Ich will euch von aller Unreinigkeit losmachen und will dem Korn rufen und will es mehren und will euch keine Teuerung kommen lassen.
Hes 36,29
Hier ist ein Link für den Kontext des Verses, zur Lutherbibel 1984.
Aspekte des Heils
Auch bei zufälliger Ziehung bilden sich Cluster — manche Ergebnisse liegen so nahe beieinander, dass sie systematisch wirken. Es gibt ein eigenes Wort dafür: Clustering-Illusion. Im Zweiten Weltkrieg versuchten die Menschen in London die Regel zu verstehen, nach der deutsche V2-Raketen in Londoner Stadtgebieten einschlugen, oder eben auch nicht einschlugen. Man beobachtete Häufungspunkte und diskutierte sie. Die Kenntnis einer Regel, eines Systems, wäre sehr wertvoll gewesen. Aber noch während des Kriegs konnte ein Statistiker zeigen, dass das Muster der Einschläge nicht von dem abwich, was eine rein zufällige Streuung erwarten ließ. Für Interessierte ist hier ein Link, die Veröffentlichung aus dem Jahr 1946 umfasst nur eine einzige Seite.
Diese Geschichte fiel mir ein, als ich den neuen Vers sah. Er steht unmittelbar neben dem Bibelvers der Woche 42/2020, die Betrachtung dazu führt in den Kontext ein und ist hier unmittelbar relevant. Jerusalem ist gefallen und zerstört und der Prophet Hesekiel, weit entfernt im babylonischen Exil, erhält davon Kenntnis. Die Tonlage seiner Prophetie ändert sich drastisch — vor das drohende Unheil tritt nun dominierend die Vision vom künftigen Heil. Jenseits aller Cluster-Illusion ist das übrigens ein echtes Muster in der Bibel: in guten Tagen scheint Verhängnis auf, im Abgrund aber, im Dunklen, das Heil. Die Bibel ist beides, Mahnung und Versprechen, sie ist nicht nur frohe Botschaft.
Unser Vers oben greift zwei Aspekte des Heils heraus, die unverbunden scheinen, aber ich denke, sie gehören zusammen. Wir werden rein sein, spricht der Herr, und wir werden frei sein von dringender materieller Not. Der Herr wird das Korn rufen. Statt „Teuerung“ steht im hebräischen Original „Hunger“. Für Luther war es ein und dasselbe: In Hungerzeiten waren Nahrungsmittel knapp und daher teuer und für viele Menschen unerschwinglich. In der vorvergangenen Woche stießen wir auf eine Geschichte, in der Menschen weite Wege gingen in der Hungersnot.
Ich will euch von aller Unreinheit losmachen…
Wir werden rein sein, sagt der erste Teil des Verses. Da kann einem „Heiligung“ in den Sinn kommen, aber vielleicht ist es auch sehr konkret, sehr physisch gemeint. Nachdem ich den Vers gezogen hatte, am vergangenen Sonntagmorgen, überlegte ich mir, was „Reinheit“ bedeutet, woran ich sie bemerken könnte, wenn sie plötzlich da wäre. Ich wäre diese unerträglichen Schmerzen im Ischias los, fiel mir sofort ein, mein Rücken wäre frei! Das war das erste. Gleich darauf noch eine andere Vorstellung: ich könnte jeden Ton in mir bilden, als freie Luftsäule, die meinen Leib mit der Aussenwelt verbindet, Aussenwelt und Innenwelt eins macht. Die Konkretheit dieser Bilder überraschte mich, aber man muß die Bedingtheit sehen: ich war zu Fuß unterwegs mit einem Bandscheibenschaden, um den Gottesdienst vorzubereiten, und auf dem Weg versuchte ich, mich einzusingen. Am frühen Morgen ist das schwierig, entsprechend gab es erstaunte Blicke.
Anderen Menschen hätten andere spontane Assoziationen: eine peinvolle Regelblutung vielleicht, Pornokonsum, Esstörungen, Rauchen, Alkohol. Reinheit bedeutet letztlich Unversehrtheit: geistig, seelisch und spirituell. Tatsächlich aber hat sie in der Bibel eine wichtige körperliche Dimension, das zeigen auch die Betrachtungen zu den Bibelversen der Wochen 42/2019 und 43/2019, ein anderes Cluster. Sünde und Krankheit sind in der Bibel eng verwandt, eigentlich zwei Seiten ein und derselben Sache.
…und will dem Korn rufen und will es mehren…
Wie schön ist das gesagt! Der Herr schafft, indem er spricht. Hier geht es um die physischen Voraussetzungen. Reinheit kann es nur geben, wo die dringendsten Bedürfnisse gestillt sind. Not kennt kein Gebot, lautet das Sprichwort, und in der Not frisst der Teufel Fliegen. Wenn Reinheit Unversehrtheit ist, dann hat sie viel mit Sicherheit vor materieller Not zu tun. Die katholische Soziallehre weiss das. Caritas und Seelsorge ist nicht dasselbe, aber sie sind eng verwandt.
In meiner kleinen Selbsterfahrung am vergangenen Sonntagmorgen habe ich dann versucht, Reinheit einzuatmen, in mich aufzunehmen, in und durch meine blockierte Wirbelsäule. Und wirklich wurde das Gehen leichter und der Ton freier, und es wurde ein schöner Gottesdienst. Unten ein Bild vom Wege.
Was würde es bedeuten, von aller Unreinheit losgemacht zu sein? Am Ende mag Reinheit in Unschuld münden, wie bei einem Kind, Unschuld vor Gott als Geschenk Gottes, das wir uns selbst nicht zu schaffen vermögen.
Ich wünsche uns eine gesegnete Woche.
Ulf von Kalckreuth