Bibelvers der Woche 11/2020

Du weißt es ja; denn zu der Zeit wurdest du geboren, und deiner Tage sind viel.
Hiob 38,21

Hier ist ein Link zum Kontext in der Lutherbibel 2017.

Größenordnungen

Der Vers ist aus dem Buch Hiob, aus der ersten Rede des Herrn aus dem Sturm. Aus derselben Rede stammte vor knapp einem Jahr den BdW 15/2019. Allgemeines zum Buch Hiob gab es zum BdW 19/2018. In einer Art Laborexperiment muss Hiob leiden, obwohl er sein Leben gerecht führt. Gott und der Versucher wollen beobachten, ob seine Gottesfurcht bestehen bleibt, oder — so erwartet es der Versucher — einfach verdunstet, wenn die Zeiten hart werden. Sie verdunstet nicht, aber Hiob tut etwas Unerwartetes: Er klagt sein Recht ein. Er hat sich an die Spielregeln gehalten, möge Gott dasselbe tun. Es gibt einen Bund! Und er ruft Gott selbst als Anwalt und Richter an in seinem Rechtsstreit mit Gott.

Der antwortet, als Hiobs Freunde schweigen, und was er sagt, ist niederschmetternd. In einer gewaltigen Rede ruft er die Größe der Schöpfung auf. Rechten zu können setzt Wissen voraus, und der Mensch und sein Wissen sind inkommensurabel mit der Größe des Schöpfers und seiner Schöpfung. Rechten mit Gott ist daher unmöglich. Unser Vers sagt das mit fast boshafter Ironie: sein zeitlicher Bezug — „zu der Zeit“ — ist die Schöpfung selbst. Damit wirft er ein scharfes Licht auf die Größenordnungen. Ganz ohne Ironie tut dies auch Psalm 90:

Der du die Menschen lässest sterben und sprichst: Kommt wieder, Menschenkinder!
Denn tausend Jahre sind vor dir wie der Tag, der gestern vergangen ist, und wie eine Nachtwache.
Du lässest sie dahinfahren wie einen Strom,
sie sind wie ein Schlaf, wie ein Gras, das am Morgen noch sprosst,
das am Morgen blüht und sprosst und des Abends welkt und verdorrt. (Ps 90,3-6)

Und etwas weiter unten: 

Lehre uns bedenken, dass wir sterben müssen, auf dass wir klug werden (Ps 90,12)

Erstaunlich ist nun aber, dass Gott dem Hiob am Ende unvermittelt recht gibt, als dieser gänzlich aufgegeben hat und gar nichts mehr sagt. Zu den Freunden Hiobs spricht er: 

Mein Zorn ist entbrannt über dich und über deine beiden Freunde; denn ihr habt nicht recht von mir geredet wie mein Knecht Hiob. So nehmt euch nun sieben junge Stiere und sieben Widder und geht hin zu meinem Knecht Hiob und opfert Brandopfer für euch; aber mein Knecht Hiob soll für euch bitten; denn ihn will ich erhören, dass ich euch nichts Schlimmes antue. Denn ihr habt nicht recht von mir geredet wie mein Knecht Hiob. (Hiob 42,7f)

Worin hat Hiob recht vom Herrn geredet? Der Text lässt es offen, der Leser muss es erraten. Der juristische Ansatz ist es nicht, unser Vers macht klar: bei Gott kann man nichts einklagen. Ich meine, es war das immer fortbestehende Vertrauen, das Hiob sagen lässt: 

Aber ich weiß, dass mein Erlöser lebt, und als der Letzte wird er über dem Staub sich erheben. Nachdem meine Haut noch so zerschlagen ist, werde ich doch ohne mein Fleisch Gott sehen. Ich selbst werde ihn sehen, meine Augen werden ihn schauen und kein Fremder. (Hiob 19, 25-27)

Das Buch sagt uns, dass wir uns auf den Herrn verlassen können, auch wenn wir nicht verstehen und nicht nachvollziehen können, was uns geschieht. Und noch etwas gibt es: Der Herr wendet das Geschick Hiobs erst, als dieser — in all seinem Elend und nun gänzlich gebrochen — tatsächlich für seine Freunde bittet, die ihn bis aufs Blut gereizt haben.  

Ich wünsche uns eine gute Woche, in der wir die Größenordnungen im Blick behalten und füreinander einstehen, klein und sterblich wie wir sind. Etwas anderes macht eigentlich keinen Sinn. 
Ulf von Kalckreuth

Bibelvers der Woche 24/2018

Doch daß zwischen euch und ihr Raum sei bei zweitausend Ellen. Ihr sollt nicht zu ihr nahen, auf daß ihr wisset, auf welchem Weg ihr gehen sollt; denn ihr seid den Weg bisher nicht gegangen.
Jos 3,4

Hier ist ein Link für den Kontext des Verses, zur Lutherbibel 2017.

Mindestabstand

Seit dem Vers der letzten Woche ist eigentlich nur eine logische Sekunde vergangen. Zwischen dem Ende des 4. Buchs Mose und dem Anfang des Josua-Buchs liegt zwar das ganze Deuteronomium, aber dieses enthält kaum neue Handlung. Das Volk Israel liegt immer noch am Jordan, gegenüber Jericho. Mose ist gestorben und Josua hat die Führung übernommen. Er hat nun den Befehl gegeben, den Jordan zu überqueren. Die Würfel fallen…

Jericho liegt 7 km westlich vom Jordan und 5 km nördlich vom Toten Meer in einer unwirtlichen Gegend. Zwei Späher hatten die Topographie um Jericho und die Lage in der Stadt erkunden, aber sonst kannte sich niemand aus. Wie nun den Marsch koordinieren? Josuas Lösung: Der HErr sollte führen, die Bundeslade vorangehen, getragen von levitischen Priestern. Die Lade ist für den Marsch ein „moving target“, die Israeliten sollen ihren Marsch an ihr ausrichten. Und nun dieser merkwürdig klingende Befehl: „Ihr sollt nicht zu ihr nahen, auf dass ihr wisset, auf welchem Weg ihr gehen sollt, denn ihr seid diesen Weg bisher nicht gegangen“. Mindestabstand 2000 Ellen, etwa ein Kilometer!

Die in Numeri beschriebene zweite Volkszählung hatte ergeben, dass die Streitmacht der Israeliten zu Beginn der Landnahme mehr als 600.000 Mann umfasste — das ist etwa die dreifache Größe der Bundeswehr von heute. Sie alle sollten sich an der Bundeslade ausrichten. Man kann sich ausmalen, was ohne dies Abstandsgebot geschehen würde. Große Gruppen, Trauben von Menschen, würden die Lade einhüllen. Diejenigen, die weiter hinten wären, könnten sie nicht mehr sehen, und die weiter vorne stünden, hätten keine Orientierung mehr im Raum. Die Krieger würden richtungslos im wüstenhaften Gelände mäandern, sich im Kreise um sich selbst und um die Lade drehend und könnten nur durch blanken Zufall in die Nähe von Jericho gelangen. Schlimmer noch: wenn jeder möglichst nahe dran sein wollte, könnte es zu einer unkontrollierbarer kollektiven Dynamik kommen. Das klingt absurd, aber die „Love Parade“ in Düsseldorf steht uns vor Augen.

Auf der Handlungsebene ist die Anordnung von Josua also ohne Alternative. Und im übertragenen Sinne? Wieviel Abstand brauchen wir zu dem, das uns die Richtung weisen soll? Wieviel Abstand von unseren Zielen? 

Als Vater fällt mir ein, dass man mit Abstandslosigkeit Kindern auf die Dauer nichts Gutes tut. Kenntlich, als Orientierungspunkt und Autorität, ist man nur in gewisser Distanz. Aber auch den eigenen Zielen, Prioritäten, Wünschen und Bedürfnissen gegenüber muss man als Erwachsener inneren Abstand wahren, um den Überblick zu behalten und ein Gefühl dafür, in welche Realität, welche Topographie sie eigentlich eingebettet sind. Und eine dritte Ebene gibt es: Wir denken uns Gott heute gern harmlos, weil er „gut“ ist. Die Bibel ist jedoch voller Verweise darauf, dass Gott in seiner Größe für uns ohne Abstand schlicht unerträglich ist, ja tödlich sein kann. Auch das schwingt im gezogenen Verse mit.

Also: 2000 Ellen lebensrettender Mindestabstand. 

Ich wünsche uns eine gute Woche!
Ulf von Kalckreuth

Bibelvers der Woche 20/2018

… denn du sollst keinen andern Gott anbeten. Denn der HErr heißt ein Eiferer; ein eifriger Gott ist er. 
Ex 34,14

Hier ist ein Link für den Kontext des Verses, zur Lutherbibel 2017.

Der Vers steht im Buch Exodus und sein erster Teil gehört zum ersten Gebot: „Ich bin der Herr, dein Gott, der ich dich aus Ägyptenland, aus der Knechtschaft, geführt habe. Du sollst keine anderen Götter haben neben mir.“ (Ex 20, 2f).

Das Gebot wird hier wiederholt, und der Grund dafür ist kein günstiger. Während Moses auf dem Berg Sinai die zehn Gebote und viele weitere Weisungen empfängt, bedrängen die Israeliten seinen Bruder Aaron. Sie sind verunsichert wegen der langen Abwesenheit Moses, ihres einzigen Mittlers zum Herrn und wollen etwas Handgreifliches für die Kommunikation mit ihrem Gott. Aaron lässt sie ein goldenes Kalb gießen. Auf dem Berggipfel berichtet Gott dem Mose von den Geschehnissen. Er will das Volk verstoßen und stattdessen Moses zu einem großen Volk machen. Moses nutzt – wie vor ihm schon einmal Abraham – seine besonderen Beziehungen zum Herrn und erinnert ihn an seine Versprechungen. 

Als Moses mit Josua vom Berg Sinai herunterkommt, tanzen sie gerade um das Kalb. Moses zerschlägt die Tafeln. In einem Zornesausbruch lässt er die Leviten 3000 Volksangehörige töten. Es kommt dann zu einem Moment der großen Intimität zwischen ihm und Gott – dieser lässt Moses seine Herrlichkeit schauen. Mose kehrt zurück zum Berggipfel, um den Herrn dazu zu bewegen, wie versprochen den Zug der Israeliten ins Heilige Land anzuführen. 

Wieder hat er zwei steinerne Tafeln dabei. Gott erneuert die Bundeszusage und gibt auch die Gebote aufs Neue. Aber er macht dabei eine Reihe von Feststellungen und Forderungen, die Grundlage sind für diese Erneuerung des Bundes. In dieser Reihung findet sich der Vers. Der erste Teil ist eine Wiederholung. Der zweite Teil ist eine Bekräftigung der besonderen Art. Es gibt einen alten hebräischen Namen für Gott – „El  Qana‘ “ אֵל קַנָּא  –  dessen wörtliche Bedeutung „eifernder Gott“ ist. Auf diesen seinen Namen beruft sich Gott hier. Eifer ist Teil der in seinem Namen festgelegten Identität Gottes.

Man könnte den Vers so schreiben: „Nach allem, was passiert ist, wiederhole ich: Du sollst keine anderen Götter haben neben mir. Ihr seid mein Volk und ich bin euer Gott. Wenn ihr etwas anderes wollt – den Preis dafür werdet ihr nicht zahlen wollen. Ich stehe für mein Wort. Anders kann es nicht sein  – ich bin, der ich bin.“

Gott lässt sein Volk nicht fallen. Er erneuert den Bund, aber er verbindet es mit einer Drohung. 

Für Menschen der zweiten Jahrtausendwende hat diese Drohung etwas eigentümlich Tröstliches. Wir haben ja gar keine Furcht vor dem strafenden Gott. Unser Gott hat ein mildes, alles verzeihendes Gesicht. Unsere Angst gilt seit dem neunzehnten Jahrhundert dem gleichgültigen, dem abwesenden, dem nicht existenten Gott. Denn die alles verzeihende Milde sieht der Belanglosigkeit erschreckend ähnlich. Dass nun Gott zu seinem Wort steht und für sein Wort eifert, kann eine gute Nachricht sein.

Nur ein Gott, der sein Wort ernst nimmt, ist ernst zu nehmen. Das ist evident – es gilt sogar für Menschen. Aber wir sind mit diesem Vers auf dünnem Eis. Die beiläufig erzählte Ermordung von dreitausend Volksgenossen erinnert daran, worum es hier auch gehen kann.

Ich wünsche Euch eine gute Woche,
Ulf

Bibelvers der Woche 19/2018

Da hörten die drei Männer auf, Hiob zu antworten, weil er sich für gerecht hielt.
Hiob 32,1 

Hier ist ein Link zum Kontext in der Lutherbibel 2017.

Die Bäume und der Wald

Das Buch Hiob handelt vom menschlichen Leid und der Gerechtigkeit vor Gott. In einem Prolog wird eine Laborsituation hergestellt: Hiob ist ein gottesfürchtiger und gerechter Mann, auf dem das Wohlwollen des Herrn ruht. Der Teufel, hier als Angehöriger Gottes Entourage, äußert die Überzeugung, mit Hiobs Gottesfürchtigkeit wäre es nicht weit her, wenn der Herr ihn nicht in allem beschützen und bewahren würde. Der Herr lässt sich auf eine Wette ein: der Teufel darf alles an und um Hiob vernichten, nur sein Leben muss er ihm lassen. So geschieht es — Gott lässt ihn damit in eine unerträgliche und entwürdigende Situation fallen, in Krankheit und Schmach. Er behält nur das nackte Leben. 

Drei Freunde suchen ihn auf, ihn seelisch zu stützen. Zum ihrem großen Verdruss beharrt Hiob darauf, gerecht zu sein. Im Verhältnis zu Gott fordert er seinerseits Gerechtigkeit ein, andererseits und gleichzeitig äußert er aber auch die feste Überzeugung, dass Gott ihm diese Hilfe am Ende geben wird („Ich weiß, dass mein Erlöser lebt…“). Hiob behält seinen Glauben, auch noch in der tiefsten Verwundung. 

Hier ist ein theologisches Problem. Im damaligen Judentum war die Sache klar: wer die Bundeszusage hatte und sich an die Gebote hielt, konnte der Unterstützung des Herrn sicher sein. Wem es schlecht ging, der hatte dies entweder durch Übertretungen selbst verschuldet, oder aber war das Opfer von Übertretungen seiner unmittelbaren Vorfahren (siehe hierzu BdW, KW 7). Insofern können die Freunde nicht anders, sie müssen Hiobs Anspruch zurückweisen. Er solle sich erforschen, er werde Übertretungen finden.

Schließlich, nach langen Diskussionen, ist Hiobs Antwort harsch. In einem kurzen Abschnitt stellt er fest, dass er sein ganzes Leben lang in Gottes Gebot gelebt hat. Er nennt die Gebote und die wichtigsten Regeln einzeln und kann auch darlegen, dass er Gottes Gebote nicht nur dem Buchstaben, sondern auch dem Geiste nach befolgt hat: immer war er für den Nächsten, den Schwachen da. Er ist sogar zur Feindesliebe gelangt, damals beileibe noch keine explizite Forderung.

Und dann kommt ein Satz, der den Freunden Blasphemie sein muss: 

35 O hätte ich einen, der mich anhört – hier meine Unterschrift! Der Allmächtige antworte mir! –, oder die Schrift, die mein Verkläger geschrieben! 36 Wahrlich, dann wollte ich sie auf meine Schulter nehmen und wie eine Krone tragen. 37 Ich wollte alle meine Schritte ihm ansagen und wie ein Fürst ihm nahen.

Hiobs Vertrauen in die eigene Gerechtigkeit ist dergestalt, dass er Gott und seiner Anklage wie ein Fürst gegenübertreten zu können glaubt!

An diese Stelle gehört der gezogene Vers: die drei Männer schweigen, weil Hiob sich für gerecht hält! Auf dieses Schweigen nun folgen die Rede eines vierten Freundes (der bis dahin nicht erwähnt wurde), und dann die Antwort Gottes selbst aus dem Sturm. Durch die Laborsituation weiß der Leser, dass Hiob tatsächlich gerecht ist: in der Rahmenerzählung stellt Gott selbst das unzweideutig fest. Auch seinen Glauben und die Gottesfurcht behält er. Hiobs Beharren auf die eigene Gerechtigkeit aber lässt alle anderen verstummen und es zieht die sehr nachdrückliche Zurechtweisung Gottes nach sich. 

Das Bestehen auf der eigenen Gerechtigkeit wird im Buch Hiob verurteilt. Es isoliert uns von den anderen Menschen — das zeigt der Vers –, es entfremdet uns aber auch von Gott. Seine Gerechtigkeit, das sagt seine Rede aus dem Sturm, ist nicht mit menschlichen Maßstäben zu messen. Wir können uns mit einem Wesen, das so hoch über uns steht, nicht mit Kategorien auseinandersetzen, die für das Verhalten von Menschen gemacht sind. Vor lauter Totholz sehen wir dann den Wald nicht mehr: Gottes Macht und Größe. 

Es ist gut, den Versuch zu machen, Gottes Geboten zu folgen. Soweit der Versuch (mit Gottes Hilfe) gelingt, ist dies noch besser. Und man soll keinen Gedanken an die Position verschwenden, die man sich dadurch möglicherweise erwirbt — der Gedanke selbst führt in die Irre. 

Was aber die anderen Menschen betrifft:  Mit dem Beharren auf die eigene Gerechtigkeit verwandelt man jede fruchtbare Auseinandersetzung in ein Schweigen.

Ich wünsche uns eine gute Woche,
Ulf von Kalckreuth