Bibelvers der Woche 17/2025

Wer dem Armen gibt, dem wird nichts mangeln; wer aber seine Augen abwendet, der wird viel verflucht.
Spr 28,27

Hier ist ein Link für den Kontext des Verses, zur Lutherbibel 1984.

Sehen und leben 

Als ich diesen Vers zog, dachte ich, hier sei nicht viel Arbeit zu tun: er ist selbsterklärend und es gibt keinen Kontext zu erläutern. Das Buch der Sprüche ist eine Sammlung von Merksätzen, die Richtschnur sein sollen für ein gelungenes Leben, und zwischen diesen Merksätzen besteht meist wenig direkte Beziehung. 

Aber gestern, auf dem Fahrrad, stand mir plötzlich der zweite Teil des Verses vor Augen: „Wer aber seine Augen abwendet, der wird viel verflucht“. Die Sprüche lehren manche Verhaltensweisen und warnen vor anderen. Meist werden die positiven bzw. negativen Konsequenzen genannt oder wenigstens angedeutet. Die Sprüche kommen in Doppelversen: Dieselbe Aussage wird zweimal gemacht, oft je einmal positiv und negativ gewendet. Sie wird dabei nicht einfach wiederholt, sondern in zwei Perspektiven gestellt. Das erleichtert die Aufnahme im Langzeitgedächtnis, es gibt den Merksätzen aber auch Tiefenschärfe, eine dritte Dimension. 

Wir sollen nicht einfach freigiebig sein, blind sozusagen, oder es den Staat richten lassen als gutwillige Steuerzahler, sondern wir sollen hinsehen und wahrnehmen. Wer es nicht tut, begibt sich in Gefahr. Das ist keine Drohung mit der Strafe Gottes. Wenn das Buch der Sprüche warnt, dann wohnen die negativen Konsequenzen der angesprochenen Handlung selbst inne, es sind ihre langfristige Folge. Gott tritt nicht persönlich als strafende Instanz in Erscheinung, er gibt sein Gesetz als Wegweiser. Wer Weisung und Weisheit verachtet, tut dies zum eigenen Schaden. Hier ein Link zum Bibelvers der Woche 40/2022.

Wer nicht hinsieht, den bestraft das Leben, sagt der Spruch. Wer nicht hinsieht, verliert den Kontakt mit seiner Wirklichkeit und seiner Umwelt, wird einsam und unglücklich, lese ich.

Es ist Karfreitag. Gelegenheit, über das Leben und seine Einsamkeiten nachzudenken. Wie oft habe ich nicht hingeschaut, weil es entlastet, weil es die Welt einfach und überschaubar macht, weil sich Alltag und „Notwendigkeiten“ nur so bewältigen lassen. Und es stimmt: wer dies zur dominanten Strategie macht, der ist auf dem Weg in eine sehr enge und ganz private Hölle. Ohne Gott und ohne Teufel. Ganz allein.

Nun bin ich ins Grübeln gekommen, und plötzlich erschließt sich mir auch der erste Teil des Spruchs. Er spannend. Ich bin Ökonom, und für Ökonomen fundamental ist die sogenannte Budgetrestriktion. Damit ist folgender Sachverhalt gemeint: Ein Euro, den man für eine Sache ausgibt, ist für alle anderen Verwendungen verloren. Sehr einfach und sehr mächtig, und es wäre gut, wenn mehr Menschen und Politiker diesen Satz verinnerlichen könnten. Der Schreiber des Verses kennt die Budgetrestriktion, das zeigt die absichtlich paradoxe Formulierung. Wer etwas dem Armen gibt, der kann es nicht mehr für die Erfüllung eigener Wünsche ausgeben. Ja. Aber ist das alles? Der Spruch setzt fort: „… dem wird nichts mangeln“. Wird mir etwas fehlen? Das ist die „richtige“ Frage. Irgendwie kommt es zurück, sagt der Spruch. Kann ich damit gar meinem eigenen Mangel abhelfen? Die Antwort gibt der zweite Teil des Spruchs.

Der Herr gebe uns die Kraft, zu sehen. Er nehme den Schleier von unseren Augen. Er sei besonders dann mit uns, wenn wir die Not des anderen nicht ertragen wollen.  
Ulf von Kalckreuth

Bibelvers der Woche 16/2025

…sondern du sollst sie ordnen zur Wohnung des Zeugnisses und zu allem Geräte und allem, was dazu gehört. Und sie sollen die Wohnung tragen und alles Gerät und sollen sein pflegen und um die Wohnung her sich lagern.
Num 1,50

Hier ist ein Link für den Kontext des Verses, zur Lutherbibel 1984.

Kaste und Kompass

Das Kapitel beginnt mit einer Zählung der wehrfähigen Männer in Israel. Das Volk zieht in der Wüste umher, und die Zeit ist gekommen, sich militärisch auf den Einfall in das Gelobte Land vorzubereiten. Bei dieser Erfassung bleiben die Leviten ausgenommen. Ihr Dienst liegt ausschließlich bei der Stiftshütte, den heiligen Gerätschaften und der Bundeslade, einem ganzen mobilen Tempel, der von den Israeliten auf ihrer Wanderung mitgeführt wird. 

So ähnlich — freigestellt von Militärdienst und weltlicher Arbeit für den Dienst an Gott — verstehen sich im heutigen Israel viele ultraorthodoxe Männer. Im alten Israel sind Leviten Tempeldiener. Die Priester werden von einer besonderen Sippschaft unter ihnen gestellt, den Nachkommen Aarons. Andere Leviten dürfen zwar nicht Priester sein, aber auch sie nehmen Aufgaben an dem und für den Tempel wahr. Die Leviten sind, was man heute als Funktionselite bezeichnet. Spezialisiert auf kultische Aufgaben haben sie intensiveren Umgang mit der Schrift als andere Israeliten, und von ihrer Hand stammen wohl große Teile der jüdischen Bibel.  

Als Funktionselite, als Kaste, sind Leviten nicht an ein bestimmtes Territorium gebunden. Es gibt kein Stammland der Leviten, von dem sie leben, das sie bearbeiten könnten. Aber dennoch verstehen sie sich als Stamm und als Nachkommen eines der zwölf Söhne Jakobs, und so beschreibt es die Bibel. Zwei real existierende Stämme — Ephraim und Manasse — werden auf einen Sohn, Joseph, zurückgeführt, damit die Zwölfzahl erhalten bleibt, bei den Stammesterritorien ebenso wie bei den Söhnen.

Ein Israelit wurde in eine bestimmte Aufgabe, eine bestimmte Rolle und Position hineingeboren. Die Leviten haben von Geburt an eine Aufgabe — Gott zu dienen, und zwar in genau bestimmter Weise. Ihr Leben wird dadurch durchgreifend geprägt und bestimmt. Wir sind dieser Art Auftrag im Bibelvers der Woche 34/2023 bereits begegnet.

„Um die Wohnung her sich lagern…“ Wie es sich wohl anfühlt, die Aufgabe schon als kleines Kind zu kennen, sie vom Vater zu erben, gottgewollt?  

Gottes Weisheit ist Orientierung im Leben, Orientierung der Bewegungsrichtung. Wenn wir unsere Aufgabe nicht schon kennen, wenn wir sie erst finden müssen, brauchen wir diese Weisheit so dringend wie einen Kompass im Polareis. 

Der Herr helfe uns, die Aufgabe zu verstehen und er gebe uns Kraft. 
Ulf von Kalckreuth

Bibelvers der Woche 28/2024

Ein Auge, das den Vater verspottet, und verachtet der Mutter zu gehorchen, das müssen die Raben am Bach aushacken und die jungen Adler fressen.
Spr 30,17

Hier ist ein Link für den Kontext des Verses, zur Lutherbibel 1984.

Licht und Schatten

Oh! Wer seine Eltern nicht achtet, den fressen die Raben! Was ist hier gemeint? Wessen Auge die Vögel aushacken, der ist vorher gestorben. Vielleicht wurde er gesteinigt? Dtn 20,18-21 legt die Todesstrafe für mißratene Söhne fest, und im Bundesbuch, Ex 21,15+17, wird der Tod für erwachsene Kinder gefordert, die ihre Eltern schlagen oder verfluchen. 

Aber das Buch der Sprüche ist nicht die Torah, es ist ein Lehrbuch der Weisheit — oder besser: ein Übungsbuch, es sind Vorlagen zum Auswendiglernen. Der Vers sagt, dass die Raben das frevelnde Auge aushacken müssen (=werden), nicht, dass sie es tun sollen. Die Verachtung der Eltern trägt ihre Strafe in sich.

Den Schatten des Urteils im Vers nämlich wirft ein blendend helles Licht. Der familiäre Zusammenhalt ist in der Welt der Bibel elementar wie das Leben selbst. Die Familie erfüllt alle Funktionen der Daseinsvorsorge. Sie ist Alters-, Kranken- und Arbeitslosenversicherung. Sie ist Schule und Ausbildungsstätte in einem. In und von seiner Familie erhält ein junger Mensch alles: die Sprache, Kenntnisse und Fertigkeiten, Beziehungen, seinen Patz im Leben, siehe BdW 34/2023, Die Familie stiftet die Ehe und übernimmt die immensen Kosten der Hochzeit. Und sie ist es auch, die das Wissen über die Welt und den Glauben an Gott weitergibt — beides gehört ununterscheidbar zusammen, In den zehn Geboten findet sich kein Aufruf, gesetzestreu zu sein und die Obrigkeit zu achten, sondern das Gebot, die Eltern zu ehren. 

Das wirkt wie ferne Vergangenheit. Aber auch heute ist die Familie für die Chancen eines jungen Menschen von unschätzbarer Bedeutung. Ohne ihren Schutz und Hintergrund ist man schnell bei den Raben…

Wer seine Eltern nicht achtet, aus gutem Grund oder nicht, der steht vor einem schwierigen Leben. Und weil das so ist — was können Eltern tun, damit das nicht geschieht? Darüber denke ich immer wieder mal nach. Gestern gab mir meine Tochter eine Antwort. Als eine Auseinandersetzung fast aussichtslos wurde, hat sie mir geappt: „Heute habe ich gelernt, dass Liebe geduldig ist.“

Unser Vers oben steht in der Sammlung von Sprüchen eines Weisheitslehrers namens Agur. Zu Beginn des Kapitels gesteht er, dass er mit leeren Händen dasteht. Lesen Sie selbst, sein Bekenntnis rührt mich an: 

Ich habe mich gemüht, o Gott, ich habe mich gemüht, o Gott, und muss davon lassen. Denn ich bin der Allertörichtste, und Menschenverstand habe ich nicht. Weisheit hab ich nicht gelernt, und Erkenntnis des Heiligen habe ich nicht. Wer ist hinaufgefahren zum Himmel und wieder herab? Wer hat den Wind in seine Hände gefasst? Wer hat die Wasser in ein Kleid gebunden? Wer hat alle Enden der Welt bestimmt? Wie heißt er? Und wie heißt sein Sohn? Weißt du das?

Das schreibt er etwa zeitgleich mit Sokrates. Unser Vers gehört zu dem wenigen, das er der Nachwelt dennoch hinterlassen will. 

Gott segne unsere Familien! 
Ulf von Kalckreuth 

Bibelvers der Woche 47/2023

Also kam Salomo von der Höhe, die zu Gibeon war, von der Hütte des Stifts, gen Jerusalem und regierte über Israel.
2 Ch 1,13

Hier ist ein Link für den Kontext des Verses, zur Lutherbibel 1984.

Worauf es ankommt, Teil II

Stellen Sie sich vor, Sie hätten einen Wunsch frei. Einen einzigen. Da kann man schon ins Grübeln kommen. Salomo opfert dem Herrn öffentlich auf der Höhe zu Gibeon, und in der Nacht darauf erscheint ihm der Herr und sagt ihm, er möge einen Wunsch äußern. 

Ein wenig wie im Märchen. Was soll Salomo sich wünschen? Er ist das uneheliche Kind Davids mit Batseba, einer verheirateten Frau, deren Mann sein Vater hatte töten lassen. Um den Thron besteigen zu können, hat er sich aus einer hinteren Position gegen seine vielen Brüder durchgesetzt, auch gewaltsam. Seine Macht ist nicht gefestigt. Da wäre der Tod der Feinde als Wunsch naheliegend, auch Macht und Reichtum, um sich durchsetzen zu können. Aber Salomo wünscht sich etwas, das nicht auf der Hand liegt: Weisheit und Erkenntnis. Sehr zum Erstaunen des Herrn: 

Weil du dies im Sinn hast und nicht gebeten um Reichtum noch um Gut noch um Ehre noch um deiner Feinde Tod noch um langes Leben, sondern hast um Weisheit und Erkenntnis gebeten, mein Volk zu richten, über das ich dich zum König gemacht habe, so sei dir Weisheit und Erkenntnis gegeben. Dazu will ich dir Reichtum, Gut und Ehre geben, wie sie die Könige vor dir nicht gehabt haben und auch die nach dir nicht haben werden. (2 Chr 1,11+12)

Ich sehe hier zweierlei. Manchmal schenkt Gott Dinge, um die wir nicht gebeten haben. Wenn wir hadern, dass das Leben die Erfüllung unserer Wünsche hartnäckig verweigert, mögen wir schauen, was da ist, ohne dass wir es uns gewünscht haben — Freundschaften, Erlebnisse, Musik, vielleicht ein wacher Geist oder die Freude an einem schönen und kraftvollen Körper. Wenn ich hinschaue, so ist meine Welt voll solcher Dinge.

Zweitens und spezifischer: Salomos Wunsch nach Weisheit ist ein weiser Wunsch. Könige haben ein spezielles Problem. Man ist König nur weil und solange andere sich nicht trauen, die Gefolgschaft zu versagen oder sich aufzulehnen. Ein König hat keine nennenswerte eigene Kraft, seine Kraft ist geliehen von anderen. Deren Schwert muß er einsetzen. Auf das eigene Schwert zurückgeworfen lebt er nicht lange. Die anderen sind stärker, wenn sie sich zusammentun, immer! Die Kräfteverhältnisse zu durchschauen, mit stets wachem Auge, das Gewicht zu verlagern, um das Gleichgewicht zu wahren und nicht abzustürzen, Erwartungen aufzubauen, Phantasien, Ängste und Träume anderer zu nähren, zu richten, zu steuern, dazu ist Erkenntnis und Weisheit nötig. Für Königtum ist das ist die Grundlage. So ausgerüstet steigt Salomo herab von der Höhe Gibeon, um Israel zu regieren. Und so kommt auch das andere, Reichtum, Macht und Ehre — und viele Frauen. 

Der Vers der vergangenen Woche gab Anlass nachzudenken, worauf es ankommt im Leben. Und ich hatte gefragt, ob in der Aufzählung des Psalms etwas fehlt. Hier ist eine gute Antwort: Weisheit und Erkenntnis. Weisheit und Erkenntnis bergen indes manchmal Wahrheiten, denen man sich eigentlich gern entziehen würde. Vielleicht deshalb ist der Wunsch Salomos nicht universell. Aber am Ende wird die Wahrheit uns frei machen, sagt Joh 8,32. Daran habe ich stets geglaubt und tue es noch. 

Der Herr verleihe uns Weisheit und Erkenntnis!
Ulf von Kalckreuth

Bibelvers der Woche 40/2022

So gehorchet mir nun, meine Kinder. Wohl denen, die meine Wege halten!
Spr 8,32

Hier ist ein Link für den Kontext des Verses, zur Lutherbibel 1984.

Weisheit suchen und finden!

Schauen Sie sich erst einmal den wundervollen Abschnitt an, dem unser Vers entstammt. Hier spricht die Weisheit selbst: 

Der HERR hat mich schon gehabt im Anfang seiner Wege, ehe er etwas schuf, von Anbeginn her. Ich bin eingesetzt von Ewigkeit her, im Anfang, ehe die Erde war. Als die Meere noch nicht waren, ward ich geboren, als die Quellen noch nicht waren, die von Wasser fließen. Ehe denn die Berge eingesenkt waren, vor den Hügeln ward ich geboren, als er die Erde noch nicht gemacht hatte noch die Fluren darauf noch die Schollen des Erdbodens. Als er die Himmel bereitete, war ich da, als er den Kreis zog über den Fluten der Tiefe, als er die Wolken droben mächtig machte, als er stark machte die Quellen der Tiefe, als er dem Meer seine Grenze setzte und den Wassern, dass sie nicht überschreiten seinen Befehl; als er die Grundfesten der Erde legte, da war ich als sein Liebling bei ihm; ich war seine Lust täglich und spielte vor ihm allezeit; ich spielte auf seinem Erdkreis und hatte meine Lust an den Menschenkindern.

So hört nun auf mich, meine Söhne! Wohl denen, die meine Wege einhalten! Hört die Mahnung und werdet weise und schlagt sie nicht in den Wind! Wohl dem Menschen, der mir gehorcht, dass er wache an meiner Tür täglich, dass er hüte die Pfosten meiner Tore! Wer mich findet, der findet das Leben und erlangt Wohlgefallen vom HERRN. Wer aber mich verfehlt, zerstört sein Leben; alle, die mich hassen, lieben den Tod.
(Sprüche 8, 22-36, Lutherbibel 1984)

Das Buch der Sprüche ist ein Lehrbuch der Weisheit — im wortwörtlichen Sinne. In seinem Kern ist es eine Sammlung von Merksätzen zum Auwendiglernen, die den Lehrstoff begreif- und erinnerbar machen sollen. Ich freue mich jedesmal, wenn ich auf einen Vers aus dem Buch der Sprüche ziehe. Was dabei zum Vorschein kommt, ist neu und vertraut zugleich. Und es ist 2300 Jahre alt, gut abgehangen, nicht immer garantiert tagesaktuell. Aber wenn ich das brauche, kann ich den Deutschlandfunk einschalten.

Die morgenländische Weisheit ist mit der griechischen Philosophie verwandt. Es geht um Regeln für gelungenes Leben. Diese Regeln stehen in Zusammenhang mit Gott. Sie sind aber nicht Theologie, sondern Kunst der Lebenspraxis. Man findet im Buch der Sprüche kaum Verweise auf die Torah oder die Schriften. 

Die Regeln der Weisheit tragen sich selbst — wer sie befolgt, hat Erfolg, wer sie mißachtet, trägt den Schaden selbst. Wohl denen, die meine Wege halten! Jeder Lebensratgeber behauptet das von sich. Entscheidend aber ist, dass das Buch der Sprüche (auch) von Ethik handelt. Das „Wie soll ich leben“ bemißt sich nicht nur am individuellen Wohlergehen, sondern gleichermaßen am Wohlergehen der Gemeinschaft. Wir sehen hier üblicherweise einen Konflikt. Die Bonbons, die ein Kind sich vom Tisch nimmt, stehen für die anderen nicht mehr zur Verfügung. Die Weisheitsliteratur besteht darauf, dass es, wenn wir richtig leben, zwischen diesen Forderungen keinen Widerspruch gibt. Wer das für die Gemeinschaft richtige tut, bringt und hält sein eigenes Leben in Ordnung. Und umgekehrt: Wer aber mich verfehlt, zerstört sein Leben; alle, die mich hassen, lieben den Tod.

Wie soll man das verstehen? Als Ökonom fühle ich mich an Adam Smith erinnert. Er war Moralphilosoph und wurde zum Gründungsvater der Nationalökonomie. Er steht für die durchaus erstaunliche Botschaft, dass man längerfristig keinen Wohlstand erzielen kann, ohne dabei das Richtige für die Gemeinschaft zu tun. Wer reich werden oder auch nur am Markt bestehen will, reagiert auf Preissignale und kann gar nicht anders, er muß bestehende Knappheiten lindern. Er wird zum Beispiel Arzt — nicht um der Menscheit zu helfen, sondern weil Ärzte knapp und Behandlungen teuer sind. Der Porsche, den die Medizinstudentin während ihrer Vorlesungen vor Augen hat, lenkt sie und ihre Möglichkeiten sehr gezielt auf den rechten Weg. Auf ihren Altruismus müssen wir uns nicht verlassen… Andererseits: wen Preissignale nicht interessieren, muss dies teuer bezahlen — und zwar selbst.

Jeder weiss, dass es viele Situationen gibt, in denen der Markt nicht das Wohl aller garantiert. Aber das Preissystem als grundlegende soziale Institution ist erstaunlich robust, und es wäre schön, lebensnotwendig gar, wenn mehr Felder sich so entwickeln ließen, dass es keinen Widerspruch gibt zwischen unserem Eigeninteresse und dem Wohl aller. Solche Wege sind dauerhaft und belastbar. Das Buch der Weisheit steht für die Überzeugung, dass es sie gibt. 

Und so verstehe ich den Vers dieser Woche: Lasst uns diese Wege suchen und sie gehen! Es ist das Beste, das wir für uns selbst tun können. Ich selbst denke an die Klimakrise, es ist das, was mich zunehmend beruflich beschäftigt. Widersprüche zwischen Eigeninteresse und dem Interesse der Menschheit sind hier der Kern des Problems. 

Jesus sagt uns, dass dieser Widerspruch Illusion ist, dass wir ihn überwinden müssen, dass wir bei Gott sind, wenn wir den Nächsten lieben wie uns selbst. 

Der Herr gebe uns Weisheit, in der kommenden Woche und in unserem Leben.
Ulf von Kalckreuth

Bibelvers der Woche 05/2022

Auch legt man die Hand an die Felsen und gräbt die Berge um.
Hiob 28,9

Hier ist ein Link für den Kontext des Verses, zur Lutherbibel 2017.

Weisheit — und wie man sie findet

Das ist orientalisch: die Hälfte des Kapitels wird auf eine Hinführung verwendet, bei der das, worum es eigentlich geht, nicht erwähnt wird. Zwölf lange Verse hindurch gibt Hiob ein Beispiel nach dem anderen für Dinge, die ihre versteckte Orte haben, und die man doch findet, mit großer Mühewaltung und Kunst. Der Vers ist ein Teil dieser Beschreibung, die schließlich zu dem führt, worum es eigentlich geht (Vers 9-12):  

Auch legt man die Hand an die Felsen und gräbt die Berge von Grund aus um. Man bricht Stollen durch die Felsen, und alles, was kostbar ist, sieht das Auge. Man wehrt dem Tröpfeln des Wassers und bringt, was verborgen ist, ans Licht. Wo will man aber die Weisheit finden? Und wo ist die Stätte der Einsicht?

Zu finden ist sie nicht, und zu kaufen auch nicht. Weisheit wird als inkommensurabel mit Gold und Gütern bezeichnet — man kann sie nicht bezahlen, weil es keinen Betrag gibt, der ihrem Wert entspricht. Das ist eine Botschaft, die wir aus dem Buch der Sprüche schon kennen, siehe den BdW 50/2020. Gibt es sie dann überhaupt? Ja, sie ist bei Gott. Und Gott schuf sie nicht einfach. Bei der Schöpfung der Welt „sah er sie und verkündete sie, bereitete sie und ergründete sie“ (V. 27). Sie ist Gott zwar nachgeordnet, aber ebenso ewig wie er. In der Einleitung des Buchs der Sprüche spricht die Weisheit selbst (Spr 8, 22- 31):   

Der HERR hat mich schon gehabt im Anfang seiner Wege, ehe er etwas schuf, von Anbeginn her. Ich bin eingesetzt von Ewigkeit her, im Anfang, ehe die Erde war. Als die Tiefe noch nicht war, ward ich geboren, als die Quellen noch nicht waren, die von Wasser fließen. Ehe denn die Berge eingesenkt waren, vor den Hügeln ward ich geboren, als er die Erde noch nicht gemacht hatte noch die Fluren darauf noch die Schollen des Erdbodens. Als er die Himmel bereitete, war ich da, als er den Kreis zog über der Tiefe, als er die Wolken droben mächtig machte, als er stark machte die Quellen der Tiefe, als er dem Meer seine Grenze setzte und den Wassern, dass sie nicht überschreiten seinen Befehl; als er die Grundfesten der Erde legte, da war ich beständig bei ihm; ich war seine Lust täglich und spielte vor ihm allezeit; ich spielte auf seinem Erdkreis und hatte meine Lust an den Menschenkindern.

Die Weisheit spielt mit Gott und er mit ihr, es ist dies eine sehr vertraute Beziehung. Uns hingegen ist sie unsichtbar und unzugänglich — das Wühlen im Berg als Bild für ein mühsame Erarbeiten hilft ebensowenig wie der Versuch, sie zu kaufen. So spricht ein Text, der geschrieben ist von Menschen, denen Weisheit das kostbarste war. 

Hiob kommt zu einer sehr einfachen Conclusio: Dem Menschen selbst ist die Weisheit nicht zugänglich und sie ist bei Gott. Wenn Gott also dem Menschen geneigt ist, dann führt ein Weg zu ihr über Gottes Gebote: „Siehe: die Furcht des Herrn, das ist Weisheit und meiden das Böse, das ist Einsicht“.

Weisheit ist im Kern praktische Lebenskunst, siehe den BdW 16/2019. Gottes Gebote sind von Weisheit durchdrungen und der Weg zu gutem Leben. Wenn du sie befolgst, so sagt das Kapitel, verhältst du dich weise, auch wenn deinem Verstand die dafür eigentlich nötige Einsicht fehlt. Du brauchst die analytische, die intellektuelle Einsicht gar nicht: befolgst du die Gebote Gottes, tust du ebendas, was du auch tun würdest, wenn du diese Einsicht hättest. Gottesfurcht ist ein damit Surrogat, mehr noch, ein Äquivalent zur Weisheit, im Ergebnis nicht von ihr zu unterscheiden.

Philosophisch interessant ist folgendes: der Mensch gelangt so auf einem Umweg tatsächlich zu Weisheit — wenn die Brücke trägt, wenn Gott sein Freund ist. Der Hermeneutiker würde nämlich sagen, dass wahre Weisheit auch die eigenen geistigen Beschränkungen berücksichtigt und den bestmöglichen Umgang damit. Und der Empiriker könnte feststellen, dass zwei Dinge nicht verschieden sind, wenn sie sich nicht unterscheiden lassen.

Das Buch Hiob ist eine Übung in Dialektik. Jede seiner Wahrheiten wird zur Waffe für den Verfechter der gegenteiligen Position. Manchmal will es mir scheinen, das Buch sei darin wie die Welt selbst. Hiob entwickelt seinen Freunden das Konzept von der in Gottes Geboten eingebetteten Weisheit, um damit seine finale Anklage vorzubereiten. Gott hält sein Versprechen nicht, sagt er, denn Hiob gerät ins Unglück, obwohl er sein Leben ganz auf Gottes Gebote gebaut hat. Die Brücke trägt nicht!

Aber am Ende leuchtet Gott wie die Sonne, ohne sich auf einen einfachen Zusammenhang reduzieren zu lassen. Er lässt sich nicht berechnen und ergreift Hiob, nimmt ihn einfach mit. Im Grunde macht er damit Hiobs Worte über die Weisheit wahr.

Ich wünsche uns eine Woche, in der Weisheit in unserem Tun liegt, auch wenn unser Verstand sie nicht erreicht,
Ulf von Kalckreuth

Ulf von Kalckreuth, Niederursel, 6. April 2021

Bibelvers der Woche 48/2021

Und der HErr redete mit Mose und Aaron und sprach:…
Lev 14,33

Hier ist ein Link für den Kontext des Verses, zur Lutherbibel 2017.

Aussatz von Häusern…

Die Formulierung taucht oft auf in der Torah. Wir hatten diesen Vers schon einmal, BdW 51/2018. Beinahe jedenfalls — Aaron wurde nicht erwähnt, und der Vers stand in Numeri, nicht in Leviticus: „Und der HErr redete mit Mose und sprach…“, Num 5,1. Wir haben auch schon aus Lev 14 gezogen, siehe den BdW 43/2019. Leviticus behandelt Regeln für den Umgang mit Aussatz: erst den Umgang mit Aussatz bei Menschen, dann bei Kleidung und schließlich bei Häusern. Um Häuser geht es in dem Text, den unser Vers einleitet.

Aussatz von Häusern! Haben Sie schon einmal davon gehört? Ich nicht. Manche Kommentatoren denken an den Hausschwamm, einen Pilz, der sich in zerstörerischer Weise durch Baumaterial aus Holz frißt. Ich komme aus dem Süddeutschland und bin in einem Holzhaus aufgewachsen. Die Angst vor dem Schwamm war ständig präsent. Aber ich war auch schon in Israel, und dort gibt es nichts von dem, was der Schwamm liebt und braucht: ein gleichbleibend feuchtes, quasi tropisches Klima.

Die pilzkundliche Veröffentlichung von Joachim Weinhard (2012) bringt es auf den Punkt: den Hausschwamm gibt es in Palästina nicht, und es hat ihn auch früher nicht gegeben, und eine Reinigungszeremonie, wie sie Levitikus en detail beschreibt, hat vermutlich niemals stattgefunden. 

Wo könnte hier also die Botschaft liegen? Aussatz von Häusern… Weinhardt meint, dass die Regelung zu Häusern absichtlich und bewusst eine Tatbestand charakterisiert, der nie erfüllt wird. Der Umgang mit Aussatz ist in den Abschnitten über Menschen, Kleidung und Häuser im Prinzip stets derselbe: Reinigung, Isolation, und nach einer möglichen Heilung ein Sündopfer — das alles wird engmaschig vom Priester überwacht, denn Levitikus ist eine Handlungsanweisung für Priester. Wenn es nun Aussatz von Häusern nicht gibt — und auch bei Kleidung habe ich meine Zweifel — so könnte implizit etwas gemeint sein, das explizit nicht genannt werden kann. Obwohl sie ein Regelwerk enthält, ist die Sprache der Torah nämlich nie abstrakt. Abstraktion haben wir erst von den Griechen und Römern gelernt. Die Torah nennt konkrete Gegebenheiten und regelt diese. Sie verlangt von ihren Auslegern, für reale Fälle nach Analogien zu suchen. 

Haus und Kleidung sind unser Werk, sie umgeben uns und schützen uns. Und sie können krank werden, sagt die Torah. Was hilft, sei Reinigung, Isolation und ein Sündopfer nach der Heilung. Für Maimonides steht Zara’at, Aussatz, ganz allgemein für eine zeichenhafte Veränderung, die üble Nachrede, Verleumdung und Klatsch bestrafen und davor warnen soll, siehe den Wikipedia-Eintrag für Aussatz. Heute könnte man auch an ein Geflecht von fake news und alternative facts denken. Im Kampf gegen die reale Seuche Corona beraubt uns diese soziale Seuche unserer wirksamen Abwehrstrategien: Impfung, Abstand, Isolation, dem gelassenen Verzicht auf Highlights. Auch Korruption fällt mir ein, ein Pilz, der sich durch das soziale Gefüge frisst wie der Hausschwamm durch das Holz. Organisierte Kriminalität, Alkohol und andere Drogen, Pornografie, herabwürdigendes Verhalten in der Familie… Was fällt Ihnen ein? Was macht uns, unsere Familien und unser Gemeinwesen kaputt wie eine ansteckende Seuche?

Was hilft, sind Reinigung, Isolation und ein Sündopfer, sagt die alte Stimme der Torah. Das Sündopfer bekennt die Verfehlung und stellt den Kontakt mit der Gottheit und dem Lebensganzen wieder her. Isolation verhindert, dass aus der Krankheit des einzelnen die Krankheit des Gemeinwesens wird. Und Reinigung ist das erste, was jeder an sich selbst und für sich selbst tun kann.

Ich wünsche uns eine gesegnete Woche,
Ulf von Kalckreuth

Bibelvers der Woche 42/2021

Und setzten sich nieder, zu essen. Indes hoben sie ihre Augen auf und sahen einen Haufen Ismaeliter kommen von Gilead mit ihren Kamelen; die trugen Würze, Balsam und Myrrhe und zogen hinab nach Ägypten.
Gen 37,25

Hier ist ein Link für den Kontext des Verses, zur Lutherbibel 2017.

Zweimal Knechtschaft und zurück

Der Vers markiert eine der Gabelungen, aus denen sich die biblische Geschichte aufbaut. Die Ausgänge dieser Wegscheiden, Wendungen, Entscheidungen sind oft überraschend und lassen sie insgesamt als von Gott geschrieben erscheinen.

Josef wird von seinen Brüdern gehasst und sie haben sich seiner gewaltsam bemächtigt. Er ist anders als sie, ein Träumer und Visionär, und von ihrem Vater wird er offenkundig bevorzugt. Ruben, der Älteste, will ihn dennoch retten. Auf seine Intervention hin töten ihn die Brüder nicht sofort, sondern werfen ihn erst einmal in ein leeres Wasserloch. Ruben verlässt die Szene, wir erfahren nicht, warum. An dieser Stelle wird die Handlung gänzlich unbestimmt. Wird er sterben, wird er leben? Josef ist unten im Wasserloch, oben sind die Brüder und essen. Die Zeit steht still. 

Da heben sie ihre Augen auf — in der Bibel ist dies der Code für eine unmittelbar folgende schicksalhafte Wendung. Sie sehen ismaelitische Händler, eine Kamelkarawane, die von Gilead im Norden nach Ägypten im Süden zieht. „Warum Josef töten und an ihm schuldig werden? Wir verkaufen ihn!“ Sie ziehen ihn aus der Grube und geben ihn den Händlern für einen ordentlichen Preis, zwanzig Silberstücke. Sie mögen der Karawane noch eine Weile nachgesehen haben: Josef würde nie zurückkommen, und wie lange er in der Sklaverei zu leben hätte, war eigentlich gleichgültig… 

Aber an dieser Stelle beginnt eine ganz andere, eine ganz große Geschichte: Josef wird nach Ägypten gebracht, der Träumer macht dort eine unglaubliche Karriere, die ihn zum Manager macht, ins Gefängnis bringt und endlich ins Amt eines Vizekönigs von Ägypten führt. In vielen Wirrungen holt er seine Brüder nach, sie ziehen fort aus Palästina. Ihre Nachkommenschaft wächst und wird in Ägypten zu einem ganzen Volk, dem Volk Israel. 

Obwohl wir Entscheidungen treffen, schreibt Gott die Geschichte, sagt uns die Bibel hier, weil wir die Konsequenzen unserer Entscheidungen nicht überblicken. Die Erzählung von Josef in Ägypten mag völlig aus der Luft gegriffen erscheinen. Und doch kenne ich eine ähnliche Begebenheit, die sich in der Vergangenheit unserer Familie wirklich zugetragen hat. Ich will Ihnen das erzählen. 

Unsere Familiengeschichte berichtet von Caspar von Kalckreuter, Gutsherr in der Niederlausitz und Soldat — letzteres, wie es scheint, aus freiem Willen. Nach dem Dreissigjährigen Krieg kämpfte Schweden mit dem Vereinigten Königreich von Polen und Litauen um die Vorherrschaft im Nordosten. Die Preußen hatten sich unter dem Großen Kurfürsten aus dem polnischen Verband gelöst und waren mit den Schweden verbündet, die Polen hatten ihrerseits ein großes Tatarenheer als Unterstützung. Der große Kurfürst war auch Markgraf der Lausitz. Caspar zog also 1656 im Alter von 30 Jahren mit den Preußen gegen Polen und Tataren.

Am Michaelistag, Anfang Oktober, kam es zu einer katastrophalen Niederlage. Caspar wurde von den Tataren gefangengenommen, nackt ausgezogen und mit den anderen Gefangenen misshandelt. Den Gefangenen wurde nachts die Füße zwischen zwei Bretter gebunden und an der Erde befestigt, und gelegentlich legten sich die Tataren quer über die Gefangenen. Mit dem Hauptheer der Tataren gelangte er an den Dnjepr. Im strengem Winter hütete er Schafe und putzte die Pferde. 

Mit dem schweifenden Heer kam er schließlich ins Donaudelta, wo er einem türkischen Sklavenhändler verkauft wurde. Dieser brachte ihn nach Konstantinopel und verkaufte ihn auf dem Sklavenmarkt weiter. Caspar gab sich seinem neuen Herrn, einem Kaufmann, als Schotte aus und mußte zunächst einfache und harte Arbeit verrichten. Mit der Zeit wurde er des Kaufmanns Gehilfe. Sein Herr gab ihm die Erlaubnis, sich freizukaufen und setzte den Preis erst auf 1000, dann auf 500 Taler fest. Im Auftrag seines Herrn führte Caspar mehrere Seereisen durch. Eine davon ging nach Ägypten (!), den Nil hinauf. Erst nach abenteuerlichen Wegen und Umwegen gelangten sie zurück nach Konstantinopel, sein Herr hatte das Schiff verlorengeglaubt. Es gelang Caspar, Kontakt mit dem Gesandten des Deutschen Reichs aufzunehmen, der half, das fehlende Geld von Caspars Bruder zu besorgen. Sein Herr bat ihn sehr, zu bleiben und Muslim zu werden, und auch der Kadi, der ihm am Kai den Freibrief überreichte, wollte ihn halten. Aber er machte sich auf den weiten Weg zurück.

Zu Pfingsten 1660 schließlich, dreieinhalb Jahren nach seiner Gefangennahme, gelangte er in seine Heimat in der Niederlausitz. Er war gesundheitlich angeschlagen und die Familiengeschichte gibt das Bild einer posttraumatischen Belastungsstörung wieder: 

Es ist aber der von Kalckreuter nach seiner Wiederkunft nicht mehr so gesund, so schön und so fröhlich als vorher gewesen. Er konnte sich die harte, unvermuthete Dienstbarkeit nicht gänzlich aus dem Gemüte schlagen. Auch litt er öfter unter bösen Vorstellungen, weshalb er einst im Winter bei tiefem Schnee ohne Kleider aus dem Bette gesprungen und sich eine halbe Meile entfernt an einem anderen Orte versteckt hat, worüber er in eine gefährliche Krankheit gefallen. — Endlich hatte er fast alles vergessen, wo er gewesen war.
(Aus dem Bericht von Johann Magnussen, ev. Prediger zu Albrechtsdorf, 1679)

Vizekönig ist Caspar nicht geworden bei den Tataren und in der Türkei, nein. Aber er besaß die Kraft, weiterzuleben und durchzuhalten, als die Lage ausweglos war, und die Klugheit, seine Möglichkeiten zu nutzen, als sie sich ihm, nach langer Zeit, endlich zeigten. Mit Gott blieb er stets verbunden: als einziges Besitztum war ihm ein Gebet- und Gesangbuch geblieben, das „Lüneburger Handbüchlein“, mit dem Neuen Testament, dem Katechismus und den Psalmen — eine Kostbarkeit im 17. Jahrhundert! Die Türken ließen ihn ungehindert darin lesen. 

Der gezogene Vers handelt von der Unbestimmtheit, die in vielen persönlichen Katastrophen steckt. Unversehens habe ich nun darüber geschrieben, wie man damit umgehen kann. Ich glaube, es ist eine mächtige Überlebensstrategie. Weiterleben und durchhalten, wenn es keine andere Möglichkeit gibt, und warten. Mit Gott im Gespräch bleiben. Und dann die Chancen begrüßen, wenn sie kommen — falls sie kommen. Wie Josef. Wie Caspar. 

Ich wünsche uns eine gesegnete Woche,
Ulf von Kalckreuth

Bibelvers der Woche 34/2021

Es sprach aber einer aus dem Volk zu ihm: Meister, sage meinem Bruder, dass er mit mir das Erbe teile.
Lk 12,13

Hier ist ein Link für den Kontext des Verses, zur Lutherbibel 2017.

Wenn du nur an eines denken kannst…

If God had a name, what would it be?
And would you call it to his face, 
if you were faced with him?
In all his glory, what would you ask,
if you had just one question?

So beginnt ein Lied, das ich sehr mag, „One of us“ von Joan Osborne. Was wäre die Frage, die wir stellen würden? Sie beträfe sicherlich dasjenige, was uns am allerwichtigsten ist. In dieser kurzen Geschichte geschieht es. Jesus steht vor vielen Menschen und predigt. Ein Mann steht auf. Vor allen anderen bittet er Jesus, ihm gegen seinen Bruder zu helfen, mit dem er wegen des Erbes im Streit liegt (Lk 12, 13-15):

Es sprach aber einer aus dem Volk zu ihm: Meister, sage meinem Bruder, dass er mit mir das Erbe teile. Er aber sprach zu ihm: Mensch, wer hat mich zum Richter oder Schlichter über euch gesetzt? Und er sprach zu ihnen: Seht zu und hütet euch vor aller Habgier; denn niemand lebt davon, dass er viele Güter hat.

Es ist eine traurige Geschichte. Die Erbsache ist, was diesen Mann von Grund auf bewegt — die Sonne will nicht untergehen über der Bitternis, die diese Ungerechtigkeit in ihm nährt. Und jetzt steht der Messias vor ihm. Er kann diese Welt ändern — und tut es nicht! Macht ihm noch Vorwürfe, vor allen anderen. Ich kann mir vorstellen, mit welchem Gesicht der Mann zurück geht in sein ärmliches Haus. Aufgewachsen war er vielleicht in einem großen Haus, aber das enthält sein Bruder ihm nun vor. 

In meiner Bibel ist die Geschichte überschrieben mit „Warnung vor Habgier“. Das ist leicht gesagt. Wie soll der Mann denn da herausfinden? Gut möglich, dass er im Streit mit seinem Bruder gar „recht“ hat, das macht es noch schwieriger.

Denn die Dinge heilen nicht, sie werden nicht von selbst gut. Man muß sie verlassen, hinter sich lassen können. Sonst läuft man an seinem Messias vorbei. Du sollst nicht begehren… das ist eines der zehn Gebote. Aber ich fürchte, es ist einigermaßen sinnlos, sich diesbezüglich gute Vorsätze zu machen. Man kann es, oder man kann es nicht. Es ist eine Gnade. Es gibt viele Alpträume, aus denen man ohne diese Gnade nicht herausfindet. 

Hier ist ein Link zu „One of us“

Ich wünsche uns allen eine gesegnete Woche, 
Ulf von Kalckreuth

Bibelvers der Woche 06/2021

Wie man einen Knaben gewöhnt, so lässt er nicht davon, wenn er alt wird.
Spr 22,6

Hier ist ein Link für den Kontext des Verses, zur Lutherbibel 2017.

Wann werden wir, was wir sind?

Ja, so ist. Das meiste dessen, was wir sind, sind wir von Jugend auf. Die Kinder übergewichtiger Eltern sind öfter als andere selbst übergewichtig. Wenn in einem Haus viel Musik gemacht wird und Kinder ein Instrument spielen lernen, bleibt ihnen Musik oft ins Alter hinein erhalten. So steht es auch mit Bewegungsgewohnheiten und Sport und dem Gebrauch der Sprache, aber auch grundlegenden Persönlichkeitsmerkmalen wie Leistungsmotivation oder Frustrationstoleranz.

Wieviel von dem, was Sie heute ausmacht, waren Sie schon mit 15 oder 18 Jahren? Wir kommen zur Welt und alles an uns ist Potential, ist offen, im genetisch gegebenen Rahmen jedenfalls. In der Jugend erhält dieses Potential seine Ausprägung, koaguliert und gerinnt der fast unendliche Raum von Möglichkeiten zu dem, was wir Persönlichkeit nennen. Man mag dies als Verlust bedauern, aber die Persönlichkeit ist das Chassis für die Fahrt durchs Leben. Ohne ihre Strukturen, ihre Gewohnheiten geht es nicht. 

Der 2500 Jahre alte Merksatz trifft also den Nagel auf den Kopf. Aber führen wir wirklich nur das Skript aus, das unsere Jugend für uns geschrieben hat? Schimpansen sind uns sehr ähnlich. Bei ihnen aber schliesst sich mit der Pubertät das Fenster, in dem sie lernen können. Sie sind dann „fertig“. Der Mensch ist offener. Wir können uns aktiv mit den Problemen auseinanderzusetzen, in die unsere Gewohnheiten uns bringen, auch als Erwachsene noch. Bei manchen mögen zum Beispiel die erworbenen Essgewohnheiten zu einer Krise und zu einer bewussten Neubesinnung führen. Hier ist die Verantwortung für das eigene Leben verortet. Die Jugend ist der Aufschlag für das Spiel, aber der Punkt ergibt sich aus dem Ballwechsel. 

Zum Buch der Sprüche und seinen Eigenarten habe ich vor einigen Wochen geschrieben, und auch davon, dass seine Einsichten nicht im engeren Sinne theologisch sind, siehe den BdW 50/2020. Es geht um Weisheit für das Leben als Ganzes. Der Vers mag uns in zweifacher Weise an unsere Verantwortung erinnern. Zum einen ist es gleichermaßen schwierig und notwendig, die Verantwortung für das eigene Leben zu übernehmen. Nie können wir uns einfach wünschen, jemand anders zu sein — wir müssen uns mit unserer Bedingtheit auseinandersetzen. Aber tun wir es nicht, bleiben wir in unseren Routinen gefangen. 

Zum anderen tragen wir mit unserem Leben in der Familie eine Verantwortung für unsere Kinder. Die Machtkämpfe, das Geschrei, sind am Ende unwichtig — unter dem Strich bleibt, was die Kinder in ihrem Leben „danach“ stark macht oder schwach, glücklich oder unglücklich. Das kann eine wichtige Anregung sein, wenn man monatelang zu viert eingesperrt ist. 

Zuletzt mag man sich fragen, was eigentlich unsere Seele ausmacht — ist es der unendliche Möglichkeitenraum des Kindes oder die geronnene Persönlichkeit des Erwachsenen? Worin sind wir Gott näher? „Ihr sollt werden wie die Kinder“, sagt Jesus, „denn ihrer ist das Himmelreich.“ Vielleicht schließt sich da ein Kreis.

Gottes Segen sei mit uns in dieser Woche!
Ulf von Kalckreuth