Und man setzte sie ihm gegenüber, den Erstgeborenen nach seiner Erstgeburt und den Jüngsten nach seiner Jugend. Des verwunderten sie sich untereinander.
Gen 43,33
Hier ist ein Link für den Kontext des Verses, zur Lutherbibel 2017.
Unverfügbar
Im September des vergangenen Jahrs hatten wir in Woche 36 einen Vers aus der Josephsgeschichte gezogen. Josephs Verwalter durchsucht das Gepäck der Brüder, bis er zuletzt den „gestohlenen“ Becher bei Benjamin findet. Zutiefst entehrt müssen die Brüder dem Verwalter folgen, als Gefangene. Die Betrachtung dazu enthält eine Einführung in die Josefsgeschichte.
Der jetzt gezogene Vers aus Genesis ist kurz vorher zu finden. Auf ihrer zweiten Fahrt nach Ägypten werden die elf Brüder an den Tisch Josephs mit den ägyptischen Würdenträgern geladen. Trennung und Machtgefälle werden deutlich. Joseph, die Ägypter und die Brüder erhalten je eigene Speisen, denn die Ägypter essen nicht mit den Hebräern, und Joseph als Vizekönig hat gesellschaftlich keine Gemeinsamkeit mit den Bittstellern aus Palästina. Aber Joseph tut etwas, das alle Anwesenden verblüfft. Den Ehrenplatz ihm gegenüber vergibt er doppelt: an den ältesten und den jüngsten der Söhne, Ruben und Benjamin. Ruben ist erstgeborener Sohn und Haupt der Sippe in Abwesenheit des Vaters. Benjamin ist der zweite Sohn von Rachel, er hat also als einziger nicht nur denselben Vater wie Joseph, sondern auch dieselbe Mutter. Und Joseph lässt den Brüdern von seinem Essen geben, Benjamin aber fünfmal mehr als den anderen. Mit der doppelten Besetzung des Ehrenplatzes achtet Joseph formal das Erstgeburtsrecht Rubens, gibt aber gleichzeitig seinen Präferenzen Raum.
Dem Erstgeburtsrecht kommt in der Kultur der Hebräer ein geradezu verfassungsmäßiger Rang zu. Der Erstgeborene erhält den doppelten Erbteil und auf ihm ruht ein besonderer Segen. Er gehört Gott dem Herrn selbst und mußte durch ein besonderes Opfer ausgelöst werden — hier werden archaische Abgründe sichtbar. Die Erstgeburt berechtigt zur Priesterschaft und zur Stellvertretung des Vaters, solange Geschwister zusammenleben. Einfache Regeln haben eine wichtige friedensstiftende Funktion. Für das Recht der ersten Geburt gilt dies in besonderer Weise. Die Erbfolgekriege der Geschichte zeigen, was geschieht, wenn die einfachen Regeln versagen.
Die Regel wird jedoch in den Vätergeschichten immer wieder durchbrochen. In Kap. 49, am Ende der Josephgeschichte, benennt Jakob auf dem Totenbett das Erstgeburtsrecht Rubens ausdrücklich: „Ruben, mein erster Sohn bist du, meine Kraft und der Erstling meiner Stärke, der Oberste in der Würde und der Oberste in der Macht“. Das ist fast wie eine Definition. Im nächsten Atemzug aber entzieht er Ruben ebendieses Recht: „Du sollst nicht der Oberste bleiben, denn du bist auf deines Vaters Lager gestiegen, daselbst hast du das Bett entweiht, das du bestiegst.“Jakob gibt das Erstgeburtsrecht an Joseph, den er mit seinen Söhnen Ephraim und Manasse doppelt erben lässt. Was Jakob tut, ist nur wegen einer schweren sittlichen Verfehlung möglich, grundsätzlich war es nach hebräischem Recht ausdrücklich verboten. 5. Mose 21,15-17 bestimmt, dass ein Vater, der einen Erstgeborenen von einer ungeliebten Frau hat, auf keinen Fall das Recht der Erstgeburt an ein Kind der von ihm geliebten Frau weitergeben darf. Vielleicht bereitet der gezogene Vers mit dem geteilten Ehrenplatz den Entzug von Rubens Erstgeburtsrechts symbolisch vor.
Mehr solche Brüche gibt es noch. Jakob selbst hat das Erstgeburtsrecht Esaus betrügerisch an sich gebracht. Und für die Folgegeneration zieht er seinen Enkel Ephraim dem erstgeborenen Manasse vor, an Joseph vorbei, gegen dessen Einspruch gar. In der Generation vorher wurden Ismael und seine Mutter Hagar von Abraham und Sarah in die Wüste gejagt. Das Motiv blitzt schon bei Kain und Abel auf: Eigentlich hätte nur Kain das Opfer vollziehen dürfen — den drohenden Verlust seines Erstgeburtsrechts verhindert er auf seine eigene Weise. Auf der Geschichte der Erwählung lastet eine rätselhafte, geradezu unheimliche Spannung, wie zwischen Kontinentalsockeln: ein wirkmächtiges und immer wieder bekräftigtes Prinzip wird immer wieder durchbrochen, in einem Kontext von Gewalt, Schande und Betrug.
Man kann versuchen, in dieser Dialektik von Regel und Verstoß einen in den ältesten Geschichten fortdauernden Rest einer archaischen Ultimogenitur zu finden. Dafür scheint es jedoch keine Belege zu geben. Richtiger ist es vielleicht, in der Bevorzugung der Jüngeren eine ausdrückliche Hervorhebung des Ausnahmecharakters zu sehen. Die Regel und ihre normative Kraft wird genutzt, um das Außergewöhnliche des Vorgangs besonders hervorzuheben. Es mag zwar das Erbe und sogar der väterliche Segen einer einfachen und akzeptierten Regel folgen —für Gott, für Seine Erwählung und für Seine Wege gilt dies aber gerade nicht. Hier gibt es keine Regel, auch nicht die Ultimogenitur, nur Sein Wille; hier gibt es nur Ausnahmen.
Wie mögen Ruben und Benjamin sich gefühlt haben, als sie unvermittelt nebeneinandersaßen, dem fremden Herrscher gegenüber? Wie kamen sie mit den Extraportionen zurecht, die dem Jüngsten vor den Augen seiner Brüder aufgetischt bekam? Der Herr verleihe uns Abstand in dieser Woche, von uns selbst und von unseren Wertungen.
Ulf von Kalckreuth