Bibelvers der Woche 21/2024

Mohren und Ägypten war ihre unzählige Macht, Put und Libyen waren ihre Hilfe.
Nah 3,9

Hier ist ein Link für den Kontext des Verses, zur Lutherbibel 1984.

Biblische Dialektik 

Zufällig Verse ziehen führt irgendwann überall hin, auch zu den sogenannten kleinen Propheten. Diese heißen so wegen des Umfangs ihrer Schriften. Das ‚Buch‘ Nahum ist in meiner Bibelausgabe zwei Seiten stark. Zwischen Micha und Habakuk findet man es kaum. Noch kürzer ist das Buch Obadja, mit 25 Versen…

Nahum hat ein einziges Thema: der herbeigesehnte, herbeigeflehte, klar und immer klarer gesehene Untergang des verhassten Assyrerreiches, während vieler Jahrhunderte die dominierende Macht in der Levante. Die Assyrerkönige waren von beispielloser Grausamkeit. Sie beuteten ihre Vasallenstaaten und Territorien aus, bis sie blutleer waren und durch neue Eroberungen ersetzt werden mussten. Getrieben von institutionalisierter Gier, mechanisch fast, dehnte sich das Riesenreich immer weiter aus und implodierte schließlich geradezu.

Juda lag im Herrschaftsbereich Assyriens und Nahums Schrift musste im Geheimen entstehen. Stellen Sie sich einen polnischen Autor in Warschau vor, der im Jahr 1941 seine Visionen vom Untergang Berlins zu Papier bringt und mit wenigen Freunden teilt. So etwa liest sich die Schrift Nahums: sarkastisch, hasserfüllt, verächtlich, ironisierend, poetisch gar an einigen Stellen. Im gezogenen Vers geht es konkret um den Untergang der assyrischen Hauptstadt, Ninive. Zum Verständnis hier das Textumfeld des Verses: 

Meinst du, du seist besser als die Stadt No-Amon, die da lag am Nil und vom Wasser umgeben war, deren Mauern und Bollwerk Wasserfluten waren? Kusch und Ägypten waren ihre unermessliche Macht, Put und Libyen waren ihre Hilfe. Dennoch wurde sie vertrieben und musste gefangen wegziehen. Ihre Kinder sind auf allen Gassen zerschmettert worden, und um ihre Edlen warf man das Los, und alle ihre Gewaltigen wurden in Ketten und Fesseln gelegt. Auch du musst trunken werden und von Sinnen kommen; auch du musst Zuflucht suchen vor dem Feinde!

No-Amon, so sagen die Alttestamentler, ist ein Name für Theben, die ägyptische Stadt des Gottes Amun. Der Vers, den wir gezogen haben, ist ihnen Schlüssel zur Datierung des Texts: er wurde geschrieben, als Theben bereits zerstört war, aber Ninive noch nicht. 

Ninive, so schreibt Nahum, du kannst auf gewaltige Ressourcen zurückgreifen. Aber das wird dir nichts helfen. Wie Theben wird es dir gehen. Ägypten, der Sudan und große Teile Nordafrikas dienten dieser Stadt und dennoch fiel sie und wurde von Grund auf zerstört. 

Er sollte recht behalten. Spannend und denkwürdig ist die Tatsache, dass es die Assyrer selbst waren, die das ägyptische Theben nahmen und völlig zerstörten. Nahum erinnert an einen großen assyrischen Sieg, um daraus ein Bild für die kommende Niederlage zu gewinnen! Es ist so, als ob unser polnischer Untergrundautor im Jahr 1941 prophetisch schriebe: „Berlin, Feste des Bösen, die große Macht deines Landes wird dir nichts helfen. Wie Paris wirst du deinen Feinden erliegen. Wie Warschau wirst du brennen!“ 

Ein großes Thema blitzt auf. Gott kehrt und stürzt um. Er tritt die Starken in den Staub und macht die Schwachen stark. Eine Art Dialektik zieht sich durch die Bibel, lang bevor es das Wort gab. Siehe zuletzt die Betrachtung zum BdW 09/2024, aber auch die BdW 51/2023, 11/2022 und 37/2020. Und ist es nicht so, dass bei unseren Stärken und Erfolgen, auf dem Schauplatz unserer Siege, gerade dort auch unsere Gefährdungen liegen?

Der historische Nahum lebte in Juda, vermutlich in Jerusalem. Wenn er heute in der Ukraine lebte, was würde er über Moskau schreiben? Und wenn er — darf ich das fragen? — in Rafah, in Gaza -Stadt oder im Westjordanland wohnte, was wären seine Worte über Jerusalem?

Gott schütze sein Heiliges Land!
Ulf von Kalckreuth

Bibelvers der Woche 20/2024

Siehe, du wirst schwanger werden und einen Sohn gebären, des Namen sollst du Jesus heißen.
Luk 1,32

Hier ist ein Link für den Kontext des Verses, zur Lutherbibel 1984.

Vom Himmel gefallen

Die Welt wird neu. die Regeln gelten nicht mehr. Sie sind über den Haufen geworfen. Zwei Frauen bekommen Kinder — unmögliche Kinder, im Wortsinn, vom Himmel gefallen…!

Elisabeth ist eine alte Frau, die sich ihr Leben lang Kinder gewünscht hat. Ihr Mann, Zacharias, ein Tempelpriester, hatte aufgegeben. Als es an ihm war, das Brandopfer vorzunehmen und er allein war mit seinem Gott am Altar, erschien ihm Gabriel. Du wirst Vater, sagt ihm der Engel, gegen alle Möglichkeiten. Und als Zacharias nach einem Zeichen fragt, weil er es nicht glauben kann, antwortet ihm Gabriel, dass er verstummen werde, weil er nicht glauben kann — solange, bis das Kind auf der Welt sei.

Maria ist eine junge Frau, und auch ihr erscheint Gabriel. Ein Kind soll sie gebären, sagt der Engel, und dies Kind wird den Thron Davids erben. Maria ist jung und unverheiratet. Auch sie kann nicht glauben, was sie hört: wie kann das sein, da ich von keinem Manne weiß, fragt sie. Gabriel antwortet Maria weniger harsch als Zacharias — sie möge doch ihre Base besuchen, Elisabeth, auch sie sei schwanger, seit fünf Monaten, gegen alle Möglichkeiten.

Diese beiden Kinder kommen zur Welt. Und sie bleiben eng verbunden, wie Zwillinge. Johannes, der Prophet, Wegbereiter, Rufer in der Wüste, und sein Schüler, Jesus, den Johannes tauft und in dem er den Retter der Welt erkennt. Der eine stirbt unter Herodes, der andere unter Pilatus. Wann eigentlich verstand Jesus, dass er der Messias ist? Wann wusste Johannes, dass er es nicht ist?

Ein Engel erscheint hintereinander zwei Menschen, einem alten Tempelpriester und einem Mädchen, das von keinem Manne weiß. Die Welt wird neu, die Regeln gelten nicht mehr… 

Hallelujah!
Ulf von Kalckreuth

Bibelvers der Woche 19/2024

Und Gad kam zu David zur selben Zeit und sprach zu ihm: Gehe hinauf und richte dem HErrn einen Altar auf in der Tenne Aravnas, des Jebusiters!
2 Sa 24,18

Hier ist ein Link für den Kontext des Verses, zur Lutherbibel 1984.

Pandemie

In der vergangenen Woche wurde Pessach gefeiert, das jüdische Fest des Auszugs der Kinder Israel aus Ägypten. In die Vorgeschichte gehört die Geschichte von den zehn Plagen. Jüdische Kinder lernen diese Plagen vor dem Fest auswendig und malen sie. Die Bibelverse der vergangenen Wochen erinnern mich daran: 16/2024: Blut und Gottes Gericht; 17/2024: Die Sterne und Gottes Gericht; 18/2024: Auf Gottes Weisung stirbt ein Volk. Und nun also 19/2024: Gott sendet eine tödliche Seuche. 

Es geht um eine sonderbare Geschichte. Ausführlicher und noch eindrucksvoller wird sie in 1 Chr 21 erzählt. Sie beginnt damit, dass der „Zorn Gottes abermals entbrannte gegen Israel“ (2 Sa 24,1). Gott „reizt David gegen sie“, und der König ordnet eine Volkszählung an. Diese Volkszählung aber stellte ein todeswürdiges Verbrechen dar, dazu unten mehr. 

Gad, ein Prophet, erscheint vor David. Der König soll zwischen drei Strafen wählen: 1) Das Land erleidet eine sieben Jahre währende Hungersnot, 2) David selbst muss drei Monate lang vor Widersachern fliehen, die ihn verfolgen, und 3) Während dreier Tage wütet eine Pest im Land. David entscheidet sich gegen die zweite Möglichkeit: er will lieber, so sagt er, in die Hand Gottes fallen als in die der Menschen. Und so bricht eine Pest aus, verschlingt in rasender Geschwindigkeit siebzigtausend Menschen im Norden des Landes. Als die Epidemie Jerusalem erreicht und der Todesengel turmhoch über der Stadt steht, gereut es den Herrn, und er gebietet Einhalt. David sieht den Todesengel und bittet darum, dass ihm selbst die Strafe zukommen möge und nicht dem Volk — „was haben diese Schafe getan?“ Gad, der Prophet, weist David an, dem Herrn an dieser Stelle einen Altar zu bauen. Das ist der gezogene Vers, und es war dies der Platz, auf dem später der Tempel entstehen sollte. 

Hat man den Mund wieder zubekommen, steht man vor Fragen.

Warum sollte die Volkszählung ein todeswürdiges Verbrechen sein? Das lässt sich nicht mehr klären. Volkszählungen waren an sich erlaubt. In Ex 30, 11-16 wird eine Kopfsteuer im Zusammenhang mit Zählungen beschrieben. Jeweils zu Beginn (Num 1) und zum Ende (Num 26) der Wüstenwanderung ordnete Gott eine Volkszählung an. Der Name des Buchs Numeri leitet sich von der ersten Volkszählung ab. Ich bin bei meiner Recherche auf eine Diskussion im „Wachturm“ der Zeugen Jehovas gestoßen. Dort gibt es sonst Sicherheit und keine offenen Fragen, aber zur Sündhaftigkeit der Volkszählung muss der Redakteur passen.

Eigentlich aber ist die Sündhaftigkeit der Volkszählung gar nicht entscheidend. Das Urteil war schon früher gefallen. Gottes Zorn war entbrannt, er will das Volk und David strafen, und die Volkszählung sollte der äußere Anlass sein, eine Tat, zu der er selber David reizt. Im parallelen Text der Chronik übrigens ist es Satan, der David provoziert. Gott lässt David die Wahl, die Strafe selbst anzunehmen oder das Volk büßen zu lassen, und David entscheidet sich für die Seuche. 

Aus Sicht der Israeliten klingt die Geschichte etwa so: Gott, der Herr reizt unseren König zu einer schweren Sünde. Diese Sünde rechnet der Herr uns zu, weil unser König es so entscheidet, und wir müssen sterben. Siebzigtausend von uns tötet der Engel des Herrn. Gemeinsam strafen Gott und sein König David uns für etwas, an dem wir keine Schuld tragen. 

An dieser Stelle wird die dunkle Geschichte fast ein wenig kenntlich, nicht wahr? So können viele Opfer vieler Kriege klagen. Aber warum? 

Noch etwas anderes erkenne ich wieder — das Schlüsselmotiv hinter den ägyptischen Plagen. Wir haben sie oben schon angesprochen. Die Plagen trafen die Ägypter, weil ihr Pharao die Israeliten nicht ziehen lassen wollte. Aber der Herr selbst hatte den Pharao „halsstarrig“ gemacht, unfähig, auf neue Gegebenheiten zu reagieren. Er konnte den wiederkehrenden Forderungen Mose nicht nachkommen. Wie ein Automat musste er ablehnen, ein ums andere Mal, und ein ums andere Mal trafen die Plagen sein Volk, darunter auch eine Seuche. Siehe hierzu den Kommentar „Verblendung“ zu BdW 44/2019. Gott wollte den disruptiven Auszug, und der Pharao musste seinen Beitrag leisten.

Hier, in Sam 24, ist Gottes Volk selbst das Opfer. Das will nicht so recht passen zu unserem Bild von Gott: Gott tut so etwas nicht. Oder doch? Warum eigentlich nicht? Genau so sieht unsere Welt doch aus. Vielleicht liegt das Problem bei unserem Bild von Gott. Eigentlich sollten wir gar keines haben. Ein gnädiger Gott ist keine Selbstverständlichkeit, ein gütiger Gott auch nicht. Und wenn er nicht so ist, wie wir ihn gern hätten — nicht gütig, nicht gnädig, nicht zugewandt — dann können wir ihn nicht entlassen, abwählen, zurückgeben und umtauschen, wie wir es so gern tun. In seiner Allmacht steht er uns gegenüber…!

Vielleicht will uns die Geschichte daran erinnern. An ihrem Anfang steht der Zorn Gottes. Bezeichnenderweise endet sie damit, dass ein Platz für den Bau des Tempels gefunden wird. Der gewaltige Bau und der Opferbetrieb soll die Beziehungen zwischen Gott und seinem Volk auf eine regelbasierte und verlässliche Grundlage stellen. Ein Versuch, dem Ausgeliefertsein zu entkommen?

Ich wünsche uns allen eine Woche im Segen des Herrn, frei von Plagen — und mit dem Licht des Friedens in Rafah!

Ulf von Kalckreuth

P.S. Der Zufall oder etwas anderes wollte es, dass ich gestern in der Hauptverwaltung der Deutschen Bundesbank in Frankfurt Geld wechseln musste. Ich wartete in einer Schlange, und bemerkte, dass ich auf einer großen Metallplatte stand, auf der Sterne und ein Komet zu sehen war. Als ich mir die Platte näher betrachtet, konnte ich Worte entziffern: 

Du bist erschrecklich — Wer kan furdirstehen wen du zurnest Anno 1680

Die Platte war nach einer Münze aus dem 17. Jahrhundert gestaltet, mit den Worten aus Psalm 76,8: Furchtbar bist du! Wer kann vor dir bestehen, wenn du zürnest? Das prägten die Menschen sich auf ihr Geld, vor knapp 350 Jahren. Der Kuschelgott, den wir zu kennen glauben, ist jedenfalls nicht sehr alt. 

Bibelvers der Woche 18/2024

Und sie nahmen aus den Tausenden Israels je tausend eines Stammes, zwölftausend gerüstet zum Heer.
Num 31,5

Hier ist ein Link für den Kontext des Verses, zur Lutherbibel 1984.

Genozid

Der Vers ist aus der schrecklichen Erzählung zum Feldzug gegen die Midianiter, unmittelbar vor dem Einfall der Israeliten in Kana’an. Bevor er stirbt, erhält Mose von Gott einen letzten Auftrag: das Volk der Midianiter soll vernichtet werden. Ganz. Die Midianiter sind ein nomadisch lebendes Wüstenvolk, Ismaeliten, den Arabern verwandt. Die Israeliten töten erst alle Männer, auf Mose Geheiß dann auch die Knaben und sowie alle Frauen, „die schon einen Mann erkannt und bei ihm gelegen hatten“. Nur die Jungfrauen bleiben am Leben. Es sind 32.000. 

Der Genozid ist thematisiert in den BdW 19/2019 und 04/2023. Ich möchte Sie gern auf diese intensiven Betrachtungen verweisen. Es fällt mir sehr schwer, dem etwas hinzuzufügen. 

Eines vielleicht. Was wird erzählt und wie wird es erzählt? Die genannten früheren Verse behandelten Regeln für die Verteilung der Beute. Im Vers dieser Woche geht es um die militärischen Ressourcen. Der Einsatz erfolgt gleichmäßig über die Stämme: Jeder Stamm stellt tausend Krieger bereit. Die Vernichtung wird als organisatorische Aufgabe behandelt. 

Meine Frau und ich haben in der vergangenen Woche „The Zone of Interest“ gesehen. Der Film handelt von der Familie des Lagerkommandanten von Auschwitz, Rudolf Höß. Er zeigt, wie man psychisch mit dem Grauen umgehen muss, um den Alltag zu überleben, aktionsfähig zu bleiben. Man muss dieses Grauen, wo immer möglich, ausblenden, abtrennen, partialisieren, partikularisieren. Den Massenmord in die eigenen Welt nur einlassen, wo er unabweisbare Forderungen stellt, und auch dann nur mit größtmöglichem inneren Abstand. Höß erträgt so seine Arbeit, die Planung, die Verwaltung, die Sitzungen. Der Ehefrau des Lagerkommandanten gelingt es perfekt. Sie identifiziert sich so sehr mit dem Traumhaus an der Mauer des Vernichtungslagers, mit dem Garten, den sie angelegt hat, dass sie die Versetzung ihres Mannes verhindern will und — als dies nicht gelingt — mit der Familie in Auschwitz wohnen bleibt.

Vielleicht macht die Bibel hier dasselbe. Manchmal spricht sie ja wie eine Person, mit einer eigenen Identität, die sich erhebt über die Identität ihrer vielen widerstreitenden menschlichen Redakteure. Die Vorbereitung und die Durchführung der Vernichtung sowie die anschließende Verteilung der Beute wird distanziert und analytisch beschrieben, alles zahlenmäßig genau belegt, als ginge es um Logistik, als sei jemand anderes am Werk. Jemand wie Höß.

Im Film kann nur die Ehefrau das Grauen gänzlich ausblenden. Allen anderen, Höß selbst eingeschlossen, ist es stets latent gegenwärtig: in Tönen, Bildern, zufälligen Funden, fernen Schreien und Schüssen, Alpträumen, den sonderbaren Spielen der Kinder, im Rauch und Teer der Krematorien. Immer wieder bricht das Grauen ein. Der Film enthält keine einzige Gewaltszene, er ist FSK 12. Aber wenn man das Kino verläßt, fühlt man sich elend und krank.

Die Bibel scheint die Angelegenheit mit dem 31. Kapitel abzutun, der Feldzug gegen die Midianiter kommt nachher nicht mehr zur Sprache. Aber irgendwie bleiben die Bilder. Sie wiederholen sich bei der Landnahme der Israeliten durch Josua und sie kehren sich gegen das eigene Volk, als das Land erst von den Assyrern und Babyloniern und später noch einmal von den Römern vernichtet wird. Ein Alptraum, der nicht enden will. 

Da ist noch etwas. In den beiden vergangenen Wochen gab es endzeitlich geprägte Verse. Jesaja sagt uns, dass am Tag des Herrn das Land selbst die verscharrten Ermordeten und ihr vergossenes Blut herausgibt und zeigt. Auch der Vers Zefanias verweist auf den Tag des Herrn und sein Gericht im Heiligen Land. Ich betrachte jeden gezogenen Vers für sich. Aber manchmal läßt sich über die Wochen eine Melodie oder Harmonie wahrnehmen. Hier ist es ein düsterer Dreiklang, mit Quinte und None vielleicht. 

Das Schicksal von Rafah im Gazah-Streifen ist noch offen und viele der Geiseln sind noch unter der Erde gefangen. Ich will beten, dass diese Verse keine weiteren Bezüge zur Gegenwart bekommen. Bibelverse zu ziehen und mit Blick auf unser Leben zu lesen kann weh tun.

Der Himmel helfe uns allen.
Ulf von Kalckreuth

Bibelvers der Woche 17/2024

…und die, so auf den Dächern des Himmels Heer anbeten; die es anbeten und schwören doch bei dem HErrn und zugleich bei Milkom;…
Zef 1,5

Hier ist ein Link für den Kontext des Verses, zur Lutherbibel 1984.

Deine Villa geschehe

Noch einmal Endzeit, ein Vers, der nahtlos passt zu dem der vergangenen Woche. Zefania gehört zu den sogenannten „kleinen Propheten“, so genannt wegen des Umfangs ihrer Schriften, und in der Tat: in meiner Bibel ist das Buch Zefanja ganze zweieinhalb Seiten lang. Es liest sich wie eine Kurzfassung Jesajas: Zefanja kündigt den „Tag des Herrn“ an. Das Erscheinen des Herrn mündet in ein Gericht über die Völker, ein Gericht über Jerusalem und — für die geringe Zahl der Überlebenden — in eine Zeit des Heils. Der Satz, aus dem der Vers stammt, liest sich vollständig wie folgt (Zef 1,4-6):

Ich will meine Hand ausstrecken gegen Juda und gegen alle, die in Jerusalem wohnen, und will ausrotten von dieser Stätte, was vom Baal noch übrig ist, dazu den Namen der Götzenpfaffen und Priester und die auf den Dächern anbeten des Himmels Heer, die es anbeten und schwören doch bei dem HERRN und zugleich bei Milkom und die vom HERRN abfallen und die nach dem HERRN nichts fragen und ihn nicht achten.

Des Himmels Heer sind Sterne, die als Götter angebetet wurden, und Milkom ist der Gott der Ammoniter, eines verhassten Nachbarvolks. Verdammt werden hier Judäer, die Gott nicht achten und sich religiös nach mehreren Seiten hin absichern.

Wir beten keine Sterne an und Milkom ist uns unbekannt. Wer sind relevante Götter in unserer Zeit? Von wem erwarten wir Heil, wer ist Gradmesser, ob das Leben gelingt oder nicht? Man könnte eine längere Abhandlung schreiben. Aber ein Bild sagt mehr als 1000 Worte, und in der vergangenen Woche hatte ich beträchtliches Glück:  

Das abgebildete Plakat ist von Scalable Capital, einer Investitionsplattform, einem sogenannten Fintech. Mit einer App kann der Kunde Geld von seinem Konto auf die Plattform verschieben und Aktien, ETFs und andere Wertpapiere kaufen. Die Villa, die dann „geschieht“, steht erkennbar für alles, das wirklich wichtig ist: Wohneigentum, ein schönes Auto, Urlaub mit Renommee bei den Kollegen, Status, Sex-Appeal, ein attraktiver Partner, Gesundheit und ein langes Leben mit gesicherter Altersversorgung. 

Des Himmels Heer eben…

Der Herr behüte uns in dieser Woche,
Ulf von Kalckreuth

Bibelvers der Woche 16/2024

Denn siehe, der HErr wird ausgehen von seinem Ort, heimzusuchen die Bosheit der Einwohner des Landes über sie, dass das Land wird offenbaren ihr Blut und nicht weiter verhehlen, die darin erwürgt sind.
Jes 26,21

Hier ist ein Link für den Kontext des Verses, zur Lutherbibel 1984.

Endzeit

Das ist schroff: Der Herr wird die Untaten aufdecken, mit denen zu leben wir gelernt haben, von denen wir wissen, aber nicht sprechen. Das Land selbst wird das Blut offenbaren, das auf ihm vergossen wurde und wird uns die Getöteten zeigen. Hier ist der Vers im Zusammenhang, in der Übersetzung von 1984, Vers 19-21:

Aber deine Toten werden leben, deine Leichname werden auferstehen. Wachet auf und rühmet, die ihr liegt unter der Erde! Denn ein Tau der Lichter ist dein Tau, und die Erde wird die Toten herausgeben.

Geh hin, mein Volk, in deine Kammer und schließ die Tür hinter dir zu! Verbirg dich einen kleinen Augenblick, bis der Zorn vorübergehe. 

Denn siehe, der Herr wird ausgehen von seinem Ort, heimzusuchen die Bosheit der Bewohner der Erde. Dann wird die Erde offenbar machen das Blut, das auf ihr vergossen ist, und nicht weiter verbergen, die auf ihr getötet sind.

Die Verse steht am Ende eines langen Bittgebets. Es kulminiert in einem Jubelruf, im Wissen um die Auferstehung. Die Erde wird die Toten herausgeben. Aber dann wird sie auch herausgeben, wie sie gestorben sind, sie wird das vergossene Blut herausgeben.

Das ist fest verdrahtet in der Hardware der Hebräischen Bibel wie auch des Neuen Testaments. Am Ende macht der Herr die Welt gerecht. Am Ende ist Heil. Aber dazu muss das Unrecht gesühnt wird. Sonst geht es nicht. Sonst ist kein Heil. 

Wie geht es Ihnen damit? Mit ist nicht wirklich wohl. Christen und Juden leben auf die Endzeit hin. Freuen wir uns darauf? Die ‚Amidah‘ ist das Hauptgebet im jüdischen Gottesdienst. Es enthält den Wunsch, dass die Endzeit „schnell“ kommen möge, „in unseren Tagen“. Eigentlich sogar zweimal: in der Bitte um die Heraufkunft des Neuen Jerusalem und des Messias und in der Bitte auch um Strafe für Frevler und Häretiker. 

Der Herr behüte uns, in dieser Woche und immer,    
Ulf von Kalckreuth

Bibelvers der Woche 15/2024

Und es wurden gefunden unter den Kindern der Priestern, die fremde Weiber genommen hatten, nämlich unter den Kindern Jesuas, des Sohnes Jozadaks, und seinen Brüdern Maaseja, Elieser, Jarib und Gedalja
Esr 10,18

Hier ist ein Link für den Kontext des Verses, zur Lutherbibel 1984.

Unterscheidungen und Unterschiede

Nach dem Ende des babylonischen Exils, als viele Einwohner Jerusalems in ihre Heimat zurückgekehrten, wurde der Aufbau eines zweiten Tempels in Angriff genommen. Schließlich wird er eingeweiht. Ein Gott, ein Volk, ein Tempel — dies ist wieder in greifbarer Nähe. Aber Esra, der Hohepriester, sieht eine große Gefahr. Viele der Zurückgekehrten hatten in der Fremde nichtjüdische Frauen geheiratet und Kinder mit ihnen gezeugt. Esra  setzt durch, dass diese sich von ihren Kindern und ihren Nachkommen trennen. Im Vers der Woche werden die Priesterfamilien genannt, in denen sich ausländische Frauen finden. Vor einigen Jahren, in Woche 02/2018, haben wir Esr 10, 24 gezogen, einen analogen Vers, der sich auf Türhüter bezog.

Es ist eine erbarmungswürdige Szene: im strömenden Regen versammeln sich alle Männer in Jerusalem und müssen geloben, sich von ihren Frauen und Kindern zu trennen, wenn diese nicht dem Volk angehören. Die schwierigen Einzelheiten werden von den Sippenältesten geregelt, getrennt nach Tempeldienern — Priestern, Sängern, Türhütern — und den übrigen Israeliten. 

Es wird uns nicht mitgeteilt, was mit Männern geschieht, die sich weigern. Jedenfalls hatten sie kein Recht, den ihrer Familie zustehenden Platz in der sich neu formierenden Gesellschaft einzunehmen, zum Beispiel als Priester, siehe den BdW 34/2023. Welchen Platz gab es für sie? Auch wird nicht gesagt, was mit den Frauen und Kindern derjenigen geschieht, die Esras Aufruf gehorchen. Die Torah sieht vor, dass geschiedene Frauen einen Scheidebrief erhalten und zu ihrer Familie zurückkehren. Wenn es denn eine gibt, so weit entfernt von Babylon. Die Kinder gehören dem Volk nicht an. Sie können versklavt werden, siehe Lev 25,45, und den BdW 15/2018. Das mutet heute schlicht absurd an. 

Die Bibel gibt Unterscheidungen großes Gewicht. Die Schöpfung Gottes besteht im Kern darin, Dinge zu trennen und damit kenntlich zu machen, die vorher unterschiedslos waren: Licht und Dunkel, Tag und Nacht, Wasser und Land, Mann und Frau, Gut und Böse. Das war Thema in den Versen der Woche 09/2023. und 29/2020. Unterscheidungen aber führen zu Unterschieden, und Unterschiede sind angreifbar und potentiell ungerecht. Wir ebnen lieber ein. Im Zweifel sagen wir, dass Unterscheidungen keine objektive Realität zukomme, sie vielmehr soziale Konstrukte seien. 

Überraschenderweise ist das immer wahr. Unterscheidungen gibt es nicht in der Natur, nur im Kopf und in der Sprachgemeinschaft, und Sprache ist in der Tat ein soziales Konstrukt. Aber sollten wir deshalb keine Unterscheidungen treffen? Was tun wir ohne Kategorien? Zurück in die Begrifflosigkeit? Was hätten Platon, Aristoteles, Hegel, Marx und Rosa Luxemburg zu den Diskussionen gesagt, die wir über Geschlechtsidentitäten führen? Auch hier gibt es eine Grenze zum Absurden.

Beide Pole lassen frösteln. Der Herr helfe uns, die Unterscheidungen zu treffen, die dem Leben dienen. 
Ulf von Kalckreuth

Bibelvers der Woche 14/2024

Der Mund des Gerechten redet die Weisheit, und seine Zunge lehrt das Recht.
Ps 37,30

Hier ist ein Link für den Kontext des Verses, zur Lutherbibel 1984.

Zaddik — vom „rechten Sprechen“

Psalm 37 will den Betenden zur Ruhe bringen, zur Ruhe trotz der schreienden Ungerechtigkeit, die er sieht. Immer wieder, wie ein Mantra, wiederholt der Psalm drei Aussagen:

(1) Bleibe ruhig und vertraue dem Herrn, er wird es richten,
(2) Das Leben des Gerechten wird heil sein am Ende, ihm fällt alles Gute zu, und
(3) Die Frevler, die sich nehmen was sie wollen, erleiden einen schlimmen Tod. 

Oft, sehr oft wird dieses Mantra wiederholt, allein elfmal der schändliche Tod der Frevler beschworen. Der therapeutische Zweck wird deutlich: der Betende ist zutiefst verletzt und versucht mit aller Kraft, an sich zu halten und im Frieden Gottes seine Fassung und sein Vertrauen zu bewahren. Ich verstehe das. Mir ist es selbst schon ähnlich gegangen. 

Der gezogene Vers fällt heraus, er ist ein Solitär. Der Psalm als Ganzes besteht aus Doppelversen, die jeweils mit aufeinanderfolgenden Buchstaben des hebräischen Alphabets beginnen. Im Vers sind wir bei „P“ angelangt, und das hebräische Wort für „Mund“ wird genau so ausgesprochen wie der Buchstabe. Und weil an dieser Stelle vom Gerechten die Rede ist, nutzt der Autor die Gelegenheit, etwas zu sagen, das ihm sehr wichtig ist. Der gesamte Doppelvers lautet: 

Der Mund des Gerechten redet Weisheit, 
und seine Zunge lehrt das Recht. 
Das Gesetz seines Gottes ist in seinem Herzen
seine Tritte gleiten nicht.

Man erkennt den Gerechten daran, dass er ‚recht spricht‘. Das ist heute nicht intuitiv und mit ‚gerechter Sprache‘ hat es nichts zu tun. Wir würden heute einen guten Menschen weniger an seiner Rede als an seinem Handeln erkennen wollen — rechtschaffen soll er sein. Aber in der hebräischen Bibel ist das Wort die Tat und Worte sind Tatsachen.

Wort hat Macht im alten Israel, siehe hierzu den BdW 16/2019. Mit seinem Wort schafft Gott die physische Welt. Sein Wort, die Torah, schafft auch den geistigen Kosmos. Auch der Mensch handelt in erster Linie durch Worte. Es ist stimmig, dass der Psalm den Gerechten, den Zaddik, als einen Menschen beschreibt, der ‚recht spricht‘. Er hat das Gesetz Gottes in seinem Herzen, und bezieht daraus Sicherheit, für sein Reden wie für sein Handeln, auch in schwerer Anfechtung, wie im Psalm. Seine Tritte gleiten nicht: Diese Trittsicherheit in Wort und Tat wünsche ich mir! Den modernen Zweifel, ob Gerechtigkeit überhaupt menschenmöglich sei, kennt der Psalm nicht.

Vielleicht machen wir es uns mit diesem Zweifel auch ein wenig einfach.

Ich schreibe dies in der Nacht von Karfreitag. Jesus ist tot, die Welt steht still. Von meinem Turm in der Weißfrauenkirche herab blicke ich auf die Gutleutstraße, sie ist naß und kalt. Rote Ampeln, Rücklichter. Die Obdachlosen sind verschwunden, sie sind jetzt in der Nähe ihrer Schlafplätze.

Ihnen und uns allen wünsche ich ein frohes Osterfest! 

Der Herr ist auferstanden! Und er wird wiederkommen!
Ulf von Kalckreuth

Überblendung: Die Nacht von Karfreitag, Blick von der Turmklause der Weissfrauenkirche in Frankfurt

Interludium: Betrachtung zu Palmsonntag

Da sprach Pilatus zu ihm: So bist du dennoch ein König? Jesus antwortete: Du sagst es: ich bin ein König. Ich bin dazu geboren und in die Welt gekommen, dass ich die Wahrheit bezeuge. Wer aus der Wahrheit ist, der hört meine Stimme. Spricht Pilatus: Was ist Wahrheit?
Joh 18,37

Hier ist ein Link für den Kontext des Verses, zur Lutherbibel 1984.

Königtum

Dies ist kein „Bibelvers der Woche“, zufällig gezogen, sondern meine Betrachtung zum Palmsonntag im Gottesdienst des vergangenen Sonntags. Sie schließt sich aber sehr unmittelbar an den Bibelvers dieser Woche an und hat mir geholfen, den Sinn der Karwoche besser zu verstehen. Sie können diesen Text also als Nachtrag betrachten.


Königtum, Tod, Fasten

Liebe Gemeinde, es ist Palmsonntag. Palmsonntag steht für ein großes Ereignis. Jesus zieht ein in Jerusalem, ins Zentrum der Macht – dort wo die Könige residierte und der Tempel stand. Es ist aber auch das Zentrum der Macht seiner Gegner. In Jerusalem wird sich alles entscheiden.

Als am nächsten Tag die große Menge, die aufs Fest gekommen war, hörte, dass Jesus nach Jerusalem kommen werde, nahmen sie Palmzweige und gingen hinaus ihm entgegen und schrien: Hosianna! Gelobt sei, der da kommt im Namen des Herrn, der König von Israel! Jesus aber fand einen jungen Esel und setzte sich darauf, wie geschrieben steht »Fürchte dich nicht, du Tochter Zion! Siehe, dein König kommt und reitet auf einem Eselsfüllen.« 
Joh 12, 12-15

Palmsonntag hat etwas sehr Irritierendes – dieser Tag im funkelt und blitzt in allen Farben des Regenbogens und dazu auch in weiß, blendend hell. Eine große Wahrheit scheint auf: zu sehen für jedermann. In alptraumhafter Weise verkehrt aber diese Wahrheit sich dann in ihr Gegenteil, wird zur fetten, feisten Lüge. Um nochmals später doch wahr zu sein, auf gänzlich unerwartete Weise, in einer anderen Welt eigentlich.

Als Jesus später vor Pilatus steht, fragt dieser ihn: „Bist Du der Juden König?“ Und Jesus antwortet (Joh, 18):

Mein Reich ist nicht von dieser Welt… Da sprach Pilatus zu ihm: So bist du dennoch ein König? Jesus antwortete: Du sagst es: Ich bin ein König. Ich bin dazu geboren und in die Welt gekommen, dass ich die Wahrheit bezeuge. Wer aus der Wahrheit ist, der hört meine Stimme.Spricht Pilatus zu ihm: Was ist Wahrheit?

Wahrheit zeigt uns manchmal ständig ein anderes Gesicht. Und manchmal ist sie gar nicht wiederzuerkennen.

Palmsonntag: Jesus gibt sich als Messias zu erkennen – endlich! Es muss eine unglaublich dichte Atmosphäre gewesen sein, damals. Heilserwartung lag in der Luft. Die Menschen jubelten: sie hatten von Jesus gehört und von seinen Wundertaten und nun kam er tatsächlich nach Jerusalem, die Hochgebaute, wo sich das Schicksal Israels und der Welt wenden würde. Alle vier Evangelien berichten von dem Einzug, in leicht unterschiedlicher Weise. Auf einem Füllen sitzend kam Jesus, die Menschen haben ihre Kleider — die seinerzeit lange Tücher waren — auf das Füllen und über den Boden gelegt, für den König. Palmzweige wurden gestreut. Alles war möglich, alles konnte nun geschehen. Die Welt war weit offen. Das Reich Gottes und die Welt der Menschen waren verschränkt wie niemals vorher und niemals nachher. Die Menschen sangen den Messiaspsalm, Psalm 118. Ich will ihn nachher mit euch beten. Dieses Lied ist an vielen Stellen geradezu ekstatisch, es besingt den Einzug in die Heilige Stadt und den Anbruch des Reichs Gottes. In der Zukunft. Doch die war ja gerade Gegenwart geworden…!

Jesus durchschreitet das Tor. Was aber dort auf ihn wartet, ist nicht Königtum, sondern der Tod. Er wird verfolgt – versteckt feiert er mit seinen Jüngern das Pessachmahl, wird dann verraten, verhaftet, verurteilt und verspottet. Eine Dornenkrone setzen sie ihm auf, dem „König der Juden“, und einen Purpurmantel. Dann wird er gefoltert bis zum Tod. Die Welt bleibt stehen, der große Schabbat, einen ganzen Tag lang!

Und dann ist alles GANZ anders. Dann ist Jesus wirklich König, dann steht er auf von den Toten, ist Christus, der Gesalbte, der zur Rechten des Vaters sitzt.

Das ist eine unglaubliche Geschichte, nicht wahr? Als ich darüber nachdachte, merkte ich, dass sie aber auch etwas hat, das uns alle betrifft, etwas fast Alltägliches. Wir sind Kinder Gottes, sind als Kinder Gottes geboren und als Christen dazu bestimmt, die Krone zu empfangen. Das ist Palmsonntag, nicht wahr? Was aber dann mit uns geschieht, ist nicht schön. Bei vielen dauert es lange, bei manchen geht es schneller – wir desintegrieren, lösen uns auf. Im Alter verlieren wir alles: Kraft, Geist, Schnelligkeit, oft auch den Verstand und die Erinnerungen, am Ende sogar die grundlegendsten Fähigkeiten. Das Leben ist sehr gut darin, uns die Dornenkrone aufzusetzen. Ich denke an einen Menschen, der mir sehr nahe steht. Er wird neunzig und hat fast alles verloren, ausser seinem Verstand und seinem Gehör und seiner Familie. Diese drei sind ihm geblieben. Dornenkrone, nicht wahr? Karfreitag

Gottes großes Versprechen ist, dass dies nicht das Ende ist. Das wir zu Recht Gottes Söhne und Töchter heißen, dass wir Könige sind und Königinnen. In dieser Welt und in der nächsten. In Ostern liegt die eigentliche, die letzte Wahrheit.

Auf dem Weg dorthin aber verlieren wir alles. So ist es, unausweichlich, die Bibel sagt das deutlich, im Buch Kohelet wie auch in den Psalmen. Gott nimmt uns das nicht ab. Der Weg ist nicht schön, oft ist er gar entwürdigend, so wie die Dornenkrone. Und wir sollen lernen, damit umzugehen. Ich sehe darin den eigentlichen Sinn des Fastens. Lernen, frei zu bleiben.

Palmsonntag ist der Einstieg in die Karwoche. Mich hat die Fastenzeit in diesem Jahr überfallen und eingefangen, fast wie ein Räuber. Ich wollte eigentlich lediglich auf Alkohol und Videos verzichten. Fleisch esse ich ohnehin nicht. Meine jüngere Tochter hat dann beschlossen, tagsüber nicht zu essen, nur noch abends nach acht Uhr. Ich fand das überzeugend und habe mich angeschlossen. Jeden Abend haben wir um acht Uhr gemeinsam gegessen.

Und die kommende Woche, Montag bis Karsamstag, werde ich in einem kleinen Zimmerchen in der Mitte eines Kirchturms verbringen. Weißfrauenkirche, Gutleutstraße. Ich will versuchen, ein Buch aus meinen Betrachtungen zum Bibelvers der Woche zu machen. Das war ein recht kurzfristiger Entschluss, aber irgendwie passt er zum ganzen Rest. Ich werde sehr reduziert sein da oben, und ich bin gespannt, was es mit mir macht. Später werde ich es vielleicht wiedererkennen, in einigen Jahren, wenn ich selbst neunzig bin.

Und dann wissen, dass ich König bin. Wie Jesus, wie wir alle!

Amen! So sei es, so soll es sein!

Bibelvers der Woche 13/2024

Da führten sie Jesum von Kaiphas vor das Richthaus. Und es war früh; und sie gingen nicht in das Richthaus, auf dass sie nicht unrein würden, sondern Ostern essen möchten.
Joh 18,28

Hier ist ein Link für den Kontext des Verses, zur Lutherbibel 1984.

Radwechsel

Die Karwoche ist eine Höllenfahrt zum Tod. Sie beginnt mit einer Blüte aus dieser Welt: Jesus zieht in Jerusalem ein und die Menschen erkennen ihn als Messias. Und sie endet mit einer Blüte aus einer anderen Welt.

Unser Vers — zufällig gezogen ! — führt uns mitten hinein in die Karwoche. Jesus ist verraten und verhaftet worden, in der Nacht von Gründonnerstag auf Karfreitag. Der jüdische Hohe Rat verhört ihn und berät und befindet, dass dieser sterben müsse, damit das Volk sicher vor den Römern leben könne. Aber mit seinem Tod will man nichts zu tun haben. Die Wachen bringen Jesus zum Richthaus der Römer, ins Prätorium. Sehr früh am Morgen ist es. Auf der Höllenfahrt ist dies eine Art Radwechsel. Und ein wunderlicher Dialog entspinnt sich: 

TextSubtext
28 Da führten sie Jesus von Kaiphas zum Prätorium; es war früh am Morgen. Und sie gingen nicht hinein, damit sie nicht unrein würden, sondern das Passamahl essen könnten.Wir wollen uns nicht die Hände schmutzig machen!
29 Da kam Pilatus zu ihnen heraus und fragte: Was für eine Klage bringt ihr gegen diesen Menschen vor?Was wollt ihr von mir um diese Zeit? Was fällt euch ein, mich herauszurufen?
30 Sie antworteten und sprachen zu ihm: Wäre dieser nicht ein Übeltäter, wir hätten ihn dir nicht überantwortet. Dein Job ist’s der dich ruft…!
31 Da sprach Pilatus zu ihnen: So nehmt ihr ihn hin und richtet ihn nach eurem Gesetz. Kümmert euch um eure Angelegenheiten selbst!
Da sprachen die Juden zu ihm: Wir dürfen niemand töten.Nein, großer Besatzer, es ist wirklich dein Job, hier geht es um ein Kapitalverbrechen!
Joh 18, 28-31

Schließlich nimmt Pilatus die heiße Kartoffel. Es ist der Tag vor Pessach, das Volk ist erregbar, und er will keinen Fehler machen. Der Hohe Rat bezichtigt Jesus, er gebe sich als König der Juden aus und das kann Kampfansage gegen die römischen Besatzer sein. 

Sehen Sie, wie tief Jesus gesunken ist? Von ihm gibt es hier keine Aktion, Reaktion oder Äußerung. Er wird zwischen zwei Gruppen hergeschoben, die nichts mit ihm zu tun haben wollen. Lukas berichtet, Pilatus habe gar versucht, ihn an Herodes Antipas, den Statthalter von Galiläa loszuwerden. Der aber schickte ihn postwendend zurück.

Jesus ist nun Objekt der Dispositionen anderer, bestimmt dazu, Schläge entgegenzunehmen und schließlich den Tod. Sein Königtum beginnt danach… 

Gott bleibe bei uns in unserer Karwoche!
Ulf von Kalckreuth


Ein P.S. zur Karwoche: Ich werde sie auf ganz eigene Weise verbringen — in einer Zelle im Turm der Frankfurter Weißfrauenkirche. Mitten in Frankfurt, vielleicht 800 m von meinem Arbeitsplatz entfernt. Die Gitarre nehme ich mit und den Computer. Ich will versuchen, aus den Bibelversen der Woche ein Buch zu machen — und mal sehen, was sonst noch geschieht…

Das Türmerzimmer in der Frankfurter Weißfrauenkirche