Bibelvers der Woche 14/2024

Der Mund des Gerechten redet die Weisheit, und seine Zunge lehrt das Recht.
Ps 37,30

Hier ist ein Link für den Kontext des Verses, zur Lutherbibel 1984.

Zaddik — vom „rechten Sprechen“

Psalm 37 will den Betenden zur Ruhe bringen, zur Ruhe trotz der schreienden Ungerechtigkeit, die er sieht. Immer wieder, wie ein Mantra, wiederholt der Psalm drei Aussagen:

(1) Bleibe ruhig und vertraue dem Herrn, er wird es richten,
(2) Das Leben des Gerechten wird heil sein am Ende, ihm fällt alles Gute zu, und
(3) Die Frevler, die sich nehmen was sie wollen, erleiden einen schlimmen Tod. 

Oft, sehr oft wird dieses Mantra wiederholt, allein elfmal der schändliche Tod der Frevler beschworen. Der therapeutische Zweck wird deutlich: der Betende ist zutiefst verletzt und versucht mit aller Kraft, an sich zu halten und im Frieden Gottes seine Fassung und sein Vertrauen zu bewahren. Ich verstehe das. Mir ist es selbst schon ähnlich gegangen. 

Der gezogene Vers fällt heraus, er ist ein Solitär. Der Psalm als Ganzes besteht aus Doppelversen, die jeweils mit aufeinanderfolgenden Buchstaben des hebräischen Alphabets beginnen. Im Vers sind wir bei „P“ angelangt, und das hebräische Wort für „Mund“ wird genau so ausgesprochen wie der Buchstabe. Und weil an dieser Stelle vom Gerechten die Rede ist, nutzt der Autor die Gelegenheit, etwas zu sagen, das ihm sehr wichtig ist. Der gesamte Doppelvers lautet: 

Der Mund des Gerechten redet Weisheit, 
und seine Zunge lehrt das Recht. 
Das Gesetz seines Gottes ist in seinem Herzen
seine Tritte gleiten nicht.

Man erkennt den Gerechten daran, dass er ‚recht spricht‘. Das ist heute nicht intuitiv und mit ‚gerechter Sprache‘ hat es nichts zu tun. Wir würden heute einen guten Menschen weniger an seiner Rede als an seinem Handeln erkennen wollen — rechtschaffen soll er sein. Aber in der hebräischen Bibel ist das Wort die Tat und Worte sind Tatsachen.

Wort hat Macht im alten Israel, siehe hierzu den BdW 16/2019. Mit seinem Wort schafft Gott die physische Welt. Sein Wort, die Torah, schafft auch den geistigen Kosmos. Auch der Mensch handelt in erster Linie durch Worte. Es ist stimmig, dass der Psalm den Gerechten, den Zaddik, als einen Menschen beschreibt, der ‚recht spricht‘. Er hat das Gesetz Gottes in seinem Herzen, und bezieht daraus Sicherheit, für sein Reden wie für sein Handeln, auch in schwerer Anfechtung, wie im Psalm. Seine Tritte gleiten nicht: Diese Trittsicherheit in Wort und Tat wünsche ich mir! Den modernen Zweifel, ob Gerechtigkeit überhaupt menschenmöglich sei, kennt der Psalm nicht.

Vielleicht machen wir es uns mit diesem Zweifel auch ein wenig einfach.

Ich schreibe dies in der Nacht von Karfreitag. Jesus ist tot, die Welt steht still. Von meinem Turm in der Weißfrauenkirche herab blicke ich auf die Gutleutstraße, sie ist naß und kalt. Rote Ampeln, Rücklichter. Die Obdachlosen sind verschwunden, sie sind jetzt in der Nähe ihrer Schlafplätze.

Ihnen und uns allen wünsche ich ein frohes Osterfest! 

Der Herr ist auferstanden! Und er wird wiederkommen!
Ulf von Kalckreuth

Überblendung: Die Nacht von Karfreitag, Blick von der Turmklause der Weissfrauenkirche in Frankfurt

Bibelvers der Woche 34/2019

Zu der Zeit ward Hiskia todkrank. Und der Prophet Jesaja, der Sohn des Amoz, kam zu ihm und sprach zu ihm: So spricht der HErr: Bestelle dein Haus; denn du wirst sterben und nicht lebendig bleiben!
Jes 38,1

Hier ist der Link für den Kontext des Verses, zur Lutherbibel 2017.

Sterben und Leben

König Hiskia von Juda erkrankt zum Tode, und zwar gerade, als er und sein Volk durch ein Wunder von einer anderen tödlichen Bedrohung errettet wurde, dem Angriff der Assyrer unter Sanherib. Jesaja, der Prophet des Herrn, sagt ihm, er möge sich keine Illusionen machen. „Bestelle dein Haus, denn Du wirst sterben und nicht lebendig bleiben.“

Hiskias Krankheit und seine Errettung hat uns zu Beginn des Jahres bereits einmal beschäftigt. Anfang März zog ich ein Vers aus demselben Abschnitt, meine Ausführungen dazu könnten für den Vers von heute geschrieben sein.

Nun gibt es aber eine Möglichkeit, weiter darüber nachzudenken. Der gezogene Vers ist wie ein rotes Stop-Schild: bei Ihnen stößt er vielleicht ganz andere Gedanken und Assoziationen an. Mir fallen zwei Dinge ein.

Erstens. Vor zweieinhalb Wochen, auf unserem Camping-Urlaub, wohnten meine Frau und ich dem Gottesdienst einer freien evangelischen Gemeinde bei. Nach der Begrüßung durch den Leiter trat eine Frau mitteren Alters nach vorn und erklärte der Gemeinde, sie habe ein Gespräch mit ihrem Arzt gehabt, und es handele sich bei Ihren Beschwerden um einen bösartigen Hirntumor. Wenn die verbliebenen Behandlungsmöglichkeiten gut anschlügen, könne sie vielleicht noch ein Jahr leben. Ziemlich genau das also, was Hiskia von Jesaja hören mußte. Die Frau war kämpferisch. Sie betete laut zu Jesus, sie sang, mit einer Fahne in der Hand, und sie bat die Gemeinde, mit ihr zu beten. Nach diesem Gebet blieb während des ganzen Gottesdienstes eine Frau bei ihr und flehte Rettung herab. 

Ich fühlte damals, dass ich mich anders verhalten hätte. In den Urlaubswochen hatte ich viel Jeremia gelesen, und es schien mir wichtig, den richtigen Umgang mit dem Unabwendbaren zu lernen. Ich sagte Antje, dass ich wohl hätte versuchen wollen, die verbliebene Zeit so gut und sinnvoll wie möglich zu nutzen. Auch Hiskia hätte so reagieren können — es war sogar buchstäblich das, was Jesaja im Namen des Herrn von ihm verlangte. Aber Hiskia betet. Und er wird gerettet, „against all odds“ und sogar entgegen der Ankündigung des Propheten. „Denn ich werde wandeln vor dem Herrn im Lande der Lebendigen“ singt in Psalm 116 ein anderer, der vom Tode errettet wurde. Ich werde versuchen, über die Gemeinde der Frau das Gebet des Hiskia zukommen zu lassen — vielleicht habe ich den Vers deshalb gezogen. 

Zweitens. Liest man die Worte Jesajas in Ruhe, so sind sie schlicht wahr, und zwar für jeden von uns und zu jeder Zeit. Wir alle werden sterben und nicht lebendig bleiben, und wir müssen daher unser Haus bestellen. Memento mori — „Lehre uns bedenken, dass wir sterben müssen, auf dass wir klug werden“, Ps 90,12. Wenn ich dies schreibe, sitze ich gerade in der Business Class eines Flugzeugs der Etihad Air auf dem Weg nach Abu Dhabi zum Weiterflug nach Kuala Lumpur. Ich bin 11.277 Meter über dem Boden, bald überqueren wir die türkische Ostgrenze, phantastische Wolkengebirge unter mir. Alles genau wie in den Werbevideos, der viele Platz, das Essen, die gutaussehende orientalische Stewardess. Es ist gut, daran erinnert zu werden, dass wir sterben müssen, dass wir keine Götter sind, allem Anschein zum Trotz. Es ist ja so leicht geworden, unseren Anfang und unser Ende zu vergessen. 

Vielleicht sagt uns der Vers auf etwas sonderbare Weise auch, dass wir nicht verzweifeln sollen. Im Angesicht des sicheren Todes können wir noch unser Haus bestellen. Und wir können beten. Beides ist richtig und beides kann die Welt ändern.

Der Herr behüte uns in dieser Woche!
Ulf von Kalckreuth

Bibelvers der Woche 28/2019

Unsre Gebeine sind zerstreut bis zur Hölle, wie wenn einer das Land pflügt und zerwühlt.
Ps 141,7

Hier ist ein Link für den Kontext des Verses, zur Lutherbibel 2017.

Bitte um Bewahrung

Das klingt nicht so gut: unsere Gebeine sind zerstreut bis zur Hölle… Liest man den Kontext, so versteht man nicht recht. Der Betende steht im Kampf mit seinen Feinden (siehe hierzu den BdW 2019 KW 26). Er wünscht, ihre Führer (hebräisch: Richter) mögen an einem Felsen zerschmettert werden, dann würde seine Stimme wieder lieblich klingen. Dann kommt unser Vers, gefolgt von einem Bekenntnis des Vertrauens und einer Bitte an Gott.

Wer ist mit „unsere“ gemeint? Der Rest des Psalms steht in der ich-Form. Und warum steht das Bild völliger Verheerung erst im Anschluss an die Vision von den zerschmetterten Bedrängern? Der Satz vorher ist auch nicht einfach. In der Einheitsübersetzung betet der Psalmist nicht gegen seine Bedränger, sondern für sie. Die Übersetzungen sind sich auch nicht einig, ob nun die Führer der Feinde auf die Felsen stürzen oder die Feinde in die harte Hand ihrer Richter. Zwei Übersetzungen (darunter die Einheitsübersetzung von 1980) habe ich gefunden, die den gezogenen Vers als direkte Rede der Feinde interpretieren, nachdem sie besiegt sind — dann liegen die Feinde verheert am Boden, nicht der Betende. Das ist mutig, aber immerhin stellt es einen klaren Bezug zu den übrigen Teilen her, nebenbei ist die 1. Person Plural erklärt. Der hebräische Urtext ließe das alles zu, soweit ich es beurteilen kann. 

Ich muss mich entscheiden. Die neue Einheitsübersetzung von 2016 gibt uns: 

Ja, immer noch bete ich für sie trotz ihrer Bosheit. Sind ihre Richter auf Felsen hinabgestürzt,/ dann werden die Frevler meine Worte hören, denn diese waren freundlich. Wie beim Aufhacken und Pflügen der Erde, so sind unsere Knochen hingestreut an den Rand der Totenwelt. Doch auf dich, GOTT und Herr, richten sich meine Augen, bei dir habe ich mich geborgen, gieße nicht aus mein Leben! (Ps 141, 5b-8)

Das scheint plausibel: die Szene mit den zerschmetterten Anführern der Feinde spielt in der Phantasie. Dann kehrt der Psalmist zur Wirklichkeit zurück. Da nun liegt er am Boden, nicht die Feinde. Desintegration, Auflösung erkennt der Psalmist an sich und seiner Persönlichkeit. Dafür hat er ein starkes Bild: die Teile seines Körpers sind nicht mehr sinnvoll aufeinander bezogen, sondern liegen verstreut, „wie wenn einer das Land pflügt und zerwühlt.“ Tod, eigentlich: das altjüdische sche‘ul, ist ein grauer Un-Ort, der für die Nicht-Existenz nach dem Leben steht — mit der flammenden, strafenden, von Teufeln regierten christlichen Hölle hat sie nichts zu tun

Mit Blick auf Gott aber wird Integration und Fokussierung wieder möglich: „Doch auf dich, GOTT und Herr, richten sich meine Augen“. Es blitzt dabei auf, dass das Gebet selbst Teil der Heilung ist. Das ist ein schöner Gedanke, der uns in dieser Woche begleiten kann!

Gott sei mit uns in dieser Woche und bewahre uns,
Ulf von Kalckreuth

Bibelvers der Woche 26/2019

…daß du meine Feinde hinter sich getrieben hast; sie sind gefallen und umgekommen vor dir.
Ps 9,4

Hier ist ein Link für den Kontext des Verses, zur Lutherbibel 2017.

Bewahrung und die Feinde

Der Betende wird gerettet und dankt dem Herrn. Es wurde festgestellt, dass Psalm 9 und der ganz anders, fast verzweifelt gestimmte Psalm 10 ursprünglich eine liturgische Einheit bildeten — Bitte und Dank. Der gezogene Vers ist in der Übersetzung von 1912 nicht leicht zu lesen. Eine wörtliche Übersetzung aus dem Hebräischen von Vers 3 und 4 ergibt: 

3 Ich freue mich und frohlocke über dich; lobsingen will ich Deinen Namen, du Höchster. 
4 Meine Feinde fliehen nach hinten, straucheln dabei und vergehen vor deinem Angesicht. 

Es ist erstaunlich, wie oft in den Psalmen von den „Feinden“ die Rede ist, mit denen der Betende es jeweils zu tun hat. Vor drei Wochen erst hatten wir einen anderen Psalmvers dieser Art. Es geht um Beleidigung und Schmähung, um Verleumdung und Betrug, manchmal um tödlichen Kampf und wechselseitigen Fluch. Einige Psalmen sind geradezu gefüllt vom Schlachtenlärm. Das entspricht durchaus nicht modernen religiösen Rezeptionserwartungen. Die entsprechenden Stellen sind in der Lutherbibel jedenfalls nie gefettet gedruckt, man öffnet das Buch der Psalmen ja eher auf der Suche nach Kontemplation und Erbauung. 

Was tun damit? Die meisten Menschen haben nicht viele Feinde, ihr Leben mag vom Kampf ums Dasein geprägt sein, aber nicht so sehr durch den Kampf gegen lebende Menschen. 

Mir fallen zwei verschiedene Dinge ein, die vielleicht zusammengehören. 

Erstens. Die Feindfiguren müssen nicht Menschen aus Fleisch und Blut sein: es geht um Umstände, Regelmäßigkeiten, eingefahrene Verhältnisse, die uns schaden und vernichten können. Und wie im Psalm entfalten sie ihre eigentliche Kraft im Plural. Ein Mensch mag im Job demotiviert und überlastet sein. Die Signale in seiner Familie nimmt er nicht wahr — zentrifugale Kräfte aller Art schlagen durch und treffen auf jemanden, der nichts tun kann und will. Die Partnerschaft leidet; wenn auch der andere geschwächt ist, wird aus dem Miteinander ein überfordertes, aufreibendes Gegeneinander, das viel, sehr viel weitere Kräfte kostet. Das Leben wird unerträglich, der Körper reagiert mit Krankheit: Herz, Rücken, Magen, Schlaflosigkeit, psychische Beschwerden. Kurzfristig helfen Alkohol und Tabletten, langfristig schwächen sie weiter. Im Job geht gar nichts mehr. Überall Streit. Ehescheidung, gesundheitlicher Zusammenbruch, Arbeitslosigkeit… Die „Feinde“ triumphieren, sie überrennen die Festung, sie fällt. 

Die Aspekte unserer Lebenslagen sind über unsere Wünsche, Kraftreserven und Abneigungen aufs intimste miteinander verbunden. Mit ein wenig Lebenserfahrung kann man spüren, dass hinter jeder Lebenswelt andere Lebenswelten schlummern, die sich aus den vorhandenen Elementen auch bauen ließen. Zu schönen Lebenslagen gibt es schreckliche Gegenwelten — und umgekehrt. Man kann die Geschichte, die ich skizziert habe, ja auch anders herum erzählen! Versuchen sie’s: Eine Geschichte, bei der jeder Schritt der Gesundung die Kraft stärkt, mit anderen Aspekten des Lebens umzugehen.

Wie gelangt man in die andere, gute Lebenswelt, wenn man erst einmal feststeckt? Wir sind diesem Muster schon einmal begegnet, im BdW 13/2019, Ps 38,3. Der betende Psalmist vertraut auf die Hilfe Gottes, bittet darum und dankt dafür. Gegen die „Feinde“ brauchen wir eine Vision dessen, was manifest nicht ist, Leitung, die unser Wissen übersteigt, Kraft, wo eigentlich keine mehr ist, die Fähigkeit zum Umgang mit Menschen, wenn man nicht einmal mehr sich selbst erträgt. Wir brauchen Gott. Vor deinem Angesicht straucheln die Feinde und vergehen.

Zweitens, und nun stelle ich mir unter den Feinden wieder lebende Menschen vor, mögen wir uns daran erinnern, dass unser Verhältnis zu Gott ein sehr konkretes sein kann und soll, bei dem es zur Sache geht. Der Gott der Bibel ist nicht der abstrakte Gott der Philosophen. Er wirkt in der Welt, nicht hinter der Welt, und seine Gerechtigkeit ist nicht die unsere. Er mischt sich ein, ist parteiisch, und von uns Menschen lässt er sich provozieren, bis aufs Blut reizen, bereden und beschwichtigen. Das ist schwierig für uns. Wir hätten Gott gern regelmäßig und erwartbar, als metaphysisch überhöhte Kombination von Grundgesetz und StGB gewissermaßen. Wenn er sich nun auf die Seite des einen oder des anderen stellt, ist denn das nicht Willkür? 

Und wie können wir ihm dann gegenübertreten? Als selbstbewusste Antragsteller, der sich auf eine gültige Verordnung berufen kann, jedenfalls nicht. Sondern als lebende Menschen, die sich ihrer Schwäche und ihrer Ausweglosigkeit bewusst sind — ungefähr so, wie es die Psalmen vorgeben.

Vor deinem Angesicht straucheln die Feinde und vergehen. Also: Ich wünsche uns eine Woche, in der wir fröhlich über die Feinde obsiegen, mit Gottes Hilfe!
Ulf von Kalckreuth

Bibelvers der Woche 13/2019

Denn deine Pfeile stecken in mir, und deine Hand drückt mich.
Ps 38,3

Hier ist ein Link für den Kontext des Verses, zur Lutherbibel 2017.

Zerfall… und Wiederaufbau

Der dritte Bußpsalm. Nicht das, worüber man sich zu Beginn einer neuen Woche freut. Der Betende ist körperlich und seelisch am Ende. Krankheit drückt ihn nieder, der Psalm findet krasse Worte für den Zustand der fortschreitenden Auflösung, in dem Körper und Geist sich befinden. Der Zerfall findet seine Entsprechung im sozialen Bereich: Freunde und Verwandte ziehen sich zurück und die feindlich gesinnten Kräfte werden übermächtig. Der Betende sieht dies als Strafe Gottes für seine Sünden. Das ist die Saite, die der gezogene Vers anschlägt. Er steht an zweiter Stelle im Psalm, der Eingangsvers lautet: „Herr strafe mich nicht in meinem Zorn und züchtige mich nicht in deinem Grimm!“ Der Betende bekennt seine Sünden und bittet um Verschonung.  

Ein Thema, das sich durch die ganze Bibel zieht: unser Unglück kann Strafe Gottes sein, der Ausfluß unserer Verfehlungen. So formuliert klingt es „alttestamentarisch“, und mit Absicht lasse ich den negativen Beiklang mitschwingen: da ist jemand, der keine Sünde ungestraft lässt, bis ins dritte und vierte Glied (2. Mose 34,7).

Hier liegt, Zeitgeist und Beiklang zum Trotz, aber eine tiefe Wahrheit. Sind nicht unser Verhalten und unsere Verfasstheit letztlich eins? Kann denn aus einer kranken inneren Verfasstheit gesundes Verhalten erwachsen, und korrumpieren nicht umgekehrt unsere Verfehlungen die Seele? Mit der mitmenschlichen Umgebung wird ein Dreieck daraus: in einer Umwelt voll Hass und Streit kann nur ein Heiliger friedlich und innerlich gelassen bleiben, und andererseits kehren die Ergebnisse unserer Dysbalancen über die Umwelt schnell zu uns selbst zurück. Das eine bedingt das andere. Krankheit führt zu Verfehlung, Verfehlung zu Krankheit, und beides wird von unserer Umwelt aufgenommen, verstärkt und zurückgegeben. Die Punkte des Dreiecks stützen sich gegenseitig. Eine psychophysische Armutsfalle. Wir machen unsere Hölle und unsere Hölle macht uns. Und dies vielleicht wirklich bis ins dritte und vierte Glied.

Wie kann man aus einer solchen Lage herauskommen? Es geht nicht ohne einen Angelpunkt außerhalb dieses Systems von Rückkopplungen. Wir brauchen Gott. Als „Deus ex Machina“ im Wortsinne, der außerhalb und oberhalb unserer Mechanismen steht. Der uns helfen kann, „trotz allem“ unser Verhalten zu ändern, wenigstens an einigen Stellen, der uns in unserer Umgebung Atemluft schenken kann, der uns zusätzliche Kraft dort verleiht, wo eigentlich alle Reserven aufgebraucht sind. Und dann kann die positive Rückkopplung auch andersherum laufen. Bis am Ende vielleicht eine ausgewogene körperliche und seelische Verfasstheit ein großzügiges und gemeinschaftsorientiertes Verhalten stützt und beides bei den Mitmenschen Ansehen und Wertschätzung bewirkt und Liebe ermöglicht. Aber am Anfang steht das Eingeständnis: der eigenen Korruption, der verzweifelten äußeren Lage, des geistigen und körperlichen Verfalls. Und dann die Bitte. Der Psalm schließt mit den Worten: 

Verlass mich nicht, HERR, mein Gott, sei nicht ferne von mir!
Eile, mir beizustehen, Herr, meine Hilfe!

So sei es für uns in dieser Woche. 
Ulf von Kalckreuth

Bibelvers der Woche 09/2019

Meine Zeit ist dahin und von mir weggetan wie eines Hirten Hütte. Ich reiße mein Leben ab wie ein Weber; er bricht mich ab wie einen dünnen Faden; du machst’s mit mir ein Ende den Tag vor Abend.
Jes 38,12

Hier ist der Link für den Kontext des Verses, in der Lutherbibel 2017.

Und sie dreht sich doch… rückwärts!

Als ich ihn zog, hat der Vers mich sofort beeindruckt und erschreckt, ohne dass ich schon etwas über seinen Kontext wusste. Das ist sehr expressive Sprache: hier schreit jemand in höchster Todesnot. Ich glaubte zunächst, es sei Jesaja selbst. 

Aber es ist Hiskia, der hier schreit, König des Südreichs, großer Reformer, der viel dazu beigetragen hat, aus dem JHWH-Kult ein Judentum zu formen. Hiskia ist todkrank. Er weiß, dass er stirbt, und auch Jesaja weiß es. Der Prophet kommt, dem König auszurichten, dass er seine Dinge ordnen möge, er werde sterben, es sei vorbei. Hiskia wendet sein Angesicht zur Wand und betet. Da lässt der Herr Jesaja sagen, er habe sein Gebet erhört, er werde ihn retten, seinen Tagen noch fünfzehn Jahre zulegen und ihm außerdem gegen die Assyrer beistehen. Als Zeichen werde er den Schatten, der bereits die Stufen des Palasts heruntergegangen ist, wieder hinaufgehen lassen. „Da ging die Sonne die zehn Stufen zurück, die sie hinabgestiegen war“.

Unser Vers ist aus dem sog. Lied des Hiskia, Hiskias Gebet. Es ist ein Psalm, die nicht Psalter steht. Hier stirbt jemand, und stirbt am Ende doch nicht. Die Sonne, die Zeit, läuft rückwärts. Im Buch Josua lässt Gott die Sonne stillstehen, um Josua mehr Zeit in einer Schlacht zu geben. Hier ist es Hiskia, der mehr Zeit bekommt, ganze fünfzehn Jahre. 

Ein Wunder ist geschehen. War also mein Erschrecken unberechtigt? Ein Wunder ist die große Ausnahme, sonst ist es keines, die Regel war und ist eine ganz andere. „Wenn auch tausend fallen zu deiner Seite, …  so wird es doch dich nicht treffen“ — die Zusage aus Psalm 91, wem gilt sie denn? Den tausenden offenbar nicht. Die Antwort in Psalm 91 ist hermetisch: „Wer unter dem Schirm des Höchsten sitzt und unter dem Schatten des Allmächtigen bleibt,…“ Das erinnert sehr an Exodus 33,19: „Wem ich gnädig bin, dem bin ich gnädig, und wessen ich mich erbarme, dessen erbarme ich mich“. Sind dies wenige, viele, alle? Das unterliegt Gottes unverfügbarem Ratschluss. Wie Hiob hätten wir lieber einen Rechtsanspruch, am besten einklagbar. Aber den gibt es nicht. Es gibt Gnade. So brutal es klingt: wir sind Gott schutzlos ausgeliefert. 

Das Lied des Hiskia ist Bestandteil der Laudes im Totenoffizium der katholischen Kirche und damit in jedem Stundenbuch enthalten. Vielleicht sollte man es beten, bevor es zu spät ist, so wie Hiskia es tat. Es ist ein sehr eindrücklicher Text, ich füge das Lied in voller Länge an. 

„Der HERR hat mir geholfen, darum wollen wir singen und spielen, solange wir leben, im Hause des HERRN!“ 

Ich wünsche uns eine Woche unter dem Schirm des Höchsten.
Ulf von Kalckreuth

Dies ist das Lied Hiskias, des Königs von Juda, als er krank gewesen und von seiner Krankheit gesund geworden war:

Ich sprach: In der Mitte meines Lebens muss ich dahinfahren,
zu des Totenreichs Pforten bin ich befohlen für den Rest meiner Jahre.
Ich sprach: Nun werde ich nicht mehr sehen den HERRN,
ja, den HERRN im Lande der Lebendigen,
nicht mehr schauen die Menschen,
mit denen, die auf der Welt sind.
Meine Hütte ist abgebrochen
und über mir weggenommen wie eines Hirten Zelt.
Zu Ende gewebt hab ich mein Leben wie ein Weber;
er schneidet mich ab vom Faden.
Tag und Nacht gibst du mich preis;
bis zum Morgen schreie ich um Hilfe;
aber er zerbricht mir alle meine Knochen wie ein Löwe;
Tag und Nacht gibst du mich preis.
Ich zwitschere wie eine Schwalbe
und gurre wie eine Taube.
Meine Augen sehen verlangend nach oben:
Herr, ich leide Not, tritt für mich ein!
Was soll ich reden und was ihm sagen?
Er hat’s getan!
Entflohen ist all mein Schlaf
bei solcher Betrübnis meiner Seele.
Herr, davon lebt man,
und allein darin liegt meines Lebens Kraft:
Du lässt mich genesen
und am Leben bleiben.
Siehe, um Trost war mir sehr bange.
Du aber hast dich meiner Seele herzlich angenommen,
dass sie nicht verdürbe;
denn du wirfst alle meine Sünden hinter dich zurück.
Denn die Toten loben dich nicht,
und der Tod rühmt dich nicht,
und die in die Grube fahren,
warten nicht auf deine Treue;
sondern allein, die da leben, loben dich so wie ich heute.
Der Vater macht den Kindern deine Treue kund.
Der HERR hat mir geholfen,
darum wollen wir singen und spielen,
solange wir leben,
im Hause des HERRN!

Bibelvers der Woche 04/2019

Gelobt sei der HErr; denn er hat erhört die Stimme meines Flehens.
Ps 28,6

Hier ist ein Link für den Kontext, zur Übersetzung von 2017.

Bitten und Danken

Ein schöner Vers! Der Psalmist, David, hat zu Gott gebetet, offenbar in schwerer Auseinandersetzung oder in großer Gefahr — dies ist der erste Teil des Psalms. Der zweite Teil setzt mit dem gezogenen Vers ein: Davids Gebet wurde erhört, er ist gerettet, er findet seine Lebensfreude wieder, ist fröhlich und stimmt den Lobpreis an:

Gelobt sei der HErr; denn er hat erhört die Stimme meines Flehens.
Der HErr ist meine Stärke und mein Schild; auf ihn traut mein Herz und mir ist geholfen. Nun ist mein Herz fröhlich, und ich will ihm danken mit meinem Lied.

Ps 28, 6+7

Der Vers der Woche ist die „Wende“ im Psalm. Wer diesen Vers zieht, kann sich erst einmal fragen, ob er selbst nicht Grund hat, dem Herrn zu danken, oder er kann den Vers als entsprechenden Hinweis betrachten. Er könnte sich gar entschließen, sich und seine Sache als gerettet zu erleben, selbst wenn die Signale aus der Umwelt nicht eindeutig sind. Was dem Betenden Kraft verleiht und den Umschwung bewirkt, ist ja das Vertrauen in den Herrn: „auf ihn traut mein Herz und mir ist geholfen“. 

Schließlich könnte er sich fragen, wie der Dank denn aussehen kann. In einer Reziprozitätsbeziehung ist „Danke!“ ja keine bloße Floskel. Der Dankende bekennt den Wert des Empfangenen und äußert gleichzeitig die Bereitschaft, bei entsprechender Gelegenheit seinerseits zu helfen. Bezogen auf Gott gab es eine festehende Form dafür: das Dankopfer. In diesem Psalm Davids aber tritt an die Stelle des Dankopfers in Vers 7 das Lied. In Psalm 69 singt David, ebenfalls nach schwerer Anfechtung: 

Ich will den Namen Gottes loben mit einem Lied und will ihn hoch ehren mit Dank. 
Das wird dem HERRN besser gefallen als ein Stier, der Hörner und Klauen hat.
Ps 69 32f

Wer dem Herrn danken kann, gar mit einem Lied, nimmt die positiven, manchmal unerwarteten Wendungen in seinem Leben wahr und lässt sie in seine Weltsicht einfließen. Der Dankende betritt seelisch einen neuen Raum und verlässt den Krisenmodus. Wir verkümmern, wenn wir nur klagen und bitten, also im ersten Teil des Psalms stecken bleiben.

Ich wünsche uns eine Woche, in der wir Grund finden, Gott zu danken, und ein Lied dazu.
Ulf von Kalckreuth

Bibelvers der Woche 09/2018

Ich gedenke an die vorigen Zeiten; ich rede von allen deinen Taten und sage von den Werken deiner Hände.
Ps 143,5

Hier ist ein Link für den Kontext des Verses, zur Lutherbibel 2017.

Anker im Sturm

Psalm 143 ist der siebente Bußpsalm, die Überschrift in der Lutherbibel (nicht Teil des eigentlichen Bibeltexts) lautet „Bitte um Verschonung und Hilfe“. Der Betende ist geängstigt, vor Furcht erstarrt; er will sich geistig und seelisch des Schutzes Gottes versichern. Eine der beiden Strategien — die im gezogenen Vers genannte — besteht darin, sich in dasjenige zu versenken, was er von Gott weiß und gehört hat, als Anker für das Schiff im Sturm. Die andere, im Psalm gleich anschließend bezeichnet, liegt in der direkten Zuwendung zu Gott, in der Anrede. 

Ich wünsche uns eine gesegnete Woche,
Ulf von Kalckreuth