Allerlei habe ich gesehen in den Tagen meiner Eitelkeit. Da ist ein Gerechter, und geht unter mit seiner Gerechtigkeit; und ein Gottloser, der lange lebt in seiner Bosheit.
Pred 7,15
Hier ist ein Link für den Kontext des Verses, zur Lutherbibel 1984.
Was erwarten wir?
Kohelet, der Prediger, ist ein echter Querdenker. Er ist Empiriker, betrachtet alles genau. Er sieht, dass vieles nur in unserem Kopf existiert, das wir für wahr halten, und unsere Ziele, Absichten, Ideale keinen bleibenden Wert haben. Auch solche nicht, die wir als religiös bezeichnen. Für den Prediger gibt es die Unterscheidung zwischen weltlich und ausserweltlich ohnehin nicht. Die Dinge sind vorbestimmt, Gott lenkt wohl — aber er sagt uns nichts über seine Pläne, wir erkennen sie nicht und das Wirken und Weben der Welt bleibt uns verborgen. So werden unsere großen Ideen „eitel“, der Zeit verfallen, und am besten ist’s, man lebt einfach und im Frieden mit der Welt.
Hier, in unserem Vers, spricht er eine der grundlegenden Wahrheiten an, die vor allem in den Psalmen betont wird. Wer im Bund mit Gott steht, „gerecht“ ist — „Gott liebt und fürchtet“, würde Luther sagen — den beschützt er, dem hilft er gegen seine Feinde, dem gibt er ein langes Leben. Den Gottlosen, Frevlern, Feinden hingegen steht ein schlimmes Schicksal bevor, sie enden in Verzweiflung. Nicht notwendigerweise in der kurzen Frist, so doch aber in der langen. Diesem Grundmuster sind wir im ‚Bibelvers der Woche‘ oft schon begegnet, vor allem in den Psalmen. Es ist dem „Tun-Ergehens-Zusammenhang“ vorgelagert, es beschreibt gewissermaßen das Wesen des Bundes.
Und der Prediger sagt uns hier, so sei es gar nicht, jedenfalls nicht zuverlässig, man beobachte oft genug das Gegenteil. Und er setzt fort:
Sei nicht allzu gerecht und nicht allzu weise, damit du dich nicht zugrunde richtest. Sei nicht allzu gottlos und sei kein Tor, damit du nicht stirbst vor deiner Zeit. Es ist gut, wenn du dich an das eine hältst und auch jenes nicht aus der Hand lässt… (V 16-17a).
Auf Neudeutsch nennt man das 360° — wir sollen auf alles schauen und nichts außer acht lassen, die Gebote Gottes nicht, aber auch nicht die der Welt. Bibel für Anfänger ist das nicht, und ich frage mich gelegentlich, wie der Prediger/Kohelet dort hineingelangt ist. Hier ist ein Link zum BdW 37/2019 mit einer Betrachtung zum Ende von Kapitel 7, und da kann es einem die Schuhe ausziehen.
Aber zurück zum Ausgangspunkt — was erwarte ich, was hoffe ich von Gott? Die Frage mag unziemlich erscheinen, aber die Bibel stellt sie oft genug, und hier liegt sie vor mir, in einem Vers, der kommentiert werden will. „Was er mir gibt, „, könnte die erwachsene Antwort lauten, „er wird’s wohl machen“. Es geht mir eigentlich wie dem Prediger, ich erwarte nicht, dass der Gottesfürchtige allen Lebenskrisen heil entrinnt, und auch nicht, dass denjenigen, der sich Gott nicht verschreibt, immer der Abgrund erwartet. Das entspräche meiner Lebenserfahrung nicht.
Und doch weiss ich mich getragen. Gott war immer da, wenn ich zu ihm rief. In existenziellen Bedrohungen gab es stets einen Weg, auch in Bedrohungen, die ich erst im Nachhinein erkannte. So war es stets, eigentümlich genug, und seit einiger Zeit schon verlasse ich mich darauf. Auch das ist Lebenserfahrung, und ich finde sie in den Psalmen Davids wieder. Ich kann es eigentlich nicht erklären, es liegt sicherlich nicht an meiner Gottesfurcht, mit meiner „Gerechtigkeit“ ist es nicht weit her. Psalm 91,7 sagt, „Auch wenn tausende fallen zu deiner Seite, es wird dich nicht treffen“. Ja, tausende andere fallen, und es sind auch Gottesfürchtige darunter. Das ist ein Rätsel, und ich sehe die Lösung nicht.
Irgendwann wird es auch mich treffen, werden mein Körper, mein Geist oder beides in seinen Funktionszusammenhängen auseinanderbrechen, werde ich „rufen“, wie es im Judentum heißt. Und ich hoffe, ich erwarte, ich glaube, dass Gott dann antwortet.
Dein Segen sei mit uns allen, Herr!
Ulf von Kalckreuth
P.S. Noch ein Gedanke, noch einmal Luther. Die 62. der 95 Thesen, die er an das Tor der Schlosskirche in Wittenberg nagelte, lautet: Der wahre Schatz der Kirche ist das allerheiligste Evangelium der Herrlichkeit und Gnade Gottes. Vielleicht geht es am Ende gar nicht so sehr um uns. Vielleicht geht es um etwas, das an und für sich unendlich kostbar ist!