…und sprachen zu ihnen: Ihr sollt die Gefangenen nicht hereinbringen; denn ihr gedenkt nur, Schuld vor dem HErrn über uns zu bringen, auf dass ihr unsrer Sünden und Schuld desto mehr macht; denn es ist schon der Schuld zu viel und der Zorn über Israel ergrimmt.
2 Chr 28,13
Hier ist ein Link für den Kontext des Verses, zur Lutherbibel 1984.
Stufen
König Asaf von Juda, dem Südreich, hat den Krieg verloren. Und wie! Im Kampf gegen das Nordreich Israel fielen 120.000 seiner Männer — an einem einzigen Tag! Und die Armee des feindlichen Brudervolks führt 200.000 Frauen, Jugendliche und Kinder aus Juda in die Gefangenschaft nach Samaria fort. So berichtet es der Text.
Das sind gewaltige Zahlen. Juda war ein kleines, eisenzeitliches Land in den Bergen. Zum Vergleich: In Stalingrad waren rund 200.000 deutsche Soldaten eingekesselt, von denen etwa 30.000 überlebten. Die anderen starben: in Kampfhandlungen, an Hunger, an Krankheiten oder recht bald nach ihrer Gefangennahme. Die Katastrophe zog sich hin über viele Monate. „Stalingrad“ ereignete sich nicht an einem einzigen Tag.
Man muß die biblischen Zahlen nicht wörtlich nehmen, gemeint ist wohl eine „Unzahl“. Eine Unzahl Gefangener also hatte der israelische König Pekach in Juda gemacht und nun machte er sich daran, sie nach Samaria zu führen, seiner Hauptstadt. So war es üblich. Die Gefangenen erwartete ein hartes Schicksal als Sklaven.
Aber es geschieht etwas Überraschendes. Oded, ein Prophet, geht dem Heer Pekachs entgegen und sagt den Führern, dass sie sich schuldig machen vor Gott. Bei den Judäern handelte es sich zwar um ein anderes Volk, aber doch um ein verwandtes, und um Glaubensbrüder dazu. Der Prophet appelliert an das Gewissen der Entscheidungsträger im Nordreich Israel — und diese fügen sich! Sie lassen die Gefangenen frei, geben ihnen Kleidung und Nahrung, und wo sie krank sind, werden sie behandelt und gepflegt, damit sie den Heimweg antreten können.
Ein rundherum erstaunliches, fast wunderbares Ereignis, gerade auch, wenn man an Stalingrad denkt.
„Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst.“ Es sind ursprünglich nicht Worte Jesu, der Satz findet sich schon in der Thora. Aber wer ist dein Nächster? Jesus antwortet auf diese Frage mit dem Gleichnis vom barmherzigen Samariter. Gemeint waren ursprünglich die Angehörigen der eigenen Sippe und des eigenen Stammes. Die Stelle lautet vollständig (Lev 19, 17-18) : Du sollst dich nicht rächen noch Zorn bewahren gegen die Kinder deines Volks. Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst; ich bin der HERR. Feinde waren jedenfalls nicht gemeint, auch nicht solche verwandter Völker. In Richter 19f wird erzählt, wie elf der Stämme Israels über den zwölften und kleinsten erbarmungslos herfallen, aus Rache über einen Sexualmord.
Aber hier, in unserem Vers, kippt das Liebesgebot der Thora sichtbar ins Allgemeinere. Auch Feinde sind einbezogen. Die Sieger üben hier nicht nur Verzicht auf ihre Beute, sie wenden gar erhebliche eigene Ressourcen auf, um den Besiegten das Weiterleben zu ermöglichen. Meine Großmutter hat uns immer wieder von den amerikanischen CARE-Paketen erzählt, die ihr und ihrer kleinen Familie nach dem Krieg das Weiterleben in der ausgebombten Stadt Essen ermöglicht haben.
Bis zum verallgemeinerten Gebot der Nächsten- und Feindesliebe ist die Bibel einen weiten Weg gegangen, und man kann ihr „buchstäblich“ dabei zusehen.
Herr, hilf uns dabei, unseren Nächsten zu lieben. Lass uns erkennen, dass manchmal gerade die Feinde uns am allernächsten sind — wenn sie hilflos sind, wenn nur wir noch helfen können. Gib diese Kraft uns allen, auch der Regierung des heutigen Israel.
Damit Gaza nicht endet wie Stalingrad…!
Ulf von Kalckreuth