Bibelvers der Woche 30/2019

Richtet nicht, auf dass ihr nicht gerichtet werdet.
Mat 7,1

Hier ist ein Link für den Kontext des Verses, zur Lutherbibel 2017.

Us and them

Unser Vers führt ins Zentrum der christlichen Ethik. Jesus gibt Antworten auf die beiden zentralen ethischen Fragen — erstens: Wie sollen wir uns anderen Menschen gegenüber verhalten? und zweitens: wie sollen wir das Verhalten anderer Menschen uns gegenüber bewerten?

Die Antwort auf die erste Frage ist die goldene Regel. Kurz hinter dem gezogenen Vers steht sie in der folgenden Form (Mt 7,12) 

Alles nun, was ihr wollt, dass euch die Leute tun sollen, das tut ihr ihnen auch! Das ist das Gesetz und die Propheten.

Weiter kommt auch Kant mit dem kategorischen Imperativ nicht. Die Goldene Regel ist im Doppelgebot der Liebe (Mk 12, 29) enthalten. In Mt 5,43ff wird sie zur Feindesliebe zugespitzt. Ökonomen können die Goldene Regel übrigens auf ihre eigene Art formulieren: „Wenn du entscheidest, ziehe alle Folgen deiner Handlungen in Betracht, bei dir selbst und bei anderen — es gibt in Wahrheit keine Externalitäten!“ Es ist evident, dass diese Regel „stimmt“, dass sie ein soziales Optimum beschreibt, wenn sich jeder daran hält!

Damit gibt Jesus die Frage, wie wir uns verhalten sollen, in überraschender Weise vollständig an uns selbst zurück. Dasselbe geschieht mit der zweiten Frage, wie wir das Verhalten anderer beurteilen sollen, siehe auch Lk 6, 36 ff. Die Kriterien, die wir selbst an andere anlegen, wird Gott an uns anlegen. Die Gleichsetzung ist sehr prominent im Vaterunser enthalten „Und vergib uns unsere Schuld, wie auch wir vergeben unseren Schuldigern“. Gott wird hier nicht aufgefordert, Schuld bedingungslos zu vergeben, sondern er wird aufgefordert, sich uns gegenüber als Richter so zu stellen, wie wir es untereinander tun. Im Gleichnis vom „Schalksknecht“ (Mt 18) wird die Analogie von richten und gerichtet werden in ein plastisches Bild gebracht, der Hörer des Gleichnisses wird dabei unversehens in die Rolle Gottes, des obersten Richters versetzt. 

Wir sollen uns also verhalten, als ob alle Folgen unseres Handelns uns selbst träfen. Das ist die Goldene Regel Und auf das Verhalten der anderen sollen wir so antworten, als ob es um unser eigenes Verhalten gehe. Dies sagt der gezogene Vers. Das muß nicht zwangsläufig bedeuten, dass es gar keine Antwort geben soll — auch an unser eigenes Verhalten stellen wir ja Forderungen. Aber die Forderungen sollen, ebenso wie die an unser  eigenes Verhalten, liebevoll sein. Im Ergebnis soll es keine Grenze geben zwischen uns und den anderen.

Wow! Ganz einfach und fast unmöglich. Aber das ist wirklich so gemeint!

Man kann ja mal üben. Im Familienkreis ist es richtig schwer. Aber aus diesem Kontext bezieht Jesus viele Analogien. Unter Kollegen — vielleicht sogar etwas leichter? Und ganz Fremden gegenüber? In der Auseinandersetzung mit echten Gegnern und Feinden? Nicht richten? Beobachten und Hinnehmen? Unsere Antworten werden sehr persönlich und individuell ausfallen. Umgekehrt aber sind es diese Antworten, die uns als Mensch charakterisieren. Das jedenfalls sagt der Vers in unnachahmlicher Kürze.  

Aber dann — zu manchen Zeiten geht es irgendwie, ist es schlicht einfacher als an anderen Tagen. Manchmal ist die Grenze zwischen uns selbst und anderen durchlässiger und das Üben fällt leichter. Auch hierin liegt Gnade. Eine solche Woche wünsche ich uns. 
Ulf von Kalckreuth

Bibelvers der Woche 46/2018

… sondern hat Lust zum Gesetz des HErrn und redet von seinem Gesetz Tag und Nacht!
Ps 1,2 

Hier ist ein Link für den Kontext, zur Übersetzung von 2017.

Wie ein Baum, gepflanzt an den Wasserbächen

Es ist der zweite Vers des ersten Psalms. Der Psalm spricht von „Gottesfürchtigen“ und „Frevlern“. Letztere tauchen in den Psalmen sehr oft auf, als negative Identifikationsfiguren. Die Frevler, das sind nicht Menschen, die manchmal fehlen, sondern solche, die ständig und systematisch gegen Gottes Willen arbeiten, das Böse suchen, unverrückbar auf ein schadenstiftendes Verhaltensprogramm festgelegt. Durch den Blätterwald ging kürzlich die Nachricht über Forschungsergebnisse aus der Psychologie, denen zufolge es sich tatsächlich so verhalten mag — hier ein Link. Vermutlich aber ist es angebracht, den „Frevler“ und den „Gottesfürchtigen“ als Aspekte unserer eigenen Existenz zu sehen, die durchaus koexistieren können.

Der Weg der Frevler geht verloren, sagt der Psalm. Wer in Gott verankert ist, verfügt dagegen über eine unerschöpfliche Energiequelle. So jedenfalls würden wir Nordeuropäer es nennen. Der Orientale spricht bezeichnenderweise von einer unerschöpflichen Wasserversorgung: „er ist ein Baum, gepflanzt an den Wasserbächen“.

Die Schlüsselbotschaft hier ist die „Lust am Gesetz des Herrn“. Zur Zeit des Psalmisten gab es keine Trennung von religiösem Gesetz, Zivilrecht und Staatsrecht. Die Thora umfasst alle drei, und sie wurden durch dieselben Richter geregelt. Für uns klingt der gezogene Vers sonderbar. Gesetz ist ja etwas, das unser Handeln beschränkt — ständig müssen wir Sorge haben, gegen eine Bestimmung zu verstoßen, die wir vielleicht nicht einmal kennen. Lust am Gesetz?

Man versteht diese Lust besser, wenn man sich ganz kurz vorstellt, es gebe kein Gesetz. Das wäre der blanke Horror: es würde uns in eine Art Vor-Steinzeit katapultieren. Vielleicht kann die Gattung Mensch ohne Gesetz überhaupt nicht überleben.

Gesetz ist Voraussetzung für menschliches Leben und in der Tat Grund für Freude und Dankbarkeit. Der „Gesellschaftsvertrag“ ist eine moderne Vorstellung und im Kern etwas naiv – wer hätte diesen Vertrag je mit wem geschlossen? Früher stellte man sich Gesetz als gottgegeben vor, im Grunde ebenso wie die Welt als Ganze. Im Judentum gibt es ein eigenes Fest: „Simchat Torah“, die Freude am Gesetz. An diesem Tag wird die Verlesung der Thora im Gottesdienst mit dem letzten Abschnitt beendet und sofort wieder von vorn begonnen.

Das Gesetz in der Bibel ist Richtschnur und Weg für das mitmenschliche Zusammenleben ebenso wie für das Leben mit Gott. Und für das eigene Leben, für gelingendes Leben. Gesetz und Gnade: Dies sind die beiden Teile Seines Geschenks an die, die ihm folgen. Grund genug also für ein Freudenfest.  

Ich wünsche eine gute Woche, mit Freude am und im Gesetz. Im Ernst!
Ulf von Kalckreuth

Bibelvers der Woche 45/2018

… deine Rede hat die Gefallenen aufgerichtet, und die bebenden Kniee hast du gekräftigt.
Hiob 4,4

Hier ist ein Link zum Kontext in der Lutherbibel 2017.

Mit Trauernden sprechen

Hiob ist ein gottesfürchtiger Mann, doch Satan hält das für Schönwettertreue und fragt sich, was davon übrigbleibt, wenn die Zeiten schlecht werden. Gott erlaubt dem Satan, in diesem Sinne mit Hiob zu verfahren wie ihm beliebt, vorausgesetzt, jener bleibt am Leben. Und so geschieht es: Hiob verliert alles, Geld, Gut, Gesundheit, all seine Kinder… nur sein Leben nicht. 

Drei Freunde kommen, ihn zu trösten. Eine Woche lang spricht keiner ein Wort, entsprechend dem jüdischen Trauerritus. Dann bricht Hiob das Schweigen. Über zwei normale Druckseiten hinweg verflucht er den Tag, an dem er geboren wurde, ganz wie einen Menschen, mit phantastischen, sprachlich sehr schönen Ausschmückungen und fast grotesker Liebe zum Detail.

Dann erhebt Elifas von Taman das Wort. In die Einleitung dieser ersten von vielen Reden und Gegenreden fällt unser Vers. Im Kontext steht dort:

Du hast’s vielleicht nicht gern, wenn man versucht, mit dir zu reden; aber Worte zurückhalten, wer kann’s? Siehe, du hast viele unterwiesen und matte Hände gestärkt; deine Rede hat die Strauchelnden aufgerichtet, und die bebenden Knie hast du gekräftigt. Nun es aber an dich kommt, wirst du weich, und nun es dich trifft, erschrickst du! 

Ein Vorwurf gleich zum Einstieg! Hiob hat vielen geholfen, die in einer Krise steckten, nun, da es ihn selbst trifft, ist alles vergessen. Man fühlt sich an das später von Jesus ironisch zitierte Sprichwort „Arzt, hilf Dir selbst!“ erinnert. 

Aber so hart ist es nicht gemeint. Elifas hat eine echte Botschaft und hofft auf Hiobs Zustimmung. Seine erste Rede enthält zwei Stellungnahmen die damals ausgesprochen innovativ waren. Erstens: „Wie kann ein Mensch gerecht sein vor Gott oder ein Mann rein sein vor dem, der ihn gemacht hat?“ Das klingt sehr modern — man hört Paulus und Luther — in den älteren Büchern des AT und den Psalmen gewinnt man eher den Eindruck, dass alles gut werde, wenn man nur die Regeln befolgt, und dass dies auch nicht zu viel verlangt sei. Elifas sagt, dass nur die Hinwendung an Gott und das Vertrauen in ihn Erlösung ermöglicht. Zweitens: „Siehe, selig ist der Mensch, den Gott zurechtweist; darum widersetze dich der Zucht des Allmächtigen nicht. Denn er verletzt und verbindet; er zerschlägt und seine Hand heilt“. Auch aus dem Unglück kann Gott uns Glück erwachsen lassen, dies ist nicht durch- oder überschaubar, aber der Glaube daran macht es wahr. 

Der zuletzt zitierte Vers ist in meiner Bibel sogar fett gedruckt, als ein Wort, das man sich zu Herzen nehmen möge. Was ist also falsch daran? Ich frage so, weil später im Text Gott persönlich die Reden der Freunde in Bausch und Bogen verwirft und Hiobs Worte stehen lässt, zuvörderst allerdings dessen endliche Unterwerfungserklärung unter Gottes Allmacht. Und nur Hiobs Gebet für die Freunde kann diese am Ende vor Gottes Zorn retten.

Ich denke, Elifas’ Fehler ist im gezogenen Vers codiert. Der Vers weiß mehr als derjenige, der ihn spricht. Elifas ist ja hier selbst in der Rolle des Helfenden, nicht Hiob. Da gilt es achtzugeben: Er spricht zu einem Trauernden, und es gibt Wahrheiten, die in manchen Situationen falsch sind. Es mag sein, dass es gänzlich unvermeidlich ist, in Gottes Augen schuldig zu werden und dass dies das Leben anfrisst wie Säure, und nur die unbedingte Hinwendung an Gott uns retten kann, und es mag auch sein, dass manches Leid heilende Wirkung hat, weil es Kräfte freisetzt für wesentlichen Dinge — allein: dies mitzuteilen ist kein Weg in das Herz des Trauernden. Damit diese Wahrheiten wirksam werden, muss dieser selbst darauf stoßen, muss erkennen, dass es FÜR IHN so ist. 

Hiobs Reaktion im nächsten Abschnitt ist sehr „sprechend“. Er wünscht sich einen schnellen Tod und schreit seine Freunde an, sie mögen ihn mit sinnlosen Belehrungen verschonen und wenigstens an dieser Stelle mehr Gnade zeigen als Gott.

Im Mund des nicht Betroffenen werden Wahrheiten dieser Art zu Besserwisserei oder gar Selbstgerechtigkeit. Man kann mit dem Leid anderer nicht umgehen wie mit dem Thema einer Seminararbeit. Es geht es nicht darum, „recht zu haben“ und die eigene Kompetenz zu beweisen. Das klingt banal, aber im Vollzug ist es richtig schwer! Elifas hat Wahrheiten gefunden und will sie weitergeben. Er beschreibt die Vision, die ihm diese Wahrheiten eröffnet hat. Nach alttestamentarischer Konvention ist seine Rede damit prophetisch. Ja, „Worte zurückhalten — wer kann’s?“

Wie wären wir in das Gespräch eingestiegen? Wären wir denn überhaupt den weiten Weg zu Hiob gekommen?

Ich wünsche uns eine Woche, in der wir die rechten Worte finden — zur rechten Zeit, am rechten Platz. 
Ulf von Kalckreuth

Bibelvers der Woche 42/2018

Denn ihr seid teuer erkauft; darum so preist Gott an eurem Leibe und in eurem Geiste, welche sind Gottes.
1 Kor 6,20

Hier ist ein Link für den Kontext, zur Übersetzung von 2017.

Von der Heiligkeit unseres Leibs

Gottes Schöpfung und Christi Tod machen uns wertvoll vor Gott, darum sollen wir uns, unseren Leib und unseren Geist, schützen und heilig halten, sie gar zu unserem Lobpreis machen. Im Vers scheint eine zentrale Stelle des Alten Testaments auf: Ihr sollt heilig sein, denn ich bin heilig, der Herr, euer Gott! (3. Mose 19, 2b).  Achtlosigkeit uns selbst gegenüber ist verfehlt, stattdessen haben wir allen Grund zu Achtsamkeit — Achtsamkeit, diese moderne und doch alte Vokabel. 

Darüber hinaus aber steht der Vers in einem Kontext. Paulus spricht in den Abschnitten rund um den Vers von diversen Aspekten des „Lebens eines Christenmenschen“, und speziell von der „Hurerei“. Mit dem griechischen „porneia“ sind alle Formen sexuellen Fehlverhaltens gemeint. Aber was genau wird abgelehnt? Zu Beginn des Abschnitts werden einige Aspekte aufgezählt: „Unzucht“, Ehebruch, Homosexualität. Insgesamt handelte es sich wohl um alle Formen freiwilliger Sexualität außerhalb der Ehe — soweit sie denn nicht selbst zur Ehe führen: Hatten zwei junge Menschen sexuellen Umgang miteinander und heirateten dann, so galt dies im Nachhinein nicht als „porneia“.

Der uns so geläufige konsensuale sexuelle Umgang miteinander vor und außerhalb der Ehe verbot sich seinerzeit von selbst: Für Frauen bedeutete es den Verzicht auf Ehe und damit auf elementare soziale Absicherung. Für Mann und Frau also Verantwortungslosigkeit pur. Das mag auch beitragen, die große Bedeutung von Homosexualität in der griechischen Kultur zu erklären. 

Und heute? Was gibt uns der Vers mit seinem Kontext? Man kann sich entschließen, die Sexualmoral der Paulusbriefe wörtlich als Forderung an die heutige Zeit zu verstehen. Dann bleibt Sexualität legitim nur in der Ehe zwischen Mann und Frau, die im Übrigen unauflöslich ist. Das ist die Sicht vieler Christen, katholischen wie evangelischen, dort verstärkt aus dem freikirchlichen Bereich. Ein kurzer Streifzug im Internet ist sehr aufschlussreich.

Aber ist es so einfach? Und sind wirklich alle Formen des ehelichen Zusammenlebens gut? Man kann auch die Worte von Paulus im ersten Schritt auf die kontemporären Sitten im griechisch geprägten Kulturraum und deren gesellschaftliche Voraussetzungen beziehen. Aber was ist dann der zweite Schritt, was soll — im Lichte dieser Worte — heute gelten? 

Der Vers gibt uns eine wunderbare Richtschnur in die Hand, die zugleich abstrakt und ungeheuer trennscharf ist und fordernd: wir sind teuer erkauft, darum sollen wir den Herrn preisen mit Geist und Körper… 

Weisheit liegt im Unterscheidungsvermögen, an diesem möge es uns nicht fehlen in dieser Woche!
Ulf von Kalckreuth

Bibelvers der Woche 41/2018

Wirst du sie bedrängen, so werden sie zu mir schreien, und ich werde ihr Schreien erhören; …
Ex 22,22 

Hier ist ein Link für den Kontext, zur Übersetzung von 2017.

Chefsache

Hier geht es um den Schutz der Hilflosen, konkret: der Witwen und Waisen. Die komplette Bestimmung im zweiten Buch Mose lautet: 

Ihr sollt keine Witwen und Waisen bedrängen. Wirst du sie bedrängen, so werden sie zu mir schreien, und ich werde ihr Schreien erhören; so wird mein Zorn ergrimmen, daß ich euch mit dem Schwert töte und eure Weiber Witwen und eure Kinder Waisen werden. (Ex 22, 21-23).

Der Vers steht in einer Reihe von Regeln für das Verhalten der Menschen untereinander, einer Konkretisierung der zehn Gebote. Nach heutigen Maßstäben ist es eine Mischung aus Strafrecht, Sozialrecht, Familienrecht, Sachenrecht, und anderes, für das es in unserem System keinen Namen mehr gibt, wie etwa „Eine Zauberin sollst du nicht am Leben lassen“.

Der Vers gibt uns zweierlei. Zunächst die Versicherung, dass Gott persönlich sich für die Solidaritätsgebote den Schwachen gegenüber einsetzt und sie sanktioniert. Der Schutz der Schwachen ist Chefsache. Das spielt später in den Schriften der Propheten eine überragende Rolle. Zweitens finden wir in einer sehr ursprünglichen Form den Reziprozitätsgedanken, die vielleicht bemerkenswerteste Leistung des jüdischen Volks. In seiner abstrakten Form lautet er: „Du sollst dich nicht rächen noch Zorn bewahren gegen die Kinder deines Volks. Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst; ich bin der HERR“ (Lev 19,18). In dieser Form hat Jesus die Forderung übernommen als Teil des höchsten Gebots: Wir sollen Gott lieben mit all unserer Kraft und unseren Nächsten wie uns selbst. 

Unser Vers oben ist eine etwas brachiale Variante: Wer die Lage der Witwen und Waisen zu seinem Vorteil ausnutzt, muss den Zorn des Herrn erwarten: er kommt zu Tode, und seine Kinder sind dann Witwen und Waisen, sind also gerade in der Lage derer, die vom Übeltäter schlecht behandelt wurden. Der Empfänger der Botschaft soll sich in die Situation der Witwen und Waisen versetzen und soll sie so behandeln, wie er selbst behandelt werden möchte. Siehe hierzu auch sehr klar Lev 19, 33-34:

Wenn ein Fremdling bei euch wohnt in eurem Lande, den sollt ihr nicht bedrücken. Er soll bei euch wohnen wie ein Einheimischer unter euch, und du sollst ihn lieben wie dich selbst; denn ihr seid auch Fremdlinge gewesen in Ägyptenland. Ich bin der HERR, euer Gott. (Lev 19, 33-34)

Der Angesprochene wird hier aufgefordert, die Ich-Perspektive aufzugeben und die Perspektive des Gegenübers anzunehmen, mit dem er Umgang hat. Dieser Perspektivwechsel soll sein Handeln leiten. Für die Ökonomen unter uns: wenn sich daran jeder hält, sind Externalitäten kein Problem mehr, die Welt ist pareto-optimal!

Auch im Vaterunser ist diese Figur enthalten, als Bitte. Gott möge unsere Schulden vergeben, weil (und insoweit…!) wir das untereinander tun. Die Strukturgleichheit zum gezogenen Vers erkennt man, wenn man analog ein Gebot Gottes formuliert: etwa: „… und vergebt Euch untereinander, denn ich werde Euch mit demselben Maß messen, mit dem ihr einander gemessen habt!“

Für die kommende Woche habe ich zwei Wünsche: dass es uns gelinge, an entscheidender Stelle den lebenserhaltenden Perspektivwechsel vorzunehmen, und dass andere dies mit uns tun mögen. 
Ulf von Kalckreuth

Bibelvers der Woche 17/2018

Sprich zur Weisheit: „Du bist meine Schwester“, und nenne die Klugheit deine Freundin,…
Sprüche 7,4

Hier ist ein Link für den Kontext des Verses, zur Lutherbibel 2017.

…dass du behütet werdest vor dem fremden Weibe

Ein schöner Vers, der für sich selbst spricht. Und wem es gelingt, ihn eine Woche lang zu beherzigen, der kann dies wohl eine gute Woche nennen. Aber der gezogene Vers endet in der Mitte des Satzes, hier ist der zweite Teil: 

…dass du behütet werdest vor dem fremden Weibe, vor einer andern, die glatte Worte gibt.

Das Buch der Sprüche (Salomons) ist ein Teil der Weisheitsliteratur in der Bibel, zu denen auch das Buch Hiob, der Prediger (Kohelet), das Hohelied und einige Psalmen gehören. Es geht darin um die Orientierung im Leben, um den Kompass für „richtiges Verhalten“, wobei es in der Weisheitsliteratur keine Trennung gibt zwischen zweckrationalem, an Zielen und Nebenbedingungen orientiertem Verhalten einerseits und ethisch begründetem Verhalten andererseits — beides gehört zur „Chochmah“, zur Weisheit. Sie ist nicht bloß Intelligenz oder Klugheit, sie ist ein Ausfluss des Wesens Gottes selbst. Als die Welt geschaffen wurde, spielte die Weisheit bereits zu Seinen Füßen (Sprüche 8,22ff). Das Wort „Klugheit“ in der Übersetzung ist etwas irreführend, dem hebräischen „Binah“ entsprechen eher die Begriffe Erkenntnis, Einsicht, die Fähigkeit, Gutes von Bösem zu unterscheiden.

Konkret geht es hier um die Treue zu den selbst eingegangenen Bindungen und um den Respekt vor den Bindungen anderer. Im gezogenen Abschnitt und in denen davor wird eindringlich vor Ehebruch gewarnt — er kann das eigene Leben zerstören und sogar physisch in Gefahr bringen. Und es wird klar festgestellt, dass der Einbruch in die Ehe eines anderen Menschen ein fundamentaler Verstoß ist, nicht nur das regelwidrige Ausleben der Sexualität: „Denn eine Hure bringt einen nur ums Brot, aber eines andern Ehefrau um das kostbare Leben“ (Sprüche 6,26).

Wie bereits gesagt: einen Unterscheid zwischen Ethik und Zweckrationalität macht die Weisheitsliteratur nicht. Vielleicht liegt darin eine ihrer wichtigsten Aussagen. Ich wünsche uns eine Woche, in der uns die Weisheit als Schwester begleiten möge, und die Klugheit als Freundin,
Ulf von Kalckreuth