren Sohn Ismael zur Welt. Der Name des Kindes bedeutet „Gott hört“. Gen 21 erzählt, wie sich viele Jahre später das Geschehen verschärft wiederholt. In höchstem Alter bringt Sara selbst ihren Sohn Isaak zur Welt, und nun kennt ihre Eifersucht keine Grenzen: der erste Sohn und ihre Mutter müssen weg. Abraham willigt ein, und Hagar und ihr Sohn werden in die Wüste geschickt. Hagar legt ihren Sohn unter einen Strauch und setzt sich einen Bogenschuss entfernt hin, um das Weinen des sterbenden Kindes nicht hören zu müssen. Eine unfassbare, herzzerreissende Szene.

Gott hat alles zugelassen und gar noch Abrahams Zweifel zerstreut. Nun wird er im Wortsinn Deus ex Machina — die Maschine wird angehalten und aufgebrochen. Eine Quelle bricht hervor, mitten in der Wüste, und Gott sagt Hagar zu, auch ihr Sohn werde der Vater eines großen Volks von zwölf Fürsten. Es ist das arabische Volk, das sich auf Ismael zurückführt, etwa 370 Millionen Menschen sprechen heute die arabische Sprache.

Der gezogene Vers berichtet von einem Kind und seiner unglaublichen Geburt. Bei der Geburt Ismaels war Abraham sechsundachtzig Jahre alt. Der Vers für sich selbst hat dennoch nichts weihnachtliches. Die Maschine rattert und klickt wie gewohnt, selbst unter außergewöhnlichen Umständen. Das ändert sich erst, als der Herr selbst in sengender Wüste einen Keil hineinwirft…!

عيد ميلاد سعيد — so schreibt man „Frohe Weihnachten“ auf arabisch!

Ulf von Kalckreuth

Bibelvers der Woche 51/2020

…, Ziklag, Beth-Markaboth, Hazar-Susa,…
Jos 19,5

Hier ist ein Link für den Kontext des Verses, zur Lutherbibel 1984.

Uns bleiben nur nackte Namen

Drei Namen nur. Angespülte Fragmente eines uralten Heilsversprechens. Erinnern Sie sich an den Vers der Woche 43/2020, vor zwei Monaten? Der Herr gebot Josua, das eroberte Land gemeinsam mit dem noch nicht eroberten Land per Losverfahren an die Stämme Israels auszuteilen. Im Vers dieser Woche werden nun Ortschaften benannt, die an den Stamm Simeon gehen sollen. Vor fast genau zwei Jahren, in Woche 50/2018, hatten wir schon einmal einen Vers aus dem selben Abschnitt, der gleichfalls eine Aufzählung von Orten beinhaltete; sie waren für den Stamm Naphtali bestimmt. 

Ich habe eine Entdeckung gemacht. Ziklag wird auch unter den Städten genannt, die in Jos 15,20ff dem Stamm Juda zugeteilt werden. Die Schrift „erklärt“ diese und andere Doppelungen: Das Land des Stamms Simeon liege inmitten der Lande der Judäer (Jos 19,1) — es sei aus dem Erbteil der Judäer genommen, weil diese nicht zahlreich genug waren, ihren Anteil auszufüllen (Jos 19,9). Das klingt ganz nach einer vorübergehenden Lösung. Ein Blick auf die Karte zeigt, worum es geht. Simeon ist eine relativ kleine und wüstenhafte Enklave inmitten des Gebiets von Juda. Vielleicht wurde Simeon bei der Expansion Judas umschlossen, vielleicht waren die Bewohner an das Leben in der Wüste in einer Weise angepasst, die sie von den Judäern trennte? Unten ist ein Bild aus Mamshit, eine Stadt der Nabatäer in dem Gebiet von Simeon, mehr als tausend Jahre später. 

Mamshit, April 2017 Ulf von kalckreuth
Mamshit, April 2017, Ulf von Kalckreuth

Der Stamm Simeon hat etwas eigentümlich ephemeres: Bei der vermutlich ältesten Auflistung der Stämme Israels, im Lied der Deborah, ist Simeon nicht vertreten, auch beim Segen des Mose wird der Stamm nicht genannt. In den späteren Schriften der Prophetenzeit fehlt er wiederum: Simeon wird daher gemeinhin unter die verschwundenen zehn Stämme gerechnet. Die Existenz des Königreichs Juda, in dessen Gebiet Simeon lag, ging aber erst mit der Invasion der Babylonier zu Ende. Simeon muss also irgendwann in Juda aufgegangen sein. Die Bevölkerungsgruppe hatte den Status eines Stammes Israels wohl nicht immer und behielt ihn nicht dauerhaft. 

„Die Rose von einst steht nur noch als Name, uns bleiben nur nackte Namen“. So endet Der Name der Rose von Umberto Eco. In der Offenbarung des Johannes, am Ende des Neuen Testaments, wird Simeon wieder genannt als einer der zwölf Stämme, die das Reich Gottes erben werden. Und der Vorname Simon ist im jüdischen und im christlichen Kontext unvergessen und wichtig. Was bedeutet das für das große Versprechen, die Verteilung von Land an die Stämme? 

Die Botschaft der Verheissung selbst ist ewig, nicht die Realität der Zuordnung. Verheissung auf ihren Kern reduziert. Unser Vers verbindet die Namen von Ortschaften, die heute zumeist längst verfallen sind, auf ewig mit dem Namen eines Stammes, den es nicht sehr lange gab.

Wenn man dazu bereit ist, kann man hinter den kargen Namen unseres Verses eine weihnachtliche Botschaft finden. Wir haben in Woche 43/2020 gesehen, dass die Verteilung des Heiligen Lands im Wesenskern ein Versprechen ist, mit überzeitlichem Charakter. Es bezieht seine Realität daraus, dass Menschen ihm glauben und folgen. Das gilt auch für das große Heilsversprechen, für welches das Weihnachtsfest steht. Dies Versprechen selbst ist ja eigentümlich unbestimmt. Könnten Sie es mit Alltagsvokabular benennen? Aber es ist wie ein Placebo mit kosmischer, realitätserschütternder Kraft — wahr wird es, wenn und soweit wir ihm folgen. Da sind Jesus und das Neue Testament sehr deutlich. Wer die Verheissung annimmt, sieht sie in Erfüllung gehen. In je eigener Weise, vielleicht sieht jeder etwas anderes. 

O come, o come, Immanuel… 

Ich wünsche uns allen eine gesegnete dritte Adventswoche, und
חג חנוכה שמח
Ulf von Kalckreuth

Bibelvers der Woche 50/2020

Sie ist edler denn Perlen; und alles, was du wünschen magst, ist ihr nicht zu vergleichen.
Spr 3,15

Hier ist ein Link für den Kontext des Verses, zur Lutherbibel 1984.

Vom Wert der Weisheit

Oh, das wird nicht einfach. Der Vers stammt aus dem Buch der Sprüche, einem Stück der Weisheitsliteratur. Er hat die Weisheit selbst zum Thema und benennt ihren Wert. Ein Vater spricht zu seinem Sohn (3,13-18): 

Wohl dem Menschen, der Weisheit erlangt, 
und dem Menschen, der Einsicht gewinnt!
Denn es ist besser, sie zu erwerben, als Silber, 
und ihr Ertrag ist besser als Gold.
Sie ist edler als Perlen, 
und alles, was du wünschen magst, ist ihr nicht zu vergleichen. 
Langes Leben ist in ihrer rechten Hand, 
in ihrer Linken ist Reichtum und Ehre. 
Ihre Wege sind liebliche Wege, 
und alle ihre Steige sind Frieden. 
Sie ist ein Baum des Lebens allen, die sie ergreifen, 
und glücklich sind, die sie festhalten.

Diese Sätze sind zentral. In 8,10f. werden sie fast wörtlich wiederholt, und dort spricht die Weisheit selbst. Der Vergleich mit Silber und Gold taucht darüber hinaus noch zwei weitere Male auf.

Bei mir haben die Sätze nicht sofort verfangen. Ich war sogar erst ein wenig enttäuscht. Was sollte ich dazu schreiben? Man soll klug sein, ja, das habe ich schon als Schüler gelernt. Um den Wert des Wissens wusste ich stets, und immer wieder im Leben war ich bereit, dafür auch Verzicht zu leisten. Nicht nur um den Ertrag von Studien geht es: wem die Übersicht fehlt, wer die Vorgänge in seiner Umgebung nicht einordnen kann, ist schnell verloren. Ökonomen bezeichnen den Wert der Kenntnisse und Fähigkeiten eines Menschen als sein „Humankapital“: es sind Mittel zur Erzielung von Einkommen. Die Schule, eine Ausbildung, Lernen, Üben werden als Investition betrachtet: Heute auf Silber und Gold verzichten, um morgen erweiterte Möglichkeiten zu haben. So ist die Welt tatsächlich, und die einfache Idee hat gewaltige Implikationen für das Verständnis der Verteilung der Einkommen und der Lebenschancen. Nicht jedem gefällt die Vorstellung. Im Jahr 2004 wurde „Humankapital“ gar zum Unwort des Jahres gekürt. Eine Schwundstufe der Idee habe ich vergangenen Mittwoch in einer S-Bahn gefunden: eine Personalwerbung der hessischen Finanzverwaltung. Hier ist ein Bild:

S5 nach Friedrichsdorf/Taunus

Nun IST aber Humankapital Gold und Silber, es will gerade NICHT etwas anderes sein. Hier und an anderen Stellen spricht der Bibeltext — bzw. ein Mensch dahinter — wahrhaft euphorisch, beinahe trunken über den Wert der Weisheit. Sie ist Emanation Gottes, wie sonst die Torah, und kein Superlativ genügt — alles, das du dir wünschen magst, ist ihr nicht zu vergleichen. Es geht also um mehr. Was hat es auf sich mit der Weisheit? Lassen Sie uns nachdenken.

„Ich, die Weisheit, wohne bei der Klugheit und finde Einsicht und guten Rat“ heisst es in 8,12. Weisheit und Klugheit sind verwandt, aber nicht dasselbe. Das Buch der Sprüche ist ein Lehr- und Lernbuch, die Spruchsammlungen sind Vorlage fürs Auswendiglernen. Der Lehrer und die Lehre dazu fehlt uns, und so wirkt die in Sprüchen geronnene Weisheit manchmal dröge. Man sollte nicht viele davon schnell hintereinander lesen. Überwiegend folgen die Merksätze einem gemeinsamen Schema: für eine Eigenschaft, Gewohnheit, Einsicht oder Maxime wird in einem Doppelvers festgestellt, wie es dem geht, der ihnen folgt, und andererseits demjenigen, der dies nicht tut. Dabei sind oft Dinge angesprochen, die ich der Lebensklugheit zuordnen würde — wir sollen nicht bürgen, nicht offen schlecht über Mächtige reden, Prahlerei vermeiden, Streit aus dem Weg gehen, wir sollen Fleiß und Zielstrebigkeit entfalten. Manches klingt wie der Rat, sich regelmäßig die Zähne zu putzen. Anderes betrifft Gegenstände, die wir der Ethik zuordnen würden. Immer wieder wird vor den verderblichen Folgen des Ehebruchs gewarnt. Ehrlichkeit und Authentizität wird groß geschrieben, das Ränkeschmieden verdammt. Die überragende Bedeutung der Eltern für das Leben wird betont, und Neid und Missgunst in allen Facetten angeprangert. Dabei fällt die Nähe zu den zehn Gebote auf.  

In der undifferenzierten Mischung steckt die wichtigste Botschaft. Zwischen Lebensklugheit und Ethik besteht kein Widerspruch — sie sind gar ein und dasselbe, wenn man das Leben versteht. Wir sollen klug und umsichtig sein, die Zeichen der Zeit erkennen, ja. Aber wer seine Eltern verachtet, lügt oder die eigene Ehe mißachtet, wird sein Leben nachhaltig beschädigen, gerade so, wie wenn er faul in den Tag hinein lebt oder leichtfertig Bürgschaften übernimmt. Gottes Gebote sind Rezepte für ein gelingendes Leben. Wir nehmen uns nicht nur unserem Nächsten zuliebe zurück, wir tun es in erster Linie für uns selbst. Gott wird im Buch nur sehr gelegentlich als strafende Instanz angesprochen, meist ist er Beobachter oder Zeuge der Vorgänge. Ethik und Lebensklugheit gehören zusammen und sind gemeinsam Voraussetzung für ein gelungenes Leben. 

Wer sie als Gegensätze sieht, ist schnell bei einer Ethik nach Kassenlage und hält Prinzipien hoch, wenn und solange er sie sich leisten kann. Wir sollen stattdessen das Netz weiter werfen, über den scheinbaren Gegensatz hinaus Wege finden, auf denen der Zusammenklang gelingt. Solche Wege zu kennen und zu finden ist in der Tat mehr wert als Gold, Silber und Perlen. 

Ich lebe in einer Familie mit zwei Kindern, die nun in der dunklen Jahreszeit weitgehend auf sich selbst gestellt ist. Den Kindern fehlen Bewegungsmöglichkeiten und Ablenkung. Der Stresspegel ist hoch. Vier Monate Corona-Winter mit langen Ferien liegen vor uns. Da liegt es nahe, die Warnungen zu ignorieren und Winterurlaub in den Alpen zu machen. Die Schweiz lädt herzlich ein, und Geld ist gottlob da. Hier steht Ethik gegen Lebensklugheit, nicht wahr? Aber vielleicht verwirklichen wir stattdessen einen alten Traum und nehmen einen Hund aus dem Tierheim zu uns. Wir werden täglich stundenlang draussen sein, das Tier wird viel der Aufmerksamkeit auf sich ziehen, die wir sonst mißvergnügt gegeneinander richten würden. Dem Hund mag es Einstieg sein in ein besseres Leben, und uns können die einfachen, aber unabweisbaren Forderungen der Tierpflege helfen, mehr Struktur ins virtuell gewordene Leben zu bringen. Und ins Skihotel können wir mit dem Tier gar nicht…

Was würde das Buch der Sprüche dazu sagen? Vielleicht, dass wir als Skiurlauber bei der Wiedereinreise sicher einen Corona-Test machen müssen und dann in Quarantäne kommen. Aber meinen würde es damit, dass wir Platz machen sollten in unserem kleinen Haus für einen Hund…  

An manchen Stellen transzendiert das Buch der Sprüche die eigentlich empirisch gemeinte Identität von gottgefälligem Verhalten und Lebensklugheit. Hier ist ein Vers, der mir am Herzen liegt. Vielleicht ist das so etwas wie ein Kondensat des Buchs. Es ist mein Konfirmationsspruch:.  

Befiel dem Herrn deine Werke, so wird dein Vorhaben gelingen. (8,19)

Eine Erinnerung an den Wert der Weisheit kommt stets zur rechten Zeit. Ich wünsche uns eine gesegnete zweite Adventswoche.
Ulf von Kalckreuth

Bibelvers der Woche 49/2020

…und Abidan, der Sohn des Gideoni, über das Heer des Stammes der Kinder Benjamin.
Num 10,24

Hier ist ein Link für den Kontext des Verses, zur Lutherbibel 1984.

Auf dem Weg

Wir bewegen uns weiterhin in der Torah — in den letzten drei Wochen hatten wir nacheinander Verse aus den Büchern Genesis, Exodus und Leviticus. Nun also Numeri, und immer noch die Wüste.  Aus Numeri 10 hatten wir schon einmal gezogen; erinnern Sie sich an die schöne Stelle mit den zwei Trompeten in Woche 17/2019? Nun erleben wir die Trompeten in Aktion — es wird der Aufbruch vom Sinai beschrieben, der Beginn der langen, kreisförmigen Wanderung. 

Die Wolke, die für die Gegenwart Gottes steht, erhebt sich von der Stiftshütte — vor zwei Wochen erst hatten wir ihrem Bau beigewohnt. Die Hütte wird zerlegt und getragen. Für die Stiftshütte selbst sind andere Gruppen verantwortlich als für die schweren heiligen Geräte. Die Heerscharen der einzelnen Stämme brechen nacheinander auf, nach Stämmen und Heeresgruppen getrennt. Die jeweiligen Führer der Großverbände werden genannt — unser Vers bezeichnet den Aufbruch des Stammes Benjamin unter der Leitung von Abidan. Die Wolke indiziert einen neuen Ort, die Stiftshütte wird dort aufgebaut und die heiligen Geräte folgen. Die Wanderung des ganzen Volks wird angeführt von der Bundeslade.

Dies ist ähnlich wie beim Zug aus Ägypten hin zum Sinai, und doch ganz anders. Auf dem Weg aus Ägypten durch das Schilfmeer in die Wüste hatte die Wolke tags geführt und eine Feuersäule nachts. Immer noch sind die Israeliten in der Wüste und wandern. Aber als Ergebnis der Offenbarung gibt es nunmehr die Lade mit ihren Gesetzestafeln und die Stiftshütte mit dem Allerheiligsten und den Kultgegenständen, mit genauen Anweisungen für ihren Gebrauch. Eine neu gestiftete, geoffenbarte Religion — sie ist gleichzeitig Staats- und Zivilordnung — verbindet die Stämme. Als entlaufende Bausklaven waren sie zum Sinai gekommen, nun sind sie Nation, die sich auf eine Landnahme vorbereitet. Verband nach Verband bricht auf, in fester Ordnung, verlässt das Lager, zieht gemeinsam, lässt sich wieder nieder. 

Und so wird es bleiben während der nächsten vierzig Jahre. Die Wanderung, zunächst Übergang von einem Ort zum anderen, wird selbst Heimat. Fast alle, die wir hier aufbrechen sehen, werden auf der Wanderung ihr Leben beenden,. Erst die Kinder und Kindeskinder erreichen das versprochene Land. 

Das kann ein Bild für das Leben sein. Sie sind auf dem Weg. Die Orte, an denen sie sich aufhalten, sind vorläufig und letztlich unwichtig. Ihre eigentliche Realität tragen sie mit sich: Gott, das Gesetz und die Beziehungen untereinander. An „Social Distancing“ ist nicht zu denken — das Lagerleben ist eng, und in der Wüste ist die Sippe lebensnotwendig. 

Ein faszinierendes, sehr altes Bild. Und es ist so gar nicht das, was wir zu leben versuchen. Ist das gut für uns oder schlecht? Was soll unser Leben sein, Zustand oder Weg? Ein Zustand, als „So-sein“, ist seinem Wesen nach vergänglich. Wege können viel dauerhafter sein: die Römerstraßen und die antiken Handelswege werden oft heute noch genutzt. Der Begriff ‚Ewigkeit‘ ist für mich Chiffre eher für einen Weg als für einen Zustand.

Auf unserer Reise wünsche ich uns eine gesegnete Woche,
Ulf von Kalckreuth

Bibelvers der Woche 48/2020

Es ist euer großer Sabbat, dass ihr eure Leiber kasteiet. Am neunten Tage des Monats zu Abend sollt ihr diesen Sabbat halten, von Abend an bis wieder zu Abend.
Lev 23,32

Hier ist ein Link für den Kontext des Verses, zur Lutherbibel 2017.

Jom Kippur

Der Vers und sein Umfeld setzen das höchste der jüdischen Feiertage ein — Jom Kippur, den Versöhnungstag. Es ist eines der drei „Hohen Feiertage“, die im frühen Herbst dicht aufeinanderfolgen und zu denen außerdem Rosch ha-Schana, das jüdische Neujahrsfest und Sukkot, das Laubhüttenfest gehören. Haben wir den Vers also zur Unzeit gezogen? 

Der Versöhnungstag der Juden ist ein strenger Buß- und Fastentag, Höhepunkt von zehn Tagen, die der Reue und der Umkehr gewidmet sind. Es geht um Gottes Gericht und um Entsühnung. Man sagt, Gott öffne zu Beginn des Jahres drei Bücher: eines für die ganz schlechten Menschen, eines für die Heiligen und eines für diejenigen, die weder das eine noch das andere sind. Die Schicksale der ersten beiden Gruppen stehen von vornherein fest, über die letzte Gruppe, zu der wir alle wohl gehören, wird zu Jom Kippur entschieden. Das ist ein altes Bild, es findet sich ähnlich bei Daniel und fast ebenso in der Offenbarung des Johannes, 20,11f: 

Und ich sah einen großen, weißen Thron und den, der darauf saß; vor seinem Angesicht flohen die Erde und der Himmel, und es wurde keine Stätte für sie gefunden. Und ich sah die Toten, Groß und Klein, stehen vor dem Thron, und Bücher wurden aufgetan. Und ein andres Buch wurde aufgetan, welches ist das Buch des Lebens. Und die Toten wurden gerichtet nach dem, was in den Büchern geschrieben steht, nach ihren Werken

Ein Gebet, das „Unetaneh tokef“, wird zu Neujahr und an Jom Kippur gesprochen, darin heisst es: 

An Rosch ha-Schana wird es eingeschrieben, und an Jom Kippur wird es besiegelt – wie viele vergehen und wie viele geboren werden, wer leben und wer sterben wird, wer zu seiner Zeit und wer durch einen vorzeitigen Tod, wer durch Wasser und wer durch Feuer, wer durch Schwert und wer durch wildes Tier, wer durch Hunger und wer durch Durst, wer durch Erdbeben und wer durch Pest, wer durch Erwürgen und wer durch Steinigung stirbt, wer in Ruhe leben wird und wer herumirren muss, wer in Frieden leben wird und wer verfolgt wird, wer heiter sein kann und wer gequält wird, wer verarmt und wer reich wird, wer entwürdigt und wer erhöht wird. Aber Buße, Gebet und Rechtschaffenheit können die Schwere des Urteils abwenden.

Fällt Ihnen auf, wie sehr dies den Versen aus Kohelet gleicht, aus denen wir in Woche 44/2020 gezogen haben? Leonard Cohen hat das Gebet als Who by fire vertont. Jom Kippur ist ein Gedenken an das persönliche Ende und das Ende der Welt, wie wir sie kennen.

Ins Christentum hat Jom Kippur keinen Eingang gefunden. Oder doch? Das Lebensgefühl des Tags hat Ähnlichkeit mit Karfreitag. An diesem Tag geht für Christen eine Welt zu Ende, ohne dass die andere schon begonnen hätte. Unterer Totpunkt. Inhaltlich gibt es eine Entsprechung gerade in diesen Tagen. Vergangenen Mittwoch war Buß- und Bettag, und evangelische Christen feiern morgen Ewigkeitssonntag und Totensonntag. Der Totensonntag blickt zurück auf die Menschen, die von uns gegangen sind, und gleichzeitig, am selben Tag, blickt der Ewigkeitssonntag nach vorn. 

Also doch ein Vers für diese Woche. Zu Jom Kippur wünscht man sich: „Mögest du eingeschrieben und besiegelt sein im Buch des Lebens“. Das wünsche ich von Herzen uns allen in diesen Tagen!
Ulf von Kalckreuth

Bibelvers der Woche 47/2020

Bezaleel, der Sohn Uris, des Sohnes Hurs, vom Stamme Juda, machte alles, wie der HErr dem Mose geboten hatte,…
Ex 38,22

Hier ist ein Link für den Kontext des Verses, zur Lutherbibel 1984.

Eine Flaschenpost

Erinnern Sie sich noch an die Verse der Wochen 24, 25, 26 und 27 dieses Jahres, die alle auf den ersten Tempel Bezug nahmen, seinen Bau, seine Einweihung und seine Zerstörung? Die Abschnitte rund um den Vers dieser Woche lesen sich sehr ähnlich. Aber wir haben aus dem zweiten Buch Mose gezogen, der Schauplatz ist die Sinai-Wüste, ein unwirtlicher Ort, in dem das Volk Israel vierzig Jahre isoliert umherzog.

Und dort, mitten in der Wüste, entsteht etwas, das dem Tempel Salomos gleicht wie ein kleiner Bruder — allerdings, und das ist der springende Punkt, kann es abgebaut und seine Einzelteile auf Rindern und Maultieren transportiert werden. Die Rede ist von der Stiftshütte. Bezaleel ist der Meister, der alles möglich macht, wie ein Zwilling des großen Hiram von Tyros, des Tempelbaumeisters, der die gewaltigen Ressourcen, die Salomo ihm stellte, wie mit Zauberkraft in einen Tempel verwandelte. 

Ich glaube, wir sollen diesen Text nicht als sachliche Beschreibung lesen, so ist er nicht intendiert. Der Bau wäre zu groß, zu schwer und zu teuer für die Wanderer in der Wüste. In den Bau der Stiftshütte seien fast 30 Zentner Gold eingegangen, mehr als 100 Zentner Silber und über 70 Zentner Bronze, rechnet die Bibel vor. Die in die Wüste geflohenen hebräischen Bausklaven können über derartige Mengen Edelmetalls nicht verfügt haben. Das Gewicht allein des Edelmetalls im Bauwerk macht seinen Transport auf der Wanderung unmöglich. Wenige Seiten vorher, in Gen 33,7ff, wird die Stiftshütte denn auch als einfaches Zelt ausserhalb des Lagers beschrieben, in dem Mose sich mit Gott besprach, „wie ein Mann mit seinem Freund redet“. Das Bauwerk Bezaleels ist eine Allegorie. Aber wofür? 

Bezaleel baut etwas, dass zwar in jeder Hinsicht einem Tempel gleicht und dieselben Funktionen erfüllt, aber dezidiert kein Tempel ist. Es geht auch ohne Tempel, sagt uns der Vers, mindestens vorübergehend jedenfalls und in bestimmten Situationen. Die Stiftshütte war Heim der Bundeslade und der Gegenwart des Herrn während der Wüstenwanderung. Wo sie war, war der Herr, und sie zog mit dem Volk. Wichtig war also nicht der Ort, sondern der Bund mit dem Herrn und das Befolgen der Regeln dieses Bundes. Ein greifbares Zeichen für eine Vorstellung, die schwer fassbar war in einer Zeit, als die Macht von Göttern mit Orten und Territorien verbunden wurde. 

Die prachtvolle Stiftshütte Bezaleels, gebaut wie der Herr dem Mose geboten hatte und getragen vom ganzen Volk und nicht von einem König — sie ist eine Botschaft, wie eine Flaschenpost: Der Bund mit dem Herrn ist der Ort, wo ihr ihm begegnet. Bleibt dem Bund treu, und der Herr ist mit euch, wo ihr auch hingeht. 

So sei es für uns auch in dieser Woche! 
Ulf von Kalckreuth

Bibelvers der Woche 46/2020

…dass er viel Gut hatte an kleinem und großem Vieh und ein großes Gesinde. Darum beneideten ihn die Philister.
Gen 26,14

Hier ist ein Link für den Kontext des Verses, zur Lutherbibel 1984.

Vom Zuschütten und vom Wiederausgraben 

Hier zunächst die Ergänzung des Fragments: Und er [Isaak] wurde ein reicher Mann und nahm immer mehr zu, bis er sehr reich wurde, sodass er viel Gut hatte an kleinem und großem Vieh und ein großes Gesinde. Darum beneideten ihn die Philister.

Isaak, einer der Stammväter Israels, macht sich in Kanaan heimisch, das Land, in das sein Vater Abraham eingewandert war. Man sollte sich Abraham, Isaak und Jakob in diesen Erzählungen nicht (nur) als Einzelperson vorstellen: in den Vätergeschichten stehen viele Akteure für größere Gruppen, manchmal ganze Völker. Abraham, Isaak und Jakob sind Protagonisten einer Einwanderung, die zumeist friedlich verläuft, in einer manchmal kritischen, manchmal kooperativen Koexistenz mit dem Völkergemisch Kanaans. Das ist eine Alternative zur Erzählung von der Landnahme mit Feuer und Schwert, siehe den Vers der Woche 33/2019

Die Geschichte, die der Vers einleitet, führt uns mitten hinein. Der steil ansteigende Reichtum Isaaks führt bei der einheimischen Bevölkerung zu Widerstand und Neid. Ein embryonales Pogrom ist die Folge: die Philister schütten Isaaks Brunnen zu, die er braucht, um sein Vieh zu tränken, und König Abimelech zieht seine schützende Hand von ihm ab. Isaak und seine vielen Knechte müssen fortgehen, nach Gerar. Dort gräbt er die Brunnen seines Vaters Abraham wieder aus, die nach dessen Tod gleichfalls zugeschüttet worden waren. Und um die neuen, alten Brunnen gibt es sofort wieder Streit…!

Liest man diese Geschichte von Einwanderung, zunehmendem Reichtum, gewaltsamer Reaktion und erzwungenem Ausweichen im Deutschland der Gegenwart, dann stellen sich unweigerlich Assoziationen ein. Da ist ein uralter Mechanismus, der in vielen Konstellationen und in allen Zeiten funktioniert. Aber nicht immer auf dieselbe Weise: Isaaks Leben unter den Philistern bleibt auf prekäre Weise stabil. Philisterkönig Abimelech schützt ihn wieder, es kommt gar zu einem feierlich beeideten Bund, und Esau, sein erster Sohn, heiratet zwei Töchter aus hetitischen Familien. Das hat seinen Preis: Die Bibel berichtet, dass diese Ehen Anlass für bitteren Gram bei den Eltern Isaak und Rebekka sind. 

Die Vätergeschichten erzählen, wie Einwanderer auf sehr vielfältige Weise auf den Druck der Umwelt reagieren, mal angstvoll oder ausweichend, mal mit Integration, mal auch selbstbewusst und konfrontativ. Gott lässt sie nicht in großen Schlachten siegen, lässt keine Mauern einstürzen. Er hilft beim Überleben in den Gemeinheiten des Alltags und den Rückschlägen einer Existenz am Rand der Mehrheitsgesellschaft. Das Narrativ der Vätergeschichten hat sich in der Bibel nicht durchgesetzt. Der Rest der Thora berichtet von der Zeit mit Gott in der Wüste, einfach und rein, erhaben fast, und ohne Berührung mit den Einwohnern Kanaans. Die Väter und die komplizierte erste Zeit im Heiligen Land voller Kompromisse sind vergessen. Die Landnahme wird schließlich zu einem reinen Gewaltakt. 

In welcher der Großerzählungen können wir Gott klarer sehen? Wenn Menschen meine Brunnen verschütten, möge mich Gott an andere Brunnen erinnern und mir dann die Kraft geben, sie wieder auszugraben!

Gottes Segen sei mit uns in dieser Woche,
Ulf von Kalckreuth

Bibelvers der Woche 45/2020

Gott, du hast mich von Jugend auf gelehrt, und bis hierher verkündige ich deine Wunder.
Ps 71,17

Hier ist ein Link für den Kontext des Verses, zur Lutherbibel 2017.

Kinder, Kindeskinder und ehemalige Kinder

Psalm 71 betet ein Mensch, der alt geworden ist und sich des Bodens versichern will, auf dem er steht, vielleicht neu versichern muss. Der Betende sei für viele wie ein Zeichen, lesen wir. Er ist Tempelmusiker, und diese waren in der ältesten Zeit den Priestern gleichgestellt. Nun ist da die Angst zu fallen, in der zunehmenden Schwäche den Widersachern ein Opfer zu werden. Er will bauen, worauf er immer gebaut hat: auf Gott den Herrn, starker Held. 

Der Vers steht in inniger Beziehung zum folgenden, daher hier beide gemeinsam:

Gott, du hast mich von Jugend auf gelehrt,
und noch jetzt verkündige ich deine Wunder.
Auch im Alter, Gott, verlass mich nicht,
und wenn ich grau werde,
bis ich deine Macht verkündige Kindeskindern
und deine Kraft allen, die noch kommen sollen.

Der Psalmist gelobt Treue — er will nicht aufhören, Gottes Wunder zu verkündigen — und er bittet seinerseits um die Treue Gottes, damit er dies Werk noch bei den Kindeskindern fortsetzen kann. Das ist der Bundesgedanke, einfacher kann man ihn nicht ausdrücken. 

Da ist ein Lebenszyklus: Der Betende hat in seiner Jugend empfangen, Gott hat ihn gelehrt, und was er gelernt hat, gibt er nun weiter und will dies auch in Zukunft tun. Scheinbar besteht eine Asymmetrie. Er selbst wurde in seiner Jugend von Gott gelehrt, irgendwie, seine Kinder und Kindeskinder aber erhalten ihr Wissen vermittelt durch ihn, den Psalmisten. Das „irgendwie“ ist entscheidend: man kann sich vorstellen, dass auch das Wissen des Psalmisten durch Menschen vermittelt wurde. Aber von Gott mag es dennoch stammen — ist es denn zufällig, wem wir begegnen und wer Einfluß auf uns hat?

Die zehn Gebote stehen in einer gewissen Ordnung. Die ersten drei beziehen sich auf das Verhältnis zwischen Mensch und Gott, die anderen sieben auf das Verhältnis von Menschen untereinander. Das vierte Gebot — Du sollst Vater und Mutter ehren! — ist eine Art Bindeglied. Ein jüdischer Freund erklärte mir, warum. Wir beziehen unser Wissen über Gott und seine Gebote von den Eltern, und sie stehen daher zwischen uns und dem Schöpfer. Ausserdem, so würde ich ergänzen, sind die Eltern sehr unmittelbar Werkzeug der Schöpfung: Der Mensch ist zunächst einmal nach dem Bild der Eltern geschaffen. Biologisch, sprachlich, mental, sozial, materiell, spirituell. Dieser Umstand erlegt den Eltern große Verantwortung auf und Ökonomen wissen, dass er Quelle großer Ungleichheit, vielleicht auch Ungerechtigkeit sein kann.

Wenn das so ist, mag man sich fragen, warum es kein Gebot für die Eltern gibt, sich um ihre Kinder zu kümmern und ihnen Wissen von Gott und der Welt zu vermitteln. Eine solche Weisung könnte im vierten Gebot selbst angelegt sein: Wenn Gott von den Kindern fordert, die Eltern zu ehren, fordert er gleichzeitig von den Eltern, ihren Kindern festen Grund zu geben. Oder setzt Gott voraus, dass sie das tun, weil es in biblischer Zeit Selbstaufgabe bedeutet hätte, sich nicht um seine Kinder zu kümmern? Oder ehren wir Eltern und Gott gerade dadurch, dass wir den manchmal steinigen Weg mit den Kindern bereitwillig gehen? Der Dienst am Kind als Dienst an Gott? Dann gar als Ausprägung des ersten Gebots? In den beiden Versen oben kann ich das deutlich lesen.  

Der Psalmist sieht sich als Empfangender und Gebender zugleich. Und wenn wir richtig zuhören, können wir auch selbst von unseren Kindern lernen. Kennen Sie das Lied Teach your children well? Ich wünsche uns, unseren Eltern und unseren Kindern eine Woche in Gottes Segen,
Ulf von Kalckreuth