Bibelvers der Woche 44/2024

Wohl dem, den du, HErr, züchtigst und lehrst ihn durch dein Gesetz,
Ps 94,12

Hier ist ein Link für den Kontext des Verses, zur Lutherbibel 1984.

Wohl dem, den du züchtigst…?

Ich habe es ungewöhnlich lange vor mir hergeschoben, mich um diesen Vers zu kümmern. Jetzt ist Freitagabend, es muß sein. Der Psalm beginnt so: 

HERR, du Gott der Vergeltung,
du Gott der Vergeltung, erscheine!
Erhebe dich, du Richter der Welt;
vergilt den Hoffärtigen, was sie verdienen!

Damit ist der Ton gesetzt. Und hier ist der unmittelbare Kontext unseres Verses: 

Wohl dem, den du, HERR, in Zucht nimmst
und lehrst ihn durch dein Gesetz,
ihm Ruhe zu schaffen vor bösen Tagen,
bis dem Gottlosen die Grube gegraben ist.

Hier geht es jemandem sehr schlecht. Er ist an seine Grenzen gelangt, die Fundamente wanken, und im Gespräch mit Gott sucht er, was ihm hilft. Im Satz oben gibt es zwei Gedanken. Zum einen dieser: Schwierige Zeiten schaffen Zucht. Sie lenken den Blick aufs Wesentliche und erziehen zur Ruhe. ‚Zucht‘ ist mit „züchtigen“ konnotiert, aber auch mit dem ruhigen Ertragen von Beschränkungen. 

Ausserdem gibt es einen Blick auf das verhasste Gegenbild: den Gottlosen, der sich um Beschränkungen nicht kümmert, dem alles gelingt und dessen Erfolg ihn sehr leicht zum Vorbild machen könnte für den Gottesfürchtigen. Wir alle wollen ein schönes Leben haben, und nichts ist erfolgreicher als der Erfolg. Wie an vielen anderen Stellen im Psalter wird dieser Erfolg als Trugbild denunziert. Den Gottlosen erwartet ein furchtbares Ende.

Brauche ich die Vorstellung, dass es den Superreichen schlecht ergehen wird, die alles haben: Frauen, Geld, Macht, Frauen, Bestätigung, Gesundheit, Frauen, die Angst in den Augen der anderen, das Wissen, Wichtiges bewegen zu können? Jenen Menschen, die sich als so offensichtlich wertvoll erweisen in dem was sie sind und können und tun? Merkwürdig, ich hatte diesen Satz zunächst als verneinte Aussage begonnen — „Ich brauche nicht…“ und mußte dann ein Fragezeichen anhängen. Vielleicht brauche ich diese Vorstellung nicht, aber tatsächlich habe ich sie. Und vielleicht ist sie falsch.

Die Vorstellung von Not, die Zucht schafft und einen Blick für das Wesentliche, ist mir persönlich viel näher. Das habe ich von meinem Vater gelernt, und ich versuche, es meinen Kindern weiterzugeben. Du bist reich, wenn du nichts brauchst. Auch das ist bemerkenswert: Not kann ja Zusammenbruch bedeuten, Leib und Seele zerrütten, menschliche Beziehungen zerstören und das Grundvertrauen, mit dem unser Gottvertrauen so viel zu tun hat.

Es hat viel mit Gott und mit uns selbst zu tun, was wir aus unserer Not machen können. Wem bin ich selbst ähnlicher? Dem Gottesfürchtigen in Not oder dem Gottlosen, der alles hat? Passe ich noch durchs Nadelöhr?

Schwierig, nicht wahr? Aber jetzt habe ich es zu Papier gebracht. Wenn ich nun den Vers nochmals lese, fällt mir ein anderer Psalmvers ein, den ich sehr liebe: Und ob ich schon wanderte im finsteren Tal, fürchte ich kein Unglück. Denn du bist bei mir, dein Stecken und Stab trösten mich. Vielleicht haben beide denselben Verfasser.

Der Herr sei mit uns in der Woche, die vor uns liegt.
Ulf von Kalckreuth 

Bibelvers der Woche 27/2024

Bewahre mich, HErr, vor der Hand der Gottlosen; behüte mich vor den freveln Leuten, die meinen Gang gedenken umzustoßen.
Ps 140,5

Hier ist ein Link für den Kontext des Verses, zur Lutherbibel 1984.

Die freveln Leute…

Psalm 140, das ist ein ganzer Psalm zu den „Feinden“, diesen üblen Menschen, die ständig auf Verderben sinnen, jede Gelegenheit sofort ergreifen, den Betenden zu zerstören. Wir finden sie überall im Psalter, als Gegenbild zu Vertrauen und Hoffnung in der Beziehung mit Gott. Vor einiger Zeit habe ich zu diesen „Feinden“ einen ausführlichen Kommentar geschrieben, siehe den BdW 12/2023. Deshalb kann ich mich hier auf einen Aspekt beschränken.

Psalm 140 ist in seiner Sprache vergleichsweise gemäßigt, die gewaltsüchtigen Bilder fehlen hier weitgehend, bei den Handlungen der Feinde und auch beim Schicksal, das sie erleiden sollen. Der Haß dieses Psalms ist aufgeklärt, wenn man so will. 

Ich bin im zweiten Teil des gezogenen Verses hängen geblieben, 

... den freveln Leuten, die meinen Gang gedenken umzustoßen.

Ich habe in der hebräischen Bibel nachgeschaut. Statt des altertümlichen „freveln“ könnte man „gewalttätig“ übersetzen, und wo in der Lutherbibel 1912 „meinen Gang umstoßen“ steht, wäre „meine Schritte zu Fall bringen“ wörtlicher. 

Aber die alte Übersetzung hat ein sehr schönes Bild. Der Betende weiß, wo es hingeht. Er weiss es nicht nur, er ist auch schon unterwegs. Und diesen Gang vorwärts stoßen die Feinde um. Wie oft ist es so, genau so! Und ganz ehrlich, schuld sind dann in der Regel keine Menschen aus Fleisch und Blut, sondern die Feinde im Innern. 

Denken Sie an Ihre eigenen inneren Feinde. Ja, der Herr möge feurige Kohlen über sie schütten und sie in eine Grube stürzen, dass sie nicht mehr aufstehen…! 

Und noch ein Ausrufezeichen..!

Gottes Segen sei mit uns in dieser Woche,
Ulf von Kalckreuth 

Bibelvers der Woche 11/2024

Das Wort gefiel Abraham sehr übel um seines Sohnes willen.
Gen 21,11

Hier ist ein Link für den Kontext des Verses, zur Lutherbibel 1984.

Explosion in Zeitlupe

Hier bahnt sich eine Scheidung an, die beinahe einen tödlichen Verlauf nimmt: Sarah verlangt von Abraham, dass er Hagar und Ismael, seinen Sohn, verstößt und in die Wüste schickt. Die Geschichte wurde beim BdW 20/2020 ausführlich angesprochen. Hier will ich Ihnen von einem Gespräch erzählen, das einen überraschenden Verlauf nimmt.  

Ich wollte für den Blog ein Bild von dieser Szene mit Dall-E erstellen. Man muß dazu ChatGPT erklären, was man haben möchte. Ich habe folgendes probiert: 

ChatGPT, ich benötige wieder eine Illustration für einen Bibelvers. Ich werde dir zuerst die Geschichte erzählen. Abraham hatte zwei Söhne, Ismael und Isaak. Lange Zeit konnte Sarah, seine Frau, selbst keine Kinder bekommen. Sie bat daher Abraham, Kinder mit ihrer Sklavin Hagar zu zeugen, an ihrer Stelle. Abraham folgte ihrem Vorschlag und zeugte seinen ersten Sohn, Ismael, mit Hagar, Sarahs Sklavin. Viele Jahre später bekommt Sarah selbst ein Kind — Isaak. Sie wird eifersüchtig und wütend auf Hagar und fordert von Abraham, Hagar mit ihrem Sohn Ismael zu vertreiben, sie auszustoßen. Der Bibelvers, den ich illustrieren möchte, lautet wie folgt: „Das betrübte Abraham sehr, denn Ismael war sein Sohn.“, Genesis 21,11. Verstehst du die Situation?

ChatGPT verstand gut, gab eine korrekte Zusammenfassung und machte einen Vorschlag für eine visuelle Umsetzung. Ich hatte aber etwas Bestimmtes im Kopf:

Ich dachte eher an Folgendes: Sarah spricht sehr eindringlich zu Abraham, packt seine Kleidung und zeigt auf Hagar und Ismael, die im Hintergrund zu sehen sind. Abraham versucht, sie abzuwehren, und zeigt dabei Abscheu. Bitte lass uns das zuerst versuchen.

ChatGPT machte zwei Entwürfe, die zeichnerisch gelungen, inhaltlich aber falsch waren. Nach weiteren Konkretisierungen weigerte sich die KI und verwies auf Richtlinien:  

Ich kann die spezifische Illustration, die du angefragt hast, aufgrund unserer Richtlinien für Inhalte nicht erstellen. Die Darstellung von emotionalem Leid und Konflikten, insbesondere im Zusammenhang mit familiären Dynamiken, wie beschrieben, ist nicht in Einklang mit diesen Richtlinien zu bringen.

Eine zeitaufwendige Reihe weiterer Versuche schloß sich an, unter anderem mit kubistischen Formen. Unten sehen Sie eines der Bilder. Ästhetisch beachtlich, aber der Konflikt ist nur angedeutet, und von der Explosion in Zeitlupe, die sich hier vollzieht, ist nichts zu sehen. Ich beendete die Sitzung: „Wenn du keine Konflikte darstellen kannst, dann kannst du die Welt nicht darstellen.“ Die KI pflichtete bei: das sei in der Tat ein grundsätzliches Problem. Sie verwies aber ein weiteres Mal auf die Richtlinien. 

Trotz aller dummen politischen Korrektheit — in der Weigerung der KI ist Wahrheit. Die Richtlinien sollen verhindern, dass Bilder entstehen, die als anstößig empfunden werden können. Und ist das nicht anstößig? Eine Patchwork-Familie löst sich auf, zerfleischt sich geradezu. Hagar hat ein Kind von Abraham empfangen, an der Stelle ihrer Herrin, als Leihmutter eigentlich, und sie wird von dieser mit ihrem Kind vertrieben, in die Wüste geschickt, in den Tod. Und Abraham, dem es leid tut — um den Sohn! — willigt ein, als Gott ihm sagt, er solle seiner Frau gehorchen, auch aus Ismael werde ein großes Volk.  

Vielleicht können Sie ein Bild davon in Ihrem Kopf entstehen lassen, so anstößig wie Sie es wollen und ertragen. Am Ende rettet der Herr selbst Hagar und ihren Sohn Ismael,. Eine andere Rettung gibt es nicht mehr. 

Hagar. Stammutter der Araber. Sarah. Stammutter der Juden. Da fällt mir Gaza ein. Was für ein Gleichnis!

Der Herr rette die Menschen dort,
Ulf von Kalckreuth

Abraham, Sarah und Hagar
Abraham, Sarah und Hagar. Ulf von Kalckreuth mit Dall-E und ChatGPT, 4. März 2024

Bibelvers der Woche 09/2024

Und Saul rief und alles Volk, das mit ihm war, und sie kamen zum Streit; und siehe, da ging eines jeglichen Schwert wider den andern und war ein sehr großes Getümmel.
1 Sam 14,20

Hier ist ein Link für den Kontext des Verses, zur Lutherbibel 1984.

Pflugscharen zu Schwertern

Wenn man Josua liest, bekommt man den Eindruck, die Landnahme sei ein einziger Siegeszug gewesen und am Ende habe Israel das Gelobte Land vollständig eingenommen — bis auf kleine und unbedeutende Taschen, in denen Kanaaniter und Philister sich halten konnten.

Im Buch Samuel sehen wir, dass es eher umgekehrt war. Im judäischen Land, gab es Eigenständigkeit für die Israeliten nur in kleinen Taschen. Im Großen herrschten die Philister. Sie hatten mächtige Städte an der Mittelmeerküste gegründet, trieben Handel mit der bekannten Welt und — das ist sehr wichtig — beherrschten die Gewinnung und Verarbeitung von Eisen. Dieses Metall und die Waffen, die man daraus erstellen konnte, waren die Atombombe des ausgehenden zweiten Jahrtausends. Die Zeit heißt Eisenzeit aus dem selben Grund, warum wir die Zeit nach 1945 als Atomzeitalter bezeichnen. 

Der Text um unseren Vers herum weicht Brüche auf und er ist nicht leicht zu lesen. Wir sehen die folgende Grundsituation. 

  1. Auf Seiten der Israeliten besteht eine große demographische Überlegenheit — sie können potentiell 600000 kriegstaugliche Männer ins Feld schicken.  
  2. Sauls Armee ist völlig unbedeutend und besteht aus 600 Mann. Saul ist zwar König, aber sein Königtum ist noch eher ein Versprechen. 
  3. Lokal dominieren überall die Bereitschaftskräfte der Philister. Im Text sind sie als „Wachen“ bezeichnet, Sie sind stationiert in festungsartigen, strategisch wichtigen Positionen. Ihre Anwesenheit und Bewaffnung verhinderte, dass sich militärisch relevante gegnerische Konzentrationen überhaupt formieren konnten. 

Hier schwebt ein großes und nicht realisiertes Potential. Wie kann — unter den Bedingungen von 2) und 3) — die mit 1) gegebene Überlegenheit zur Geltung kommen? In der Kolonialzeit standen viele Völker vor demselben Problem 

Zu Beginn der Handlung herrscht eine Art Frieden zwischen Philistern und Israeliten, auf der Basis gefestigter Hegemonie. Um ihre Überlegenheit abzusichern, hatten die Philister den Israeliten verboten, selbst Eisen herzustellen oder zu bearbeiten. Selbst Pflugscharen mussten bei den Philistern gekauft werden. Waffen aus Eisen waren verboten. Im ganzen kleinen Heer Sauls verfügte nur sein Sohn, Jonathan, über solche Waffen.

Das vierzehnte Kapitel im ersten Samuelbuch beschreibt etwas, das man heute als Kaskade bezeichnet. Mit einem eigentlich unmöglichen Ereignis hebt Jonathan die durch 3) gegebene Überlegenheit lokal auf. Nur von einem Schwertträger begleitet klettert Jonathan eine Felswand hoch, mit Händen und Füßen, unter Hohn und Spott der Bereitschaftskräfte der Philister. Sie erwarten ihn oben, um ihn dort niederzumachen,. Sie wollen einen Schaukampf zum Vergnügen. Aber es kommt anders. Jonathan und sein Schwertträger greifen die Garnison an und machen viele der Soldaten nieder. Die kleine Streitmacht von Saul wird dieses Vorgangs gewahr — sehr spät, aber noch rechtzeitig genug, um in das Getümmel einzugreifen und den Kampf in einen Sieg für die Israeliten zu verwandeln.

Diesen Augenblick greift unser der Vers der Woche ab. Fast aus dem Nichts heraus nimmt von hier aus die Geschichte einen neuen Lauf. Denn nun sind auf einmal viele Israeliten da, die sich Saul und seiner kleinen Kerntruppe anschließen, darunter auch solche, die es vorher mit den Philistern gehalten haben. Saul nutzt die Gelegenheit, fordert von seinen Männern das Letzte und bringt schnell ein großes Gebiet unter seine Kontrolle. Auf dieser Basis kann er nun für sein Volk einen richtigen Krieg gegen die Philister führen.

Eine Kaskade, fast wie der Urknall. Nach Auffassung von Kosmologen könnte der Ausgangspunkt dieses Urknalls eine Quantenfluktuation im Nichts gewesen sein. In einem Nichts freilich, das nicht wirklich „nichts“ war, sondern ein unermesslich großes Potential. 

Wie passt das in unsere Welt? Die ukrainischen Männer fallen mir ein, die sich vor zwei Jahren ohne jede erkennbare Erfolgsaussichten Putins hochgerüsteten Invasionstruppen entgegenstellten. Und es weiterhin tun. Und Nawalnyj! Vielleicht war dies Nawalnyjs Traum, der Grund, warum er sich freiwillig in die Gewalt seiner mörderischen Häscher begab. Kristallisationskern wollte er sein, wie Jonathan. Wir werden sehen, ob es gelingt. 

Ich schreibe dies im Zug von Frankfurt nach Hamburg. Und da fällt mir plötzlich etwas drittes ein: die Konferenz, zu der ich fahre, und die ich mit anderen gemeinsam organisiert habe. Eine Konferenz, die Menschen aus ganz verschiedenen Umfeldern dazu bringen soll, eine gemeinsame Sprache zu sprechen und ein wichtiges gemeinsames Ziel zu erreichen. 

Ob wir nun religiös sind oder nicht, eins wissen wir ja alle: Schöpfung aus dem Nichts ist möglich!

Der Herr segne und behüte uns
Ulf von Kalckreuth

Bibelvers der Woche 08/2024

Und Simeon segnete sie und sprach zu Maria, seiner Mutter: Siehe, dieser wird gesetzt zu einem Fall und Auferstehen vieler in Israel und zu einem Zeichen, dem widersprochen wird…
Luk 2,34

Hier ist ein Link für den Kontext des Verses, zur Lutherbibel 1984.

Ecce homo

Ich mußte meine Betrachtung zu diesem Vers heute neu schreiben. Während des Tags erreichte mich gestern die Nachricht, dass Alexej Nawalnyj in einem russischen Straflager gestorben ist. Alexej Nawalnyj, der fest an ein besseres Russland glaubte und die Menschen seines Landes aufrief, gegen Putins Terror aufzustehen und an diesem Russland zu arbeiten, ist tot.  

So weit sollte es eigentlich schon vor dreieinhalb Jahren sein. Im August 2020 brach er auf einem Flug von Sibirien nach Moskau zusammen. Nach einer Notlandung und einer ersten Behandlung in Omsk gelangte er in die Berliner Charité. Dort wurde eine Vergiftung mit einem Nervenkampfstoff der Nowitschok-Gruppe diagnostiziert. Statt im einigermaßen sicheren Westen zu bleiben — wirklich sicher war er nicht, der FSB mordet auch im Ausland — kehrte er nach Russland zurück, nach Moskau. Am Flughafen schon wurde er verhaftet. Seither, bis zu seinem Tod gestern, lebte er in Gefängnissen und Straflagern, oft in Isolation und Folter. Aber vergessen ist er nicht, und auch nach seinem Tod noch weckt er Mut.

Dabei war er sicherlich kein Mann nach dem Bild des bundesdeutschen Zeitgeists. Sich selbst bezeichnete er als „nationalistischen Demokraten“, und das trifft es, in beiden Teilen des Ausdrucks. 

Was hat dies mit dem Bibelvers der Woche zu tun?

Jesu Eltern brachten ihr Kind kurz nach der Geburt in den Tempel. Nach jüdischer Vorstellung waren erstgeborene Knaben in besonderer Weise Eigentum des Herrn. Das Leben dieser Kinder gehörte Gott und wurde mit einem Opfer im Tempel ausgelöst. Simeon, ein frommer Mann, wird an der Schwelle des Todes Seher: er erkennt Jesus, dankt Gott, dass er ihn diese Stunde erleben läßt, und gibt eine eigentümliche, visionäre Zusammenfassung von Jesu Leben. Dabei spricht er Maria an. Hier ist der Vers im Zusammenhang: 

Und Simeon segnete sie und sprach zu Maria, seiner Mutter: Siehe, dieser ist gesetzt zum Fall und zum Aufstehen für viele in Israel und zu einem Zeichen, dem widersprochen wirdauch durch deine Seele wird ein Schwert dringen –, damit vieler Herzen Gedanken offenbar werden.

An Jesus werden sich die Geister scheiden — er ist ein Zeichen, dem widersprochen wird. Die einen fallen, andere stehen auf, ein Schwert wird ins Herz Mariens dringen. Und am Streit um Jesus wird das Innere der Menschen offenbar. Wie eine Art Lackmustest für das, was sonst unsichtbar bliebe. 

Was Lukas damit meint, wird elf Kapitel weiter hinten im Text klarer. Jesus spricht harte Worte (Luk 12,49-53): 

Ich bin gekommen, Feuer auf die Erde zu werfen; was wollte ich lieber, als dass es schon brennte! Aber ich muss mich taufen lassen mit einer Taufe, und wie ist mir so bange, bis sie vollbracht ist! Meint ihr, dass ich gekommen bin, Frieden zu bringen auf Erden? Ich sage: Nein, sondern Zwietracht. Denn von nun an werden fünf in einem Hause uneins sein, drei gegen zwei und zwei gegen drei. Es wird der Vater gegen den Sohn sein und der Sohn gegen den Vater, die Mutter gegen die Tochter und die Tochter gegen die Mutter, die Schwiegermutter gegen die Schwiegertochter und die Schwiegertochter gegen die Schwiegermutter.

Man muss das zweimal lesen. Das ist nicht das herze Jesulein, das wir so gern sehen und gut zu kennen meinen. Hier geht es um elementare Wahrheiten, und da bleibt Streit nicht aus. Sie ist eben nicht zu haben, die Wahrheit, ohne Streit, und die letzte Wahrheit schon gar nicht. 

Auf dem Höhepunkt der Auseinandersetzungen um ihn und seine Lehre ging Jesus vom einigermaßen sicheren Norden des jüdischen Landes schutzlos nach Jerusalem, dem Zentrum der Macht seiner Gegner, geradewegs in den Tempel, um dort zu predigen. Nawalnyj war gläubiger Christ. Einen Vergleich mit Jesus hätte er abgelehnt. Aber auch er hat sich für seine Welt, seine Gemeinschaft und das Gute darin freiwillig in die Gewalt seiner Feinde gegeben. ‚If they decide to kill me, it means that we are incredibly strong‘ sagte er. Er wusste, was er tat, und er tat es, weil er es wusste.  

Ecce homo. 

Der Herr behüte uns in dieser Woche
Ulf von Kalckreuth

Bibelvers der Woche 12/2023

Denn sie reden von dir lästerlich, und deine Feinde erheben sich ohne Ursache.
Ps 139,20

Hier ist ein Link für den Kontext des Verses, zur Lutherbibel 1984.

Die Feinde…

Wir haben aus einem der allerschönsten Psalmen gezogen, sprachlich und was die Macht der Bilder betrifft — und der gezogene Vers ist Teil einer Verfluchung der Feinde. Hier ist, fast am Ende des Psalms, der Vers im Kontext (Vers 19-22): 

Ach Gott, wolltest du doch die Gottlosen töten!
Dass doch die Blutgierigen von mir wichen!
Denn sie reden von dir lästerlich,
und deine Feinde erheben sich mit frechem Mut.
Sollte ich nicht hassen, HERR, die dich hassen,
und verabscheuen, die sich gegen dich erheben?
Ich hasse sie mit ganzem Ernst;
sie sind mir zu Feinden geworden

Mir war gar nicht bewusst, das Psalm 139 diesen Teil enthält. In Gottesdiensten wird er nicht gelesen, er scheint so gar nicht zu dem vertrauensvollen und liebenden Hauptteil zu passen, mit den unvergesslichen Bildern. 

Aber wenn man selektiert, besteht die Gefahr, dass man immer dasselbe wählt und immer dasselbe wegdrückt. Das ist die Stärke des „Bibelverses der Woche“: alle Verse der Bibel, und somit auch des Psalters, werden mit der gleichen Wahrscheinlichkeit gezogen. Ich habe nachgezählt: Bislang hatten wir 23 Verse aus dem Psalter, und acht davon sprechen direkt oder indirekt vom Existenzkampf mit den „Feinden“. Wer es durchklicken will, hier sind die Links:  BdW 20/2022, BdW 19/2022, BdW 38/2021, BdW 37/2020BdW 15/2020, BdW 46/2019, BdW 28/2019, BdW 26/2019.

Die katholische Kirche hat aus dem Stundenbuch für Ordensleute eine Reihe von Fluchpsalmen vollständig gestrichen sowie auch ausgewählte Verse in anderen Psalmen, weil sie die Botschaft der Bibel zu verdunkeln scheinen. Aber der Psalter ist das Gebetbuch der Zeit des Tempels, und ganz offensichtlich spielt tödlicher Kampf darin eine tragende Rolle.

Wie kann man damit umgehen? Man kann es wörtlich lesen. Dann ist diese Welt durch einen gnadenlosen Überlebenskampf geprägt, in der sich der Betende der Hilfe und des Beistandes Gottes versichern will und muss — und nach Lage der Dinge bedeutet der Beistand Gottes dann die physische oder soziale Vernichtung des Gegners. Das ist durchaus nicht weltfremd, ich kann mir gut vorstellen, dass Soldaten auf beiden Seiten der ukrainisch-russischen Front so beten. 

Zwei Menschen, die ich gut kenne, sehen in solchen Versen ein Abbild des Kampfs der Mächte des Lichts und der Mächte des Bösen, in die wir Menschen mit einbezogen sind, ob wir wollen oder nicht. 

Mein Vater, den ich in der Vergangenheit darauf ansprechen konnte, erkennt in diesen Stellen die inneren Feinde, dasjenige, was uns daran hindert, unser eigentliches Potential als Kinder Gottes zu leben, was uns immer wieder herunterzieht und erdrücken kann. 

Ich selbst habe gelernt, es so zu lesen: Die Welt ist wahrhaftig nicht so, wie sie sein sollte, wenn wir in einem festen Bund mit einem allmächtigen Wesen lebend, als Menschheit geeint und jeder für sich unter den zehn Geboten und dem Doppelgebot der Liebe. Was den Unterschied ausmacht, können in der Tat äußere Feinde sein. Ich will die vielen Beispiele dafür nicht aufzählen müssen. Es können große gesellschaftliche Bewegungen sein. Oder aber ganz individuelle innere Widerstände, Unreife, Geiz, Gier, sexuelles Verlangen, Angst, Neurosen, Psychosen. Und das Leid im Umgang mit Menschen: Kollegen, Konkurrenten, Neidern, Nachbarn – auch dem Ehepartner, den Geschwistern, den Kindern, den Eltern. Bei allem, was ich aufzähle, fallen mir Geschichten ein, manche davon dunkel und hoffnungslos. Sollte denn das alles in einem Gebetbuch keinen Platz haben? Im Neuen Testament ist viel vom Teufel und von Dämonen die Rede. Auch das sind Chiffren für höchst reale Vorgänge. 

„Feinde“ trennen uns vom Reich Gottes. Je nachdem, wer betet und in welcher Lage er das tut, sind es sehr unterschiedliche Dinge. Wir tun gut daran, anzuerkennen, dass wir uns, dass alle Menschen sich in existenziellen Kämpfen befinden und dabei die Hilfe Gottes brauchen. Sonst bauen wir uns eine Wohlfühlreligion, der ausserhalb des Wellness-Bereichs keine Relevanz zukommt.

Der Herr behüte uns vor unseren Feinden! Und wenn ich am kommenden Sonntag das nächste Mal vor anderen den wunderbaren Psalm 139 lese, will ich ihn ganz lesen.
Ulf von Kalckreuth

Bibelvers der Woche 33/2022

…der ward entzückt in das Paradies und hörte unaussprechliche Worte, welche kein Mensch sagen kann.
2. Kor 12,4

Hier ist ein Link für den Kontext des Verses, zur Lutherbibel 1984.

Himmel über dem Feldberg, 14. März 2020, Ulf von Kalckreuth

In den Schwachen mächtig

Vor anderthalb Jahren stand ich auf freiem Feld und weinte. Durch einen Bandscheibenvorfall war der Ischiasnerv dauerhaft eingeklemmt — Schmerzen und Lähmungen waren die Folge. Ich versuchte, jeden Tag eine Stunde zu gehen, aber es wurde schlimmer, nicht besser, und an diesem Tag waren die Schmerzen so stark, dass ich nicht mehr wusste, wie ich nach Hause zurückkommen sollte. Als ich dann vor drei Monaten erstmals wieder einen Volkslauf über 10 km machte, vorsichtig und eigentlich ohne Lauftraining, empfand ich das tief als Geschenk Gottes. Früher, als ich gut trainiert viel bessere Zeiten lief, war mir das nicht eingefallen…

Am Ende des zweiten Briefs an die Korinther ist der Ton gereizt. Paulus muß sich gegen Angriffe fremder „Überapostel“ verteidigen, die in der Gemeinde starken Einfluß gewonnen haben und ihn, seinen Beitrag und seine Begabungen schmälern. 

In Abschnitt 11 und 12 geht es ums Prahlen. Paulus Gegner tun das nachdrücklich. Er selbst lässt sich zum Schein darauf ein, und überlegt, womit denn er prahlen könne. Er hatte, und davon handelt der Vers, mehrere eindrückliche und unmittelbare Gotteserfahrungen. Eine davon führte ihn in den „dritten Himmel“, eine andere — unser Vers — ins Paradies, wo er unaussprechliche Dinge hörte. 

Aber gerade damit will er sich nicht großtun. Paulus will sich seiner Schwachheit rühmen. Denn „meine Kraft ist in den Schwachen mächtig“, sagt Paulus von Gott. Das ist so sonderbar, dass es sich lohnt, darüber nachzudenken.

Es gibt eine Tendenz in der Bibel, das Unterste zuoberst zu kehren. Gott erweist seine Macht mit der Fallhöhe. Erringt ein General mit gut ausgebildeten, zahlreichen und hervorragend bewaffneten Truppen einen Sieg, so ist das nicht wirklich wunderbar — ganz anders der Sieg Davids gegen Goliath! Die Schwachen, Witwen, Waisen, Rechtlosen stehen unter Gottes besonderem Schutz. Jesus, der Heiler, kommt zu den Schwachen, nicht zu den Starken, sagt er. Man muß verloren sein, um gefunden zu werden.

Und so stellt Paulus sich vor die Gemeinde und brüstet sich mit seinen Krankheiten, weil sie zeigen, wie sehr Gottes Segen auf ihm ruht! Darin liegt eine Provokation. Der Geist der Zeit nämlich verlangt das gerade Gegenteil. Gottes Wohlwollen entspricht der Menschen Treue zu Seinem Gesetz, so glaubte man. Wem es also schlecht geht, der hat vermutlich den Grund dafür selbst gelegt. Zum Tun-Ergehens-Zusammenhang siehe ausführlich den BdW 50/2021. Niemandem außer Paulus würde es einfallen, sich seiner Schwachheit zu rühmen. 

Er tut das nicht ungeschützt. Das zeigt unser Vers oben. Von seinen beiden großen Gesichten spricht er in der dritten Person, so, als ob es gar nicht um ihn selbst ginge. Aber er lässt keinen Zweifel daran, dass er auch ganz anders könnte, dass er sich auch seiner Stärke rühmen könnte, wenn er wollte, und zwar mit besserem Recht als seine Gegner.

Beides ist faszinierend und lässt einen nicht schnell los. Die Vorstellung, dass Gottes Kraft gerade in den Schwachen mächtig wird, oder auch in Zeiten besonderer Schwäche. Aber auch die Idee, es möge jemanden zu Lebzeiten vergönnt sein, Gottes Worte im Paradies zu hören. Wie Henoch. Um dann aber zurückzukehren an seinen alten Wirkungskreis. 

Wie sich das wohl anfühlt? Wieder am Rechner zu sitzen, die Augen zu öffnen und statt Gottes Herrlichkeit einen Windows-Bildschirm vor sich zu sehen? Wie kann man das annehmen? Wer es kann, der muss etwas wirklich Wichtiges zu sagen haben!

Ich wünsche uns allen eine gesegnete Woche
Ulf von Kalckreuth

Bibelvers der Woche 20/2022

Sie laufen hin und her um Speise und murren, wenn sie nicht satt werden.
Ps 59,16

Hier ist ein Link für den Kontext des Verses, zur Lutherbibel 2017. 

Im Angesicht meiner Feinde…

Ein Psalm wie ein Volkslied: Eine Strophe mit sechs Verszeilen, ein Refrain, dann die zweite Strophe, wieder der Refrain, nur leicht variiert. Zum Popsong fehlt nur noch die Bridge. Damit Sie die Versstruktur sehen, gebe ich unten den Psalm formatiert wieder, in der Lutherübersetzung 2017.

Der gezogene Vers stammt aus dem Refrain. Er wendet sich an die Feinde: sie sind wie Hunde, laufen hin und her und geifern mit dem Maul. Aber der Herr spottet ihrer und bietet Schutz. Eine sichere Burg in einer feindlichen Welt.

Zu diesem Psalm und dem Refrain habe ich vor nicht allzu langer Zeit eine Betrachtung unter dem Stichwort „Gottesmodus“ geschrieben — hier ist sie: BdW 38/2021. Der Betende weiss sich geborgen unter Gottes Schutz. Die Feinde sind gegenwärtig und kehren ständig wieder — wie ein Refrain. Aber sie werden unwichtig. 

Das ist jedenfalls eines: ungeheuer realistisch. Ist es auch christlich? Ich finde: ja. Man kann einwenden, dass Erlösung doch anders aussehe, dass die Feinde bitte verschwinden mögen und dass es gelingen solle, ein konfliktfreies Leben zu führen. Dies lässt der Psalm nicht einmal im Ansatz zu. Die Wiederkehr der Feinde ist in der Versstruktur fest verdrahtet. Für viele Menschen manchmal und für manche Menschen immer gehören Aggression und Konflikt zu den Gegebenheiten des Lebens. Sie lassen sich nicht wegwünschen. Die Kunst besteht dann darin, den Feinden zum Trotz ein erfülltes Leben mit Gott zu führen — dennoch! Und das kann für ein ganzes Kollektiv gelten.

Du bereitest vor mir einen Tisch, im Angesicht meiner Feinde.

Ich wünsche uns und der Welt eine gesegnete Woche,
Ulf von Kalckreuth

GEBET MITTEN UNTER DEN FEINDEN

Ein güldenes Kleinod Davids, vorzusingen, nach der Weise »Vertilge nicht«, als Saul hinsandte und sein Haus bewachen ließ, um ihn zu töten.

Errette mich, mein Gott, von meinen Feinden
      und schütze mich vor meinen Widersachern.
Errette mich von den Übeltätern
      und hilf mir von den Blutgierigen!
Denn siehe, Herr, sie lauern mir auf;
      Starke rotten sich wider mich zusammen ohne meine Schuld und Missetat.
Ich habe nichts verschuldet; sie aber laufen herzu und machen sich bereit.
      Erwache, komm herbei und sieh darein!
Du, Herr, Gott Zebaoth, Gott Israels,
      wache auf und suche heim alle Völker!
Sei keinem von ihnen gnädig,
      die so verwegene Übeltäter sind. SELA.

Des Abends kommen sie wieder,
      heulen wie die Hunde und laufen in der Stadt umher.
Siehe, sie geifern mit ihrem Maul;
      Schwerter sind auf ihren Lippen: »Wer sollte es hören?«
Aber du, Herr, wirst ihrer lachen
      und aller Völker spotten.
Meine Stärke, zu dir will ich mich halten;
      denn Gott ist mein Schutz.

Gott erzeigt mir reichlich seine Güte,
      Gott lässt mich herabsehen auf meine Feinde.
Bringe sie nicht um,
      dass es mein Volk nicht vergesse;
zerstreue sie aber mit deiner Macht, Herr, unser Schild,
      und stoß sie hinunter!
Das Wort ihrer Lippen ist nichts als Sünde;
      darum sollen sie sich fangen in ihrer Hoffart mit all ihren Flüchen und Lügen.
Vertilge sie ohne alle Gnade, vertilge sie,
      dass sie nicht mehr sind!
Lass sie innewerden, dass Gott Herrscher ist in Jakob,
      bis an die Enden der Erde. SELA.

Des Abends kommen sie wieder,
      heulen wie die Hunde und laufen in der Stadt umher.
Sie laufen hin und her nach Speise
      und murren, wenn sie nicht satt werden.
Ich aber will von deiner Macht singen und des Morgens rühmen deine Güte;
      denn du bist mir Schutz und Zuflucht in meiner Not.
Meine Stärke, dir will ich lobsingen:
denn Gott ist mein Schutz, mein gnädiger Gott.

Bibelvers der Woche 42/2021

Und setzten sich nieder, zu essen. Indes hoben sie ihre Augen auf und sahen einen Haufen Ismaeliter kommen von Gilead mit ihren Kamelen; die trugen Würze, Balsam und Myrrhe und zogen hinab nach Ägypten.
Gen 37,25

Hier ist ein Link für den Kontext des Verses, zur Lutherbibel 2017.

Zweimal Knechtschaft und zurück

Der Vers markiert eine der Gabelungen, aus denen sich die biblische Geschichte aufbaut. Die Ausgänge dieser Wegscheiden, Wendungen, Entscheidungen sind oft überraschend und lassen sie insgesamt als von Gott geschrieben erscheinen.

Josef wird von seinen Brüdern gehasst und sie haben sich seiner gewaltsam bemächtigt. Er ist anders als sie, ein Träumer und Visionär, und von ihrem Vater wird er offenkundig bevorzugt. Ruben, der Älteste, will ihn dennoch retten. Auf seine Intervention hin töten ihn die Brüder nicht sofort, sondern werfen ihn erst einmal in ein leeres Wasserloch. Ruben verlässt die Szene, wir erfahren nicht, warum. An dieser Stelle wird die Handlung gänzlich unbestimmt. Wird er sterben, wird er leben? Josef ist unten im Wasserloch, oben sind die Brüder und essen. Die Zeit steht still. 

Da heben sie ihre Augen auf — in der Bibel ist dies der Code für eine unmittelbar folgende schicksalhafte Wendung. Sie sehen ismaelitische Händler, eine Kamelkarawane, die von Gilead im Norden nach Ägypten im Süden zieht. „Warum Josef töten und an ihm schuldig werden? Wir verkaufen ihn!“ Sie ziehen ihn aus der Grube und geben ihn den Händlern für einen ordentlichen Preis, zwanzig Silberstücke. Sie mögen der Karawane noch eine Weile nachgesehen haben: Josef würde nie zurückkommen, und wie lange er in der Sklaverei zu leben hätte, war eigentlich gleichgültig… 

Aber an dieser Stelle beginnt eine ganz andere, eine ganz große Geschichte: Josef wird nach Ägypten gebracht, der Träumer macht dort eine unglaubliche Karriere, die ihn zum Manager macht, ins Gefängnis bringt und endlich ins Amt eines Vizekönigs von Ägypten führt. In vielen Wirrungen holt er seine Brüder nach, sie ziehen fort aus Palästina. Ihre Nachkommenschaft wächst und wird in Ägypten zu einem ganzen Volk, dem Volk Israel. 

Obwohl wir Entscheidungen treffen, schreibt Gott die Geschichte, sagt uns die Bibel hier, weil wir die Konsequenzen unserer Entscheidungen nicht überblicken. Die Erzählung von Josef in Ägypten mag völlig aus der Luft gegriffen erscheinen. Und doch kenne ich eine ähnliche Begebenheit, die sich in der Vergangenheit unserer Familie wirklich zugetragen hat. Ich will Ihnen das erzählen. 

Unsere Familiengeschichte berichtet von Caspar von Kalckreuter, Gutsherr in der Niederlausitz und Soldat — letzteres, wie es scheint, aus freiem Willen. Nach dem Dreissigjährigen Krieg kämpfte Schweden mit dem Vereinigten Königreich von Polen und Litauen um die Vorherrschaft im Nordosten. Die Preußen hatten sich unter dem Großen Kurfürsten aus dem polnischen Verband gelöst und waren mit den Schweden verbündet, die Polen hatten ihrerseits ein großes Tatarenheer als Unterstützung. Der große Kurfürst war auch Markgraf der Lausitz. Caspar zog also 1656 im Alter von 30 Jahren mit den Preußen gegen Polen und Tataren.

Am Michaelistag, Anfang Oktober, kam es zu einer katastrophalen Niederlage. Caspar wurde von den Tataren gefangengenommen, nackt ausgezogen und mit den anderen Gefangenen misshandelt. Den Gefangenen wurde nachts die Füße zwischen zwei Bretter gebunden und an der Erde befestigt, und gelegentlich legten sich die Tataren quer über die Gefangenen. Mit dem Hauptheer der Tataren gelangte er an den Dnjepr. Im strengem Winter hütete er Schafe und putzte die Pferde. 

Mit dem schweifenden Heer kam er schließlich ins Donaudelta, wo er einem türkischen Sklavenhändler verkauft wurde. Dieser brachte ihn nach Konstantinopel und verkaufte ihn auf dem Sklavenmarkt weiter. Caspar gab sich seinem neuen Herrn, einem Kaufmann, als Schotte aus und mußte zunächst einfache und harte Arbeit verrichten. Mit der Zeit wurde er des Kaufmanns Gehilfe. Sein Herr gab ihm die Erlaubnis, sich freizukaufen und setzte den Preis erst auf 1000, dann auf 500 Taler fest. Im Auftrag seines Herrn führte Caspar mehrere Seereisen durch. Eine davon ging nach Ägypten (!), den Nil hinauf. Erst nach abenteuerlichen Wegen und Umwegen gelangten sie zurück nach Konstantinopel, sein Herr hatte das Schiff verlorengeglaubt. Es gelang Caspar, Kontakt mit dem Gesandten des Deutschen Reichs aufzunehmen, der half, das fehlende Geld von Caspars Bruder zu besorgen. Sein Herr bat ihn sehr, zu bleiben und Muslim zu werden, und auch der Kadi, der ihm am Kai den Freibrief überreichte, wollte ihn halten. Aber er machte sich auf den weiten Weg zurück.

Zu Pfingsten 1660 schließlich, dreieinhalb Jahren nach seiner Gefangennahme, gelangte er in seine Heimat in der Niederlausitz. Er war gesundheitlich angeschlagen und die Familiengeschichte gibt das Bild einer posttraumatischen Belastungsstörung wieder: 

Es ist aber der von Kalckreuter nach seiner Wiederkunft nicht mehr so gesund, so schön und so fröhlich als vorher gewesen. Er konnte sich die harte, unvermuthete Dienstbarkeit nicht gänzlich aus dem Gemüte schlagen. Auch litt er öfter unter bösen Vorstellungen, weshalb er einst im Winter bei tiefem Schnee ohne Kleider aus dem Bette gesprungen und sich eine halbe Meile entfernt an einem anderen Orte versteckt hat, worüber er in eine gefährliche Krankheit gefallen. — Endlich hatte er fast alles vergessen, wo er gewesen war.
(Aus dem Bericht von Johann Magnussen, ev. Prediger zu Albrechtsdorf, 1679)

Vizekönig ist Caspar nicht geworden bei den Tataren und in der Türkei, nein. Aber er besaß die Kraft, weiterzuleben und durchzuhalten, als die Lage ausweglos war, und die Klugheit, seine Möglichkeiten zu nutzen, als sie sich ihm, nach langer Zeit, endlich zeigten. Mit Gott blieb er stets verbunden: als einziges Besitztum war ihm ein Gebet- und Gesangbuch geblieben, das „Lüneburger Handbüchlein“, mit dem Neuen Testament, dem Katechismus und den Psalmen — eine Kostbarkeit im 17. Jahrhundert! Die Türken ließen ihn ungehindert darin lesen. 

Der gezogene Vers handelt von der Unbestimmtheit, die in vielen persönlichen Katastrophen steckt. Unversehens habe ich nun darüber geschrieben, wie man damit umgehen kann. Ich glaube, es ist eine mächtige Überlebensstrategie. Weiterleben und durchhalten, wenn es keine andere Möglichkeit gibt, und warten. Mit Gott im Gespräch bleiben. Und dann die Chancen begrüßen, wenn sie kommen — falls sie kommen. Wie Josef. Wie Caspar. 

Ich wünsche uns eine gesegnete Woche,
Ulf von Kalckreuth

Bibelvers der Woche 39/2021

Und so ihr liebet, die euch lieben, was für Dank habt ihr davon? Denn die Sünder lieben auch ihre Liebhaber
Luk 6,32

Hier ist ein Link für den Kontext des Verses, zur Lutherbibel 2017.

Die Feinde lieben!

Manchmal, wenn es ihm besonders wichtig ist, spricht Jesus wie ein Zen-Lehrer: er stellt Sätze in den Raum, die widersinnig oder gar erschreckend erscheinen und überlässt es seinen Zuhörern, das Gehörte für sich auszufüllen. Was immer sie dann finden, es wird ihre Wahrheit sein. 

Unser Vers steht im Anschluß an eine der bekanntesten Maximen Jesu und des Christentums: wir sollen unsere Feinde lieben. Vielleicht haben Sie den Satz zu oft gehört, um sofort zu spüren, wie widersinnig er ist. Hatten Sie einmal eng mit Menschen zu tun, die Ihre Feinde waren? Es gibt da zwei Aspekte, ich könnte fragen „denen Sie feind waren“ oder „die Ihnen feind waren“. Wie fühlt sich das an? Versuchen Sie, sich zu erinnern, auch wenn es vielleicht weh tut.

Liebe hat da jedenfalls keinen Platz. Was hoch kommt, sind Angst, Ärger, Hass, Mißtrauen, vielleicht auch Enttäuschung. Die Konzepte „Feind“ und „Liebe“ schließen sich aus, mit anderen Worten: es geht nicht. In der letzten Woche haben wir aus einem Psalm gezogen, wo es um den inneren Umgang mit Feinden geht. Der Psalmist gelangt dahin, die Feinde aus seiner Gedanken- und Gefühlswelt ganz auszublenden, indem er sich Gott zuwendet. Das befreit ihn. Eine großartige innere Verwandlung — aber weit, sehr weit entfernt bleibt er davon, die Feinde zu lieben. 

Feindesliebe steigert und übersteigert das Gebot der Nächstenliebe. „Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst“ sagt Leviticus 19,18, bezogen auf die Volksgenossen. Jesus verlangt mehr: Nächster ist uns jeder, der uns in einer konkreten Lebenssituation begegnet, dessen Schicksal mit dem unseren verbunden ist. Im Gleichnis macht Jesus das hilflose Opfer eines Raubüberfalls zum Nächsten des vorbeiziehenden Samaritaners, des Angehörigen einer Volksgruppe, der die Juden Verachtung entgegenbringen. Hier in der Feldrede sagt er: Nicht nur den „eigenen Leute“ sollen wir mit Liebe begegnen: Verwandte, Freunde, Gönner, alle, die uns lieben. Sie zu lieben, vermag jeder, auch die Sünder — so unser Vers oben. Es ist dies eine Art verallgemeinerter Egoismus. Altruismus beginnt dort, wo wir uns den „anderen“ zuwenden, sagt Jesus. Und seien es die Feinde. Lasst uns die Feinde lieben!

Man kann die Antinomie dieser Forderung auflösen. Wenn ich den Menschen betrachte, der mein Feind ist und den ich nach Jesu Weisung nun lieben soll, kann ich mich fragen, ob er eigentlich mein Feind sein muss. Wenn nicht, kann ich selbst das Gebot der Feindesliebe in das der Nächstenliebe verwandeln. Immer noch schwer genug, aber nicht paradox. Mein Mathematiklehrer hat das als „Mantelpaviantrick“ bezeichnet, zur Lösung besonders vertrackter Probleme: Wie fängt man einen Mantelpavian? Man zieht ihm den Mantel aus und fängt ihn wie einen normalen Pavian. 

Wenn wir Feindesliebe ernst nehmen, müssen wir aufhören, andere als Feinde zu betrachten. Einseitig, wenn es sein muss. Anders geht es nicht. Uns selbst werden wir dabei verändern, und vielleicht auch den Feind. Und ein kleines bisschen die Welt.

Der Herr schenke uns Mut in dieser Woche, 
Ulf von Kalckreuth