Bibelvers der Woche 17/2025

Wer dem Armen gibt, dem wird nichts mangeln; wer aber seine Augen abwendet, der wird viel verflucht.
Spr 28,27

Hier ist ein Link für den Kontext des Verses, zur Lutherbibel 1984.

Sehen und leben 

Als ich diesen Vers zog, dachte ich, hier sei nicht viel Arbeit zu tun: er ist selbsterklärend und es gibt keinen Kontext zu erläutern. Das Buch der Sprüche ist eine Sammlung von Merksätzen, die Richtschnur sein sollen für ein gelungenes Leben, und zwischen diesen Merksätzen besteht meist wenig direkte Beziehung. 

Aber gestern, auf dem Fahrrad, stand mir plötzlich der zweite Teil des Verses vor Augen: „Wer aber seine Augen abwendet, der wird viel verflucht“. Die Sprüche lehren manche Verhaltensweisen und warnen vor anderen. Meist werden die positiven bzw. negativen Konsequenzen genannt oder wenigstens angedeutet. Die Sprüche kommen in Doppelversen: Dieselbe Aussage wird zweimal gemacht, oft je einmal positiv und negativ gewendet. Sie wird dabei nicht einfach wiederholt, sondern in zwei Perspektiven gestellt. Das erleichtert die Aufnahme im Langzeitgedächtnis, es gibt den Merksätzen aber auch Tiefenschärfe, eine dritte Dimension. 

Wir sollen nicht einfach freigiebig sein, blind sozusagen, oder es den Staat richten lassen als gutwillige Steuerzahler, sondern wir sollen hinsehen und wahrnehmen. Wer es nicht tut, begibt sich in Gefahr. Das ist keine Drohung mit der Strafe Gottes. Wenn das Buch der Sprüche warnt, dann wohnen die negativen Konsequenzen der angesprochenen Handlung selbst inne, es sind ihre langfristige Folge. Gott tritt nicht persönlich als strafende Instanz in Erscheinung, er gibt sein Gesetz als Wegweiser. Wer Weisung und Weisheit verachtet, tut dies zum eigenen Schaden. Hier ein Link zum Bibelvers der Woche 40/2022.

Wer nicht hinsieht, den bestraft das Leben, sagt der Spruch. Wer nicht hinsieht, verliert den Kontakt mit seiner Wirklichkeit und seiner Umwelt, wird einsam und unglücklich, lese ich.

Es ist Karfreitag. Gelegenheit, über das Leben und seine Einsamkeiten nachzudenken. Wie oft habe ich nicht hingeschaut, weil es entlastet, weil es die Welt einfach und überschaubar macht, weil sich Alltag und „Notwendigkeiten“ nur so bewältigen lassen. Und es stimmt: wer dies zur dominanten Strategie macht, der ist auf dem Weg in eine sehr enge und ganz private Hölle. Ohne Gott und ohne Teufel. Ganz allein.

Nun bin ich ins Grübeln gekommen, und plötzlich erschließt sich mir auch der erste Teil des Spruchs. Er spannend. Ich bin Ökonom, und für Ökonomen fundamental ist die sogenannte Budgetrestriktion. Damit ist folgender Sachverhalt gemeint: Ein Euro, den man für eine Sache ausgibt, ist für alle anderen Verwendungen verloren. Sehr einfach und sehr mächtig, und es wäre gut, wenn mehr Menschen und Politiker diesen Satz verinnerlichen könnten. Der Schreiber des Verses kennt die Budgetrestriktion, das zeigt die absichtlich paradoxe Formulierung. Wer etwas dem Armen gibt, der kann es nicht mehr für die Erfüllung eigener Wünsche ausgeben. Ja. Aber ist das alles? Der Spruch setzt fort: „… dem wird nichts mangeln“. Wird mir etwas fehlen? Das ist die „richtige“ Frage. Irgendwie kommt es zurück, sagt der Spruch. Kann ich damit gar meinem eigenen Mangel abhelfen? Die Antwort gibt der zweite Teil des Spruchs.

Der Herr gebe uns die Kraft, zu sehen. Er nehme den Schleier von unseren Augen. Er sei besonders dann mit uns, wenn wir die Not des anderen nicht ertragen wollen.  
Ulf von Kalckreuth

Bibelvers der Woche 16/2025

…sondern du sollst sie ordnen zur Wohnung des Zeugnisses und zu allem Geräte und allem, was dazu gehört. Und sie sollen die Wohnung tragen und alles Gerät und sollen sein pflegen und um die Wohnung her sich lagern.
Num 1,50

Hier ist ein Link für den Kontext des Verses, zur Lutherbibel 1984.

Kaste und Kompass

Das Kapitel beginnt mit einer Zählung der wehrfähigen Männer in Israel. Das Volk zieht in der Wüste umher, und die Zeit ist gekommen, sich militärisch auf den Einfall in das Gelobte Land vorzubereiten. Bei dieser Erfassung bleiben die Leviten ausgenommen. Ihr Dienst liegt ausschließlich bei der Stiftshütte, den heiligen Gerätschaften und der Bundeslade, einem ganzen mobilen Tempel, der von den Israeliten auf ihrer Wanderung mitgeführt wird. 

So ähnlich — freigestellt von Militärdienst und weltlicher Arbeit für den Dienst an Gott — verstehen sich im heutigen Israel viele ultraorthodoxe Männer. Im alten Israel sind Leviten Tempeldiener. Die Priester werden von einer besonderen Sippschaft unter ihnen gestellt, den Nachkommen Aarons. Andere Leviten dürfen zwar nicht Priester sein, aber auch sie nehmen Aufgaben an dem und für den Tempel wahr. Die Leviten sind, was man heute als Funktionselite bezeichnet. Spezialisiert auf kultische Aufgaben haben sie intensiveren Umgang mit der Schrift als andere Israeliten, und von ihrer Hand stammen wohl große Teile der jüdischen Bibel.  

Als Funktionselite, als Kaste, sind Leviten nicht an ein bestimmtes Territorium gebunden. Es gibt kein Stammland der Leviten, von dem sie leben, das sie bearbeiten könnten. Aber dennoch verstehen sie sich als Stamm und als Nachkommen eines der zwölf Söhne Jakobs, und so beschreibt es die Bibel. Zwei real existierende Stämme — Ephraim und Manasse — werden auf einen Sohn, Joseph, zurückgeführt, damit die Zwölfzahl erhalten bleibt, bei den Stammesterritorien ebenso wie bei den Söhnen.

Ein Israelit wurde in eine bestimmte Aufgabe, eine bestimmte Rolle und Position hineingeboren. Die Leviten haben von Geburt an eine Aufgabe — Gott zu dienen, und zwar in genau bestimmter Weise. Ihr Leben wird dadurch durchgreifend geprägt und bestimmt. Wir sind dieser Art Auftrag im Bibelvers der Woche 34/2023 bereits begegnet.

„Um die Wohnung her sich lagern…“ Wie es sich wohl anfühlt, die Aufgabe schon als kleines Kind zu kennen, sie vom Vater zu erben, gottgewollt?  

Gottes Weisheit ist Orientierung im Leben, Orientierung der Bewegungsrichtung. Wenn wir unsere Aufgabe nicht schon kennen, wenn wir sie erst finden müssen, brauchen wir diese Weisheit so dringend wie einen Kompass im Polareis. 

Der Herr helfe uns, die Aufgabe zu verstehen und er gebe uns Kraft. 
Ulf von Kalckreuth

Bibelvers der Woche 15/2025

Da antwortete Eliphas von Theman und sprach:…
Hiob 15,1

Hier ist ein Link für den Kontext des Verses, zur Lutherbibel 1984.

Ein Tiefpunkt

… Soll ein weiser Mann so aufgeblasene Worte reden und seinen Bauch so blähen mit leeren Reden? 

Das ist die Fortsetzung des begonnenen Satzes. So spricht Elifas, ein „Freund“, zu Hiob. Elifas sitzt neben dem Lager eines Menschen, der seine Kinder, sein Haus, seinen Lebensunterhalt verloren hat und seine Gesundheit dazu: von Geschwüren zerfressen liegt er da. Kann es nach diesen Worten noch eine Brücke geben?

Zu Elifas und dem Streitgespräch Hiobs mit den drei Freunden über das Wesen des Leids hatten wir erst vor kurzer Zeit den BdW 03/2025 gezogen — schauen Sie doch mal kurz herein. Und Elifas‘ Intervention wirkt wie ein Echo auf den Bibelvers der vergangenen Woche.

Denn Elifas behauptet nach dieser Eineitung exakt das, was Kohelet offen in Zweifel zieht, und zwar als pure Wahrheit, hinter der nichts weiter kommt. Den Gottlosen ereilt seine eigene Schuld, Gott wird strafen und ihn dahinraffen. 

Damit antwortet er Hiob. Ausgehend vom eigenen Schicksal war dieser zuvor zu einer Klage über das Schicksal aller Menschen gekommen. Nach einem kurzen Leben auf der Erde müssen sie wieder ohne Spur und ohne Erinnerung, restlos, im Totenreich verschwinden. Das Totenreich stellte man sich als düsteres Schattenreich vor, ohne eigentliche Realität. Die Menschen, so das Fazit, sind Gott nichts wert.

Aber dann hatte Hiob ein kühnes Gedankenexperiment gemacht: Wie wäre es denn, wenn es ein Leben nach dem Tode gäbe? Wir wären unendlich viel kostbarer für Gott, er würde auf unsere Schritte achthaben und würde uns unsere Übertretungen verzeihen: 

Meinst du, ein toter Mensch wird wieder leben? Alle Tage meines Dienstes wollte ich harren, bis meine Ablösung kommt. Du würdest rufen und ich dir antworten; es würde dich verlangen nach dem Werk deiner Hände. Dann würdest du meine Schritte zählen, aber hättest doch nicht acht auf meine Sünden. Du würdest meine Übertretung in ein Bündlein versiegeln und meine Schuld übertünchen (Hiob 14,14-17)

Das ist hypothetisch, eine gefestigte Vorstellung vom ewigen Leben bestand in der Zeit der Entstehung des Buchs Hiob nicht. Aber es ist auch berührend: Für einen Augenblick hatte Hiob einen Gesichtspunkt ausserhalb seines eigenen Leids gefunden und Gott kosmisch gesehen, als wahrhaft Liebenden im Angesicht seiner Schöpfung. 

Für einen Augenblick sieht Hiob das Licht. Und sein Freund antwortet und wiederholt nur, dass es wie ihm eben allen Gottlosen gehe. Und dass er bitte daraus lernen solle. 

Ein absoluter Tiefpunkt. Und eine verpasste Chance. Am Ende offenbart sich Gott im Sturm. Er sagt, dass die drei Freunde nicht recht von ihm, dem Herrn, gesprochen hätten, und dass nur Hiobs Fürbitte sie nun retten könne. Vielleicht hatte er dabei diese Stelle des Gesprächs vor Augen…

Der Herr gebe uns einen offenen Geist, das Leiden anderer zu erkennen — und auch das Licht, das sie sehen!
Ulf von Kalckreuth

Bibelvers der Woche 14/2025

Allerlei habe ich gesehen in den Tagen meiner Eitelkeit. Da ist ein Gerechter, und geht unter mit seiner Gerechtigkeit; und ein Gottloser, der lange lebt in seiner Bosheit.
Pred 7,15

Hier ist ein Link für den Kontext des Verses, zur Lutherbibel 1984.

Was erwarten wir? 

Kohelet, der Prediger, ist ein echter Querdenker. Er ist Empiriker, betrachtet alles genau. Er sieht, dass vieles nur in unserem Kopf existiert, das wir für wahr halten, und unsere Ziele, Absichten, Ideale keinen bleibenden Wert haben. Auch solche nicht, die wir als religiös bezeichnen. Für den Prediger gibt es die Unterscheidung zwischen weltlich und ausserweltlich ohnehin nicht. Die Dinge sind vorbestimmt, Gott lenkt wohl — aber er sagt uns nichts über seine Pläne, wir erkennen sie nicht und das Wirken und Weben der Welt bleibt uns verborgen. So werden unsere großen Ideen „eitel“, der Zeit verfallen, und am besten ist’s, man lebt einfach und im Frieden mit der Welt. 

Hier, in unserem Vers, spricht er eine der grundlegenden Wahrheiten an, die vor allem in den Psalmen betont wird. Wer im Bund mit Gott steht, „gerecht“ ist — „Gott liebt und fürchtet“, würde Luther sagen — den beschützt er, dem hilft er gegen seine Feinde, dem gibt er ein langes Leben. Den Gottlosen, Frevlern, Feinden hingegen steht ein schlimmes Schicksal bevor, sie enden in Verzweiflung. Nicht notwendigerweise in der kurzen Frist, so doch aber in der langen. Diesem Grundmuster sind wir im ‚Bibelvers der Woche‘ oft schon begegnet, vor allem in den Psalmen. Es ist dem „Tun-Ergehens-Zusammenhang“ vorgelagert, es beschreibt gewissermaßen das Wesen des Bundes.

Und der Prediger sagt uns hier, so sei es gar nicht, jedenfalls nicht zuverlässig, man beobachte oft genug das Gegenteil. Und er setzt fort:

Sei nicht allzu gerecht und nicht allzu weise, damit du dich nicht zugrunde richtest. Sei nicht allzu gottlos und sei kein Tor, damit du nicht stirbst vor deiner Zeit. Es ist gut, wenn du dich an das eine hältst und auch jenes nicht aus der Hand lässt… (V 16-17a).

Auf Neudeutsch nennt man das 360° — wir sollen auf alles schauen und nichts außer acht lassen, die Gebote Gottes nicht, aber auch nicht die der Welt. Bibel für Anfänger ist das nicht, und ich frage mich gelegentlich, wie der Prediger/Kohelet dort hineingelangt ist. Hier ist ein Link zum BdW 37/2019 mit einer Betrachtung zum Ende von Kapitel 7, und da kann es einem die Schuhe ausziehen. 

Aber zurück zum Ausgangspunkt — was erwarte ich, was hoffe ich von Gott? Die Frage mag unziemlich erscheinen, aber die Bibel stellt sie oft genug, und hier liegt sie vor mir, in einem Vers, der kommentiert werden will. „Was er mir gibt, „, könnte die erwachsene Antwort lauten, „er wird’s wohl machen“. Es geht mir eigentlich wie dem Prediger, ich erwarte nicht, dass der Gottesfürchtige allen Lebenskrisen heil entrinnt, und auch nicht, dass denjenigen, der sich Gott nicht verschreibt, immer der Abgrund erwartet. Das entspräche meiner Lebenserfahrung nicht. 

Und doch weiss ich mich getragen. Gott war immer da, wenn ich zu ihm rief. In existenziellen Bedrohungen gab es stets einen Weg, auch in Bedrohungen, die ich erst im Nachhinein erkannte. So war es stets, eigentümlich genug, und seit einiger Zeit schon verlasse ich mich darauf. Auch das ist Lebenserfahrung, und ich finde sie in den Psalmen Davids wieder. Ich kann es eigentlich nicht erklären, es liegt sicherlich nicht an meiner Gottesfurcht, mit meiner „Gerechtigkeit“ ist es nicht weit her. Psalm 91,7 sagt, „Auch wenn tausende fallen zu deiner Seite, es wird dich nicht treffen“. Ja, tausende andere fallen, und es sind auch Gottesfürchtige darunter. Das ist ein Rätsel, und ich sehe die Lösung nicht. 

Irgendwann wird es auch mich treffen, werden mein Körper, mein Geist oder beides in seinen Funktionszusammenhängen auseinanderbrechen, werde ich „rufen“, wie es im Judentum heißt. Und ich hoffe, ich erwarte, ich glaube, dass Gott dann antwortet.

Dein Segen sei mit uns allen, Herr! 
Ulf von Kalckreuth

P.S. Noch ein Gedanke, noch einmal Luther. Die 62. der 95 Thesen, die er an das Tor der Schlosskirche in Wittenberg nagelte, lautet: Der wahre Schatz der Kirche ist das allerheiligste Evangelium der Herrlichkeit und Gnade Gottes. Vielleicht geht es am Ende gar nicht so sehr um uns. Vielleicht geht es um etwas, das an und für sich unendlich kostbar ist!

Bibelvers der Woche 13/2025

Denn wir kennen den, der da sagte: „Die Rache ist mein, ich will vergelten”, und abermals: „Der Herr wird sein Volk richten.”
Heb 10,30

Hier ist ein Link für den Kontext des Verses, zur Lutherbibel 1984.

Awesome God

Das ist deutlich. Und es ist erst ein paar Wochen her, dass wir mit BdW 06/2025 den unmittelbar vorangegangenen Vers gezogen haben, Heb 10,29. Hier noch einmal die Textstelle im Zusammenhang (28-31), die beiden gezogenen Verse sind gefettet: 

Wenn jemand das Gesetz des Mose bricht, muss er sterben ohne Erbarmen auf zwei oder drei Zeugen hin. Eine wie viel härtere Strafe, meint ihr, wird der verdienen, der den Sohn Gottes mit Füßen tritt und das Blut des Bundes für unrein hält, durch das er doch geheiligt wurde, und den Geist der Gnade schmäht? Denn wir kennen den, der gesagt hat »Die Rache ist mein, ich will vergelten«, und wiederum: »Der Herr wird sein Volk richten.« Schrecklich ist’s, in die Hände des lebendigen Gottes zu fallen.

Meine Betrachtung seinerzeit richtete sich auf das Wesen der Strafe Gottes. Nun soll ich ein weiteres Mal darüber nachdenken. Genügt es nicht, auf die ältere Betrachtung zu verweisen? Habe ich seinerzeit etwas Wichtiges übersehen oder falsch dargestellt? 

Reset! —

Am vergangenen Sonntag sang ich im Gottesdienst mit dem Musikteam ‚Awesome God‘ von Rich Mullins, hier ist ein Link zu dem Lied. Ich hatte den Solopart mit den beiden Strophen:

When He rolls up His sleeves He ain't just puttin' on the ritz
Our God is an awesome God
There is thunder in His footsteps and lightning in His fists      
Our God is an awesome God
The Lord wasn't joking when He kicked 'em out of Eden
It wasn't for no reason that He shed His blood
His return is very close and so you better be believin'
That our God is an awesome God

Our God is an awesome God
He reigns from heaven above
With wisdom, power and love
Our God is an awesome God!

And when the sky was starless in the void of the night
Our God is an awesome God
He spoke into the darknness and created the light
Our God is an awesome God
Judgement and wrath He poured out on Sodom
Mercy and grace He gave us at the cross
I hope that we have not too quickly forgotten 
That our God is an awesome God!

Our God...

Dies Lied ist, woran ich denken mußte, als ich den Vers zog. Schaue ich in Gott, die Welt und mich selbst, dann ist da immer beides: Gnade und Strafe, Liebe und Gewalt. So zieht es sich durch die Bibel, von Genesis über die Psalmen bis zur Offenbarung des Johannes. Das Leben und Sterben Jesu mag als Exempel dienen, und nirgends steht geschrieben, dass Gottes Gewalt — und Gottes Liebe — mit Jesu Foltertod ein Ende hat. Man mag es mögen oder nicht: der Weg mit dem Gott der Bibel ist immer auch ein Weg am Abgrund. 

Dein Segen sei mit uns, Herr! Und lass mich nicht heute noch den letzten Vers des Ausschnitts oben ziehen. 
Ulf von Kalckreuth

Bibelvers der Woche 12/2025

…und sprachen zu ihnen: Ihr sollt die Gefangenen nicht hereinbringen; denn ihr gedenkt nur, Schuld vor dem HErrn über uns zu bringen, auf dass ihr unsrer Sünden und Schuld desto mehr macht; denn es ist schon der Schuld zu viel und der Zorn über Israel ergrimmt.
2 Chr 28,13

Hier ist ein Link für den Kontext des Verses, zur Lutherbibel 1984.

Stufen

König Asaf von Juda, dem Südreich, hat den Krieg verloren. Und wie! Im Kampf gegen das Nordreich Israel fielen 120.000 seiner Männer — an einem einzigen Tag! Und die Armee des feindlichen Brudervolks führt 200.000 Frauen, Jugendliche und Kinder aus Juda in die Gefangenschaft nach Samaria fort. So berichtet es der Text.

Das sind gewaltige Zahlen. Juda war ein kleines, eisenzeitliches Land in den Bergen. Zum Vergleich: In Stalingrad waren rund 200.000 deutsche Soldaten eingekesselt, von denen etwa 30.000 überlebten. Die anderen starben: in Kampfhandlungen, an Hunger, an Krankheiten oder recht bald nach ihrer Gefangennahme. Die Katastrophe zog sich hin über viele Monate. „Stalingrad“ ereignete sich nicht an einem einzigen Tag.

Man muß die biblischen Zahlen nicht wörtlich nehmen, gemeint ist wohl eine „Unzahl“. Eine Unzahl Gefangener also hatte der israelische König Pekach in Juda gemacht und nun machte er sich daran, sie nach Samaria zu führen, seiner Hauptstadt. So war es üblich. Die Gefangenen erwartete ein hartes Schicksal als Sklaven.

Aber es geschieht etwas Überraschendes. Oded, ein Prophet, geht dem Heer Pekachs entgegen und sagt den Führern, dass sie sich schuldig machen vor Gott. Bei den Judäern handelte es sich zwar um ein anderes Volk, aber doch um ein verwandtes, und um Glaubensbrüder dazu. Der Prophet appelliert an das Gewissen der Entscheidungsträger im Nordreich Israel — und diese fügen sich! Sie lassen die Gefangenen frei, geben ihnen Kleidung und Nahrung, und wo sie krank sind, werden sie behandelt und gepflegt, damit sie den Heimweg antreten können. 

Ein rundherum erstaunliches, fast wunderbares Ereignis, gerade auch, wenn man an Stalingrad denkt. 

„Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst.“ Es sind ursprünglich nicht Worte Jesu, der Satz findet sich schon in der Thora. Aber wer ist dein Nächster? Jesus antwortet auf diese Frage mit dem Gleichnis vom barmherzigen Samariter. Gemeint waren ursprünglich die Angehörigen der eigenen Sippe und des eigenen Stammes. Die Stelle lautet vollständig (Lev 19, 17-18) : Du sollst dich nicht rächen noch Zorn bewahren gegen die Kinder deines Volks. Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst; ich bin der HERR. Feinde waren jedenfalls nicht gemeint, auch nicht solche verwandter Völker. In Richter 19f wird erzählt, wie elf der Stämme Israels über den zwölften und kleinsten erbarmungslos herfallen, aus Rache über einen Sexualmord. 

Aber hier, in unserem Vers, kippt das Liebesgebot der Thora sichtbar ins Allgemeinere. Auch Feinde sind einbezogen. Die Sieger üben hier nicht nur Verzicht auf ihre Beute, sie wenden gar erhebliche eigene Ressourcen auf, um den Besiegten das Weiterleben zu ermöglichen. Meine Großmutter hat uns immer wieder von den amerikanischen CARE-Paketen erzählt, die ihr und ihrer kleinen Familie nach dem Krieg das Weiterleben in der ausgebombten Stadt Essen ermöglicht haben.

Bis zum verallgemeinerten Gebot der Nächsten- und Feindesliebe ist die Bibel einen weiten Weg gegangen, und man kann ihr „buchstäblich“ dabei zusehen.

Herr, hilf uns dabei, unseren Nächsten zu lieben. Lass uns erkennen, dass manchmal gerade die Feinde uns am allernächsten sind — wenn sie hilflos sind, wenn nur wir noch helfen können. Gib diese Kraft uns allen, auch der Regierung des heutigen Israel.

Damit Gaza nicht endet wie Stalingrad…!
Ulf von Kalckreuth

Bibelvers der Woche 11/2025

Er aber redete noch weiter: Ja, wenn ich mit dir auch sterben müsste, wollte ich dich doch nicht verleugnen. Desgleichen sagten sie alle.
Mk 14,31

Hier ist ein Link für den Kontext des Verses, zur Lutherbibel 1984.

Treue

Erhalte uns Deine Treue, Herr — wie auch wir sie erhalten wollen. Und vergib uns, wo wir untreu werden

So habe ich die Betrachtung zum Bibelvers der vergangenen Woche geendet. Der Vers dieser Woche ist wie ein Echo. Jesus hatte Petrus auf den Kopf hin gesagt, dass dieser ihn noch in derselben Nacht dreimal verleugnen werde. Und genau so geschieht es, Es ist die Nacht vor Jesu Foltertod am Kreuz — er weiß es, aber Petrus weiß es nicht. Er aber redete noch weiter…

Die Szene hat ein anrührendes Gegenstück am Ende des Johannesevangeliums, in Joh 21, 15-17. Der auferstandene Jesus begegnet Petrus in Tiberias, am See Genezareth, wo Petrus zuhause war. Jesus fragt ihn dreimal: Hast du mich lieb? Petrus bejaht dreimal, mit wachsender Verzweiflung, und Jesus antwortet immer „Weide meine Schafe“! 

Am lichten See Genezareth wird mit jedem Ja von Petrus ein Nein in der Todesnacht getilgt. 

So will ich’s wiederholen: Erhalte uns Deine Treue, Herr — wie auch wir sie erhalten wollen. Und vergib uns, wo wir untreu werden.
Ulf von Kalckreuth

Bibelvers der Woche 10/2025

…und hießen die Stätte Bochim und opferten daselbst dem HErrn.
Ri 2,5

Hier ist ein Link für den Kontext des Verses, zur Lutherbibel 1984.

Siehe, ich sende einen Engel vor dir her…

Heute morgen habe ich sehen können, wie der amerikanische Präsident Donald Trump im Oval Office vor laufenden Fernsehkameras seinen Verbündeten, den Präsidenten der Ukraine, heftig beschimpfte und der Undankbarkeit bezichtigte. Dann brach er den Pressetermin ab und warf wenig später Präsident Selenski aus dem Weißen Haus. 

Das war wie ein sehr unangenehmes Zerrbild der Szene, von der unser Vers berichtet.  

Am Anfang des Buchs Richter ist die Landnahme in Kanaan / Palästina nicht etwa abgeschlossen, sie ist zum Stillstand gekommen. Längst nicht alle Gebiete, die Gott den Israeliten versprochen hatte, konnten eingenommen werden., siehe hierzu den Bibelvers der Woche 03/2020. In der Wüste, während der langen Wanderung des Volks, hatte Gott Mose und Israel ein Beistandsversprechen gegeben: 

Siehe, ich sende einen Engel vor dir her, der dich behüte auf dem Wege und dich bringe an den Ort, den ich bestimmt habe. Hüte dich vor ihm und gehorche seiner Stimme und erbittere ihn nicht, denn er wird euer Übertreten nicht vergeben, weil mein Name in ihm ist. Wirst du aber auf seine Stimme hören und alles tun, was ich dir sage, so will ich deiner Feinde Feind und deiner Widersacher Widersacher sein. Ja, mein Engel wird vor dir hergehen und dich bringen zu den Amoritern, Hetitern, Perisitern, Kanaanitern, Hiwitern und Jebusitern, und ich will sie vertilgen. Du sollst ihre Götter nicht anbeten noch ihnen dienen noch tun, wie sie tun, sondern du sollst sie umreißen und ihre Steinmale zerbrechen. Aber dem HERRN, eurem Gott, sollt ihr dienen, so wird er dein Brot und dein Wasser segnen, und ich will alle Krankheit von dir wenden. (Ex 23,20-33) 

Hierzu gibt es den Bibelvers der Woche 06/2019. Es war kein unbedingtes Versprechen. Treue verlangt Gott und die Bereitschaft, sich von den Bewohnern des Landes und ihren Göttern, ihren Frauen, ihren Bräuchen und Gewohnheiten fernzuhalten. Nun tritt der Engel persönlich auf, als Vertreter Gottes, und nimmt das Versprechen feierlich zurück:

Ich habe euch aus Ägypten heraufgeführt und ins Land gebracht, das ich euren Vätern zu geben geschworen habe, und gesprochen, ich wollte meinen Bund mit euch nicht brechen ewiglich. Ihr aber solltet keinen Bund schließen mit den Bewohnern dieses Landes und ihre Altäre zerbrechen. Aber ihr habt meiner Stimme nicht gehorcht. Warum habt ihr das getan?

Das Volk reagiert mit Trauer, die Menschen weinen, und der Ort der Erscheinung wird ‚Bochim‘, genannt, ‚die Weinenden‘. Und in der Tat ist es eine unendlich traurige Szene. Sie ist eine Vergegenständlichung, eine Art vorangestellte Zusammenfassung, für den nachfolgenden Bericht darüber, wie die Israeliten in der Richterzeit den Bund mit ihrem Gott vergaßen.

Ein Bund verlangt Treue von beiden Seiten, das ist die Kernbotschaft des Deuteronomiums und der davon abhängigen Geschichtserzählung. Moderne Theologen sehen großen Grund zur Klage über das Deuteronomium und seine Darstellung der Wirklichkeit Gottes und der Menschen. Diese Kernbotschaft aber steht und trägt weiter. 

Erhalte uns Deine Treue, Herr — wie auch wir sie erhalten wollen. Und vergib uns, wo wir untreu werden.
Ulf von Kalckreuth

Bibelvers der Woche 09/2025

So wir aber unsre Sünden bekennen, so ist er treu und gerecht, dass er uns die Sünden vergibt und reinigt uns von aller Untugend.
1 Joh 1,9

Hier ist ein Link für den Kontext des Verses, zur Lutherbibel 1984.

Amazing grace

Hier ist zunächst das textliche Umfeld (Vers 8-10): 

Wenn wir sagen, wir haben keine Sünde, so betrügen wir uns selbst, und die Wahrheit ist nicht in uns. Wenn wir aber unsre Sünden bekennen, so ist er treu und gerecht, dass er uns die Sünden vergibt und reinigt uns von aller Ungerechtigkeit. Wenn wir sagen, wir haben nicht gesündigt, so machen wir ihn zum Lügner, und sein Wort ist nicht in uns.

Als ich den Vers las, stand mir sofort das (katholische) Sakrament der Beichte vor Augen. Im Magazin „Vivat“ ist es wie folgt beschrieben:

Die Beichte gehört zu den sieben Sakramenten in der katholischen Kirche. Der Gläubige stellt sich in diesem Sakrament aufrichtig seinen Sünden, bekennt diese vor Gott und sie werden ihm schließlich vergeben, sofern er bereut. Darum wird das Bußsakrament auch als »Feier der Versöhnung« bezeichnet. (…) Die Beichte wirkt durch die Mittlerschaft der Kirche (hier in der Person des Priesters): So geht der Gläubige in den Beichtstuhl, bekennt seine Sünden vor dem Priester (der hierbei in »persona Christi« handelt) und bekommt sie unter Auflage einer Buße erlassen (mittels Lossprechung/Absolution).

Eine Mittlerschaft der Kirche lässt sich aus Johannes‘ Versen wohl nicht ableiten, ihr Grundgedanke aber ist in der Ohrenbeichte deutlich erkennbar: Eine Verfehlung, ein falscher Weg, eine Verstrickung müssen als solche erkannt, benannt und bekannt werden, bevor man sich mit Hilfe Gottes von ihnen befreien kann. 

Das ist fast denknotwendig so. Wer sich falscher Haltungen nicht bewußt wird und sich davon nicht distanziert — wie wollte er davon loskommen? Kann man sich das Rauchen heimlich abgewöhnen? Gar noch ohne sich eingestanden zu haben, dass man Raucher ist und sich damit zugrunde richtet? In meinem Leben waren solche Erfahrungen stets mit Leid verbunden, und auch das ist unausweichlich. In den Gleichnissen vom verlorenen Sohn und vom verlorenen Groschen sagt Jesus, dass jemand verlorengehen muss, bevor er gefunden werden kann. Der Psalmist spitzt es noch weiter zu:

Die Opfer, die Gott gefallen, sind ein geängsteter Geist, ein geängstetes, zerschlagenes Herz wirst du, Gott, nicht verachten. (Ps 34,19) 

Das bedeutet sicherlich nicht, dass Gott Gefallen daran hat, wenn wir am Boden liegen. Es geht um einen notwendigen Schritt in der Therapie — anthroposophische Mediziner würden es als ‚therapeutische Erstverschlimmerung‘ bezeichnen. 

Fortwährende Bereitschaft zur Bekenntnis der eigenen Sünde und Verlorenheit — das findet man statt der Ohrenbeichte im protestantischen und evangelikalen Spektrum und es wirkt wahrhaftig nicht immer sympathisch. Aber hier liegt die Wurzel. 

Amazing grace. Herr, hilf uns sehen, wo wir in die Irre gehen und hilf uns dann, Deine Hilfe anzunehmen. 

Der Herr sei mit uns in dieser Woche,
Ulf von Kalckreuth

Bibelvers der Woche 08/2025

Und die Kinder Israel, die aus der Gefangenschaft waren wiedergekommen, und alle, die sich zu ihnen abgesondert hatten von der Unreinigkeit der Heiden im Lande, zu suchen den HErrn, den Gott Israels, aßen…
Esr 6,21

Hier ist ein Link für den Kontext des Verses, zur Lutherbibel 1984.

Zirkuläre Zeit

…und hielten das Fest der ungesäuerten Brote sieben Tage mit Freuden; denn der Herr hatte sie fröhlich gemacht und das Herz des Königs von Assyrien zu ihnen gewandt, daß sie gestärkt würden im Werk am Hause Gottes, der der Gott Israels ist. (Vers 22, Lutherbibel 1912).

So die Fortsetzung des begonnenen Satzes. Er hat so viele Bestandteile, dass auch ein deutscher Muttersprachler leicht ins Schleudern kommen kann, aber sein Kern ist die schlichte Aussage: „Und die Kinder Israel aßen.“ Kann man Wohlbefinden gegenständlicher ausdrücken? Was aßen sie? Das Passamahl, das schon so lange nicht mehr regelrecht gefeiert worden war. Es gab jetzt wieder einen (notdürftigen) Tempel, es gab wieder Leviten für die Opferdienste. Das Leben Tür an Tür mit Gott hat wieder begonnen. Mit dabei waren Nichtjuden, die sich zum Gott dem Herrn bekannten, auch das sagt der Vers. Gültiges Recht: Ex 12,48 lässt die Teilnahme von beschnittenen Nichtjuden ausdrücklich zu.

Tür an Tür mit Gott: Der alte Tempel wurde als Seine Wohnstatt betrachtet. Und als immer größere Teile der nach Babylon verschleppten Elite wieder nach Jerusalem zurückkehrte, bauten die Juden einen neuen. 

Wie einst die Stiftshütte, welche die Kinder Israels auf ihrer Wanderung begleitete, noch in der äußersten Entfremdung, als der Herr beschloss, dass die ganze Generation derer, die aus Ägypten geflohen war, in der Wüste sterben sollten. Erst ihre Kinder würden das gelobte Land sehen. Wie einst der salomonische Tempel, den dann die Babylonier in Flammen aufgehen ließen. Wiederum äußerste Entfremdung: die Juden verloren alles, nicht nur Gott und seinen Wohnsitz, sondern auch ihre Freiheit und ihre Heimat. 

Der Vers und sein Umfeld erzählen vom Ende dieser Phase. Gott und sein Volk waren wieder zusammengekommen. Nicht dauerhaft, wieder nicht: Im Jahr 70, auch an einem Passafest, begann Titus seinen Angriff auf Jerusalem. Er endete mit der völligen Zerstörung des Tempels und der Zerstreuung des jüdischen Volks im römischen Reich. Flavius Josephus berichtet, dass sich wegen des Passafests während der Belagerung etwa 3 Millionen Menschen in der Stadt befanden, von denen 1,1 Millionen ums Leben kamen.

Die alte hebräische Sprache kennt keine Zeitformen, nur Aspekte: Handlungen können entweder punktförmig und faktisch sein, oder sich auf einen Zeitraum beziehen, Möglichkeitscharakter haben oder Regelmäßigkeiten beschreiben. Vergangenheit und Zukunft sind dabei keine eigenständigen Kategorien. Im alten Judentum waren sie nicht wesentlich unterschieden: In der Wahrnehmung der Menschen vollzog Zeit sich in Zyklen, die sich nicht exakt wiederholten, sondern spiralförmig verliefen. Vergangenes blieb relevant für die Zukunft, die nahe und ferne Geschichte des Volks hat stets Bedeutung auch für das Leben des Einzelnen. 

Hier also, mit unserem Vers, treffen Gott und sein Volk sich wieder, und eine glückliche Phase der jüdischen Geschichte setzt ein. Wie die Bewegung eines Pendels, der Schlag eines gigantischen Herzens. Diese Bewegung, hin und her, bestimmt die ganze Bibel, bis hin zu den letzten Kapiteln der Offenbarung. Wer oder was treibt das Pendel? Wann kommt es zur Ruhe?

Der Herr sei mit uns in dieser Woche,
Ulf von Kalckreuth