Bibelvers der Woche 52/2019

Ein Knecht aber des Herrn soll nicht zänkisch sein, sondern freundlich gegen jedermann, lehrhaft, der die Bösen tragen kann…
2. Tim 2,24

Hier ist ein Link zum Kontext in der Lutherbibel 2017.

Die „Bösen tragen“

Hier ist der letzte BdW in diesem Jahr. Er richtet sich an diejenigen, die Führungsaufgaben in der Gemeinde haben, im weiteren Sinne aber auch an jeden, der geistliche oder weltliche Führung übernimmt: nicht nur Politiker und Manager, auch Eltern, Lehrer und Leiter von Arbeitskreisen.  

Zum besseren Verständnis hier zunächst den vollständigen Satz in der Fassung von 2017: 

Ein Knecht des Herrn aber soll nicht streitsüchtig sein, sondern freundlich gegen jedermann, im Lehren geschickt, einer, der Böses ertragen kann und mit Sanftmut die Widerspenstigen zurechtweist. Vielleicht hilft ihnen Gott zur Umkehr, die Wahrheit zu erkennen und wieder nüchtern zu werden aus der Verstrickung des Teufels, von dem sie gefangen sind, zu tun seinen Willen.

Die Aufforderung enthält drei Elemente: 

  1. Wir sollen das, was wir gelernt und erfahren haben, weitergeben, in Paulus Worten: „lehrhaft“ sein. Unser Wissen und unsere Erfahrungen sind ein Schatz, den Gott uns anvertraut. Wir sollen den rechten Gebrauch davon machen 
  2. Wir sollen freundlich dabei sein, nicht „zänkisch“. Das steht mit Absicht sogar an erster Stelle. Und es ist schwer. Wenn ich von einer Wahrheit überzeugt bin und noch dazu den Auftrag habe, sie weiterzugeben — wie soll ich die Geduld bewahren, wenn andere nicht interessiert sind, nicht zuhören, nicht verstehen, gar spotten? Wie soll ich ruhig bleiben, wenn andere aus guten oder weniger guten Gründen das gerade Gegenteil behaupten?
  3. Das, was uns dennoch an Unwillen entgegenschlägt, sollen wir ertragen und standhaft bleiben. Auch das ist schwer. 

Ein Vers für mich, denke ich. Als ich ihn las, dachte ich nicht zuerst an Führung im Gemeindekontext, sondern an meine Rolle als Vater. „Lehrhaft“ bin ich, sicher, diesen Auftrag habe ich immer ernst genommen. Aber bei den anderen beiden Forderungen sieht es viel schlechter aus. Ich musste auch an meine Arbeit denken. Vor einigen Jahren bin ich an den Forderungen 2 und 3 gescheitert, weil für mich Forderung 1 über allem stand.

Da gibt es Rückkopplungen. Je schlechter es um Forderung 3 bestellt ist, umso schwerer ist Forderung 2 zu erfüllen. Und umgekehrt — je gereizter jemand auftritt, umso eher wird er Reaktionen ernten, die schwer zu verdauen sind. 

Wir müssen unsere Aufgaben ernst nehmen. Und ohne Freundlichkeit, und ohne die Fähigkeit, ungerechte und verletzende Reaktionen anderer zu ertragen, können wir sie nicht erfüllen. Das weiß jeder, der mit Kindern zu tun hat. Warum ist es denn dann so schwer? Wenn wir unfreundlich werden, und wenn wir uns zu leicht verletzen lassen, geht es eigentlich nicht mehr um unsere Aufgabe, sondern um unsere Eigenliebe. Ist sie verletzt, so hindert uns dies an allem anderen. Im Grunde lädt uns also Paulus ein, unsere Eigenliebe zu vergessen und NUR an die Aufgabe zu denken. Denn dann dienen ja die zweite und dritte Forderung der ersten, es gibt keinen Widerspruch und kein Problem! 

Aber ist das denn möglich? Ich selbst bin gescheitert, ich darf das fragen. Auch Paulus hatte seine Probleme. Bei Forderung 2 hilft uns, dass wir uns als Erlöste sehen dürfen. Wir müssen nichts beweisen, wir müssen nicht unbedingt recht behalten, wozu? Und Forderung 3 zu erfüllen ist dann nicht schwer, wenn und solange wir uns als Kinder Gottes sehen und den anderen auch. Und wenn es um das Wort Gottes geht, steht Forderung 1 für „Knechte Gottes“ über allem.  

So kann es gehen, aber man muss stark bleiben. 

So kann man die drei Forderungen auch in anderen Situationen erfüllen. Immer dann jedenfalls, wenn wir ehrlich überzeugt sind, dass die Aufgabe wichtiger ist als unsere Eigenliebe. Stellen wir fest, dass es nicht so ist, können wir uns guten Gewissens einer neuen Aufgabe zuwenden — wir müssen uns nicht allem zur Magd machen!

Es freut mich, dass ich das alte Jahr mit diesem Vers abschließen durfte. Ich wünsche uns eine gute Woche, in der wir freundlich sind zu jedermann und von anderen nichts Böses ertragen müssen. Und mitten darin in dieser Woche liege ein fröhliches Weihnachtsfest für alle! 
Ulf von Kalckreuth

Bibelvers der Woche 51/2019

Nun aber begehren sie eines bessern, nämlich eines himmlischen. Darum schämt sich Gott ihrer nicht, zu heißen ihr Gott; denn er hat ihnen eine Stadt zubereitet.
Hebr 11,16

Hier ist ein Link zum Kontext in der Lutherbibel 2017.

Die Verheißung

Unser Vers fügt sich nahtlos an den BdW der Kalenderwoche 47 an, an das große Versprechen, das sich durch die Bibel zieht. Erinnern Sie sich?

Ihr werdet aber über den Jordan gehen und in dem Lande wohnen, das euch der HErr, euer Gott, wird zum Erbe austeilen, und er wird euch Ruhe geben von allen euren Feinden um euch her, und ihr werdet sicher wohnen. (Dtn 12,10)

Hier geht es um die spezifische christliche Fassung dieser originären Verheißung, die im Alten Testament erst einem Menschen, dann einem Volk gegeben wurde. Nun soll sie Menschen aus allen Völkern gelten und sich nicht auf irdisches Land beziehen, sondern auf das Reich Gottes. Zum besseren Verständnis hier der Vers in seinem unmittelbaren Kontext

Diese alle (Abel, Henoch, Noah, Abraham, Sarah, d.V)) sind gestorben im Glauben und haben die Verheißungen nicht ergriffen, sondern sie nur von ferne gesehen und gegrüßt und haben bekannt, dass sie Gäste und Fremdlinge auf Erden sind. Wenn sie aber solches sagen, geben sie zu verstehen, dass sie ein Vaterland suchen. Und wenn sie das Land gemeint hätten, von dem sie ausgezogen waren, hätten sie ja Zeit gehabt, wieder umzukehren. Nun aber streben sie zu einem besseren Land, nämlich dem himmlischen. Darum schämt sich Gott ihrer nicht, ihr Gott zu heißen; denn er hat ihnen eine Stadt gebaut.

Ich glaube, man kann es einfacher sagen. Die Zeugen der ersten Zeit, über die in Genesis berichtet wird, haben geglaubt. Sie glaubten etwas, das sie nicht sehen konnten und im Vertrauen darauf sind sie ausgezogen und haben Bekanntes aufgegeben. Es ist das Reich Gottes, das sie eigentlich suchten und auf das immer schon die Verheißung lautete. Diese Verheißung haben sie zu Lebzeiten nicht erlangt, sie steht ihnen noch aus. Sie werden sie gemeinsam mit denen erlangen, die jetzt leben, so steht es am Ende des Abschnitts. 

Ich liebe die Vorstellung vom Reich Gottes. Etwas, das nicht hier ist, aber doch schon da, das wir als einzelne, lokal, schon leben können, manchmal wenigstens, dessen Erfüllung für alle, global, aber noch aussteht. Vielleicht ist die globale Erfüllung (und die dazugehörige Apokalypse) am Ende auch ein Gleichnis für die lokale Form, das Reich Gottes in unserem eigenen Leben. 

Auch wir müssen ausziehen und aufgeben, um suchen und finden zu können, und vermutlich finden wir, indem wir in Bewegung sind, nicht alles auf einmal, sondern entlang des Wegs immer mehr. So verstehe ich die Geschichte der Alten. Und jeder von uns hat am Ende seine eigene Apokalypse vor sich. 

Ich wünsche uns allen eine gesegnete Adventswoche auf dem Weg zum besseren Land,
Ulf von Kalckreuth

Bibelvers der Woche 50/2019

Und weil sich dein Herz erhebt, dass du so schön bist, und hast dich deine Klugheit lassen betrügen in deiner Pracht, darum will ich dich zu Boden stürzen und ein Schauspiel aus dir machen vor den Königen.
Hes 28,17

Hier ist ein Link zum Kontext in der Lutherbibel 2017.

Wer ist Luzifer? 

Der Abschnitt, in dem unser Vers steht, Hes 28, 11-19, ist schön und schrecklich zugleich. Vielleicht lesen Sie ihn erst einmal. 

Die ersten drei Jahre meiner Grundschulzeit war ich Schüler an einer katholischen Konfessionsschule, seinerzeit der einzige evangelische Schüler. Der Religionsunterricht wurde von Ordensschwestern erteilt. Sie erzählten mir eine Geschichte, die ich nie vergessen habe. Unter den Engeln Gottes war einer, der schöner und klüger war als die anderen, ein Engelfürst wie Michael und Gabriel. Sein Name war Luzifer, Morgenstern, „Lichtbringer“. Berauscht von seiner Schönheit und Klugheit wollte er mehr sein als die anderen, wollte er sein wie Gott. Er vermochte es, viele andere Engel auf seine Seite zu ziehen, und es kam zum Kampf unter den Engeln Gottes. Gegen Luzifer stritten Michael und seine Getreuen. Luzifer wurde überwunden und in die Hölle gestürzt, nun war er Satan und steht für die dunkle Seite der Welt. 

Die Geschichte ist wichtig. In der Nussschale erklärt sie, wie das Dunkle in die Welt kommt, obwohl Gott hell ist. Dass es real ist und mächtig, trotz Gottes Allmacht. Dass des Bösen Kraft aber nur vorläufig ist. Wie es verlockend sein kann und schön, auch beim dritten Hinschauen. Und selbstverständlich habe ich angenommen, dass die Geschichte in der Bibel steht. 

Aber dort steht sie nicht. Jedenfalls nicht im Buch Genesis, wo sie zu vermuten wäre. Als ich das irgendwann merkte, begann ich, sie zu suchen. Man erzählt sie sich überall bei den Christen, und sie wird auf drei Bibelstellen zurückgeführt. Eine davon ist Hes 28, aus der unser Vers stammt. Die beiden anderen sind Jes 14,12-14 und Off 12,3ff, der Kampf des Drachen mit den Engeln.

Aber sonderbar: der Text in Offenbarung bezieht sich auf die Endzeit, ist Apokalypse, nicht Genesis, er erzählt das Ende der Welt, nicht ihren Ursprung. Und die Texte von Jesaja und von Hesekiel behandeln lebende Menschen, Jesaja den König von Babylon, Hesekiel in unserem Vers den König von Tyros. Der Prophet stimmt sogar ein Klagelied für den König an, von Gott befohlen. Das wäre sehr viel „sympathy for the devil“, um es mit den Stones zu sagen. 

Recht betrachtet steht die Geschichte vom Höllensturz nicht in der Bibel. Aber wir kennen sie, und auch Johannes, Hesekiel und Jesaja könnten sie gekannt haben. Vielleicht haben sie die Geschichte bewusst genutzt, zitiert, um „ihren“ jeweiligen Gegenstand — die Endzeit und die Könige von Tyros und Babylon — zu beleuchten. In ihren Grundzügen wird sie im äthiopischen Henochbuch erzählt, dessen alte hebräische Fassung in Qumran aufgetaucht ist. Wenn es aber in unserem Vers nicht in erster Linie um Luzifer geht, um was dann? Es muss wichtig sein, Tyros empfängt mit drei Kapiteln bei Hesekiel enorme Aufmerksamkeit.

***

Zwei Szenen mit meinen Kindern. In der vergangenen Woche ging ich abends nach der Kinderoper mit Mathilde durch die Taunusanlage. Es war dunkel und die Hochhäuser ringsum waren hell erleuchtet und neigten sich wie Giganten über uns. Mathilde war begeistert von der blendenden Pracht. Ich auch, aber ich dachte an den Bibelvers und stellte mir vor, sie stürzten über uns zusammen. 

Meine ältere Tochter, Esther, hat mich in der vorvergangenen Woche in die Welt von Instagram eingeführt. Ich habe jetzt einen eigenen Account und kann sehen, wie Menschen sich und ihr Leben darstellen. Überall Ästhetik — manche stellen das dar, was sie sehen und wie sie es sehen, manche andere schamlos immer wieder sich selbst. Alles ausweglos hochselektiv. Die Accounts wachsen organisch und verweisen aufeinander, sind miteinander verflochten. Instagram und Facebook sind Teil der „echten“ Welt geworden, die Menschen leben darin und ein wenig auch dadurch. Auch hier lässt mich etwas nicht los: Was geschieht, wenn der Träger des Accounts stirbt? Seine Bilder, seine Kommentare, seine Nachrichten bleiben, was sie sind, sie wachsen nur nicht weiter. In der virtuellen Welt bleiben sie stehen, glänzend und schön, abgelöst von unserer Körperlichkeit. Wir entgrenzen.

Dann verstand ich, worauf ich Abschnitt und Vers beziehen kann. Der Text von Hesekiel passt auf uns, viel besser noch als auf die Menschen, die der Prophet selbst kannte. Nach den Maßstäben des Altertums sind wir von Engeln und Göttern kaum zu unterscheiden. Viele von uns jedenfalls. Das Internet, die sozialen Medien und der Flugverkehr machen uns fast allwissend und allgegenwärtig. Manche von uns richten ihr ganzes Leben auf diesen Feenglanz. 

Wenn wir uns vergessen und zu Göttern werden, gehen wir unter. Wie der König von Tyros und die Frau des Fischers im Märchen. Und könnte es nicht sein, dass auch die uralte Geschichte vom gefallenen Engel, die mir die Ordensschwester weitergegeben hat, eigentlich uns meint, schön und schrecklich zugleich, unentwirrbar, und die Kämpfe in unserem Inneren?
Ulf von Kalckreuth 

Mathilde vor der Alten Oper

Bibelvers der Woche 49/2019

Dies ist die Last über Arabien: ihr werdet im Walde in Arabien herbergen, ihr Reisezüge der Dedaniter.
Jes 21,13

Hier ist ein Link zum Kontext in der Lutherbibel 2017.

Verlorene Wege

Unser Vers ist in der Übersetzung von 1912 nicht leicht zu verstehen, hier mit ein wenig Kontext die Übersetzung von 2017:

Dies ist die Last für Arabien: Ihr müsst im Gestrüpp, in der Steppe über Nacht bleiben, ihr Karawanen der Dedaniter. Bringt den Durstigen Wasser entgegen, die ihr wohnt im Lande Tema; bietet Brot den Flüchtigen. Denn sie flohen vor dem Schwert, ja, vor dem blanken Schwert, vor dem gespannten Bogen, vor der Gewalt des Kampfes.

Jesaja lebte im achten Jahrhundert vor Christus in Judäa und war Prophet und Zeuge des Untergangs des Nordreichs, des größeren, glanzvolleren und oft feindlichen israelitischen Geschwisterstaats, der den Assyrern anheimfiel. Seine Visionen erstrecken sich aber auch auf die Nachbarvölker, hier auf Arabien, dessen Einwohner sich die Hebräer verwandt wussten. 

Andere Völker sollten Land verlieren oder Städte — die Dedaniter waren Händler, sie hatten kein Land und keine Städte. Was hatten sie, was konnten sie verlieren? Sie hatten Wege, ein System von Rastplätzen mit Ruhestätten und Wasser, die zu benutzen sie das Recht hatten. Das war ihre Existenzgrundlage als Fernhändler (‚Karawanen‘). 

Der Herr ist hier mitnichten der Gott, der allen alles recht macht. Jesaja verkündigt eine harte Zeit. Die Dedaniter verlieren ihre Wege. Sie müssen ungeschützt übernachten, im Gestrüpp, haben keinen Zugang zu den Oasen. Diese sind durch Invasoren besetzt, die Dedaniter müssen fliehen.

Wie fühlt es sich an, seine Wege verloren zu haben? Was bleibt? Die Dedaniter sind marginalisiert, in Gefahr, mit ihren Tieren zu verdursten. Einen letzten Weg gibt es, eine letzte Hoffnung. Jesaja appelliert nicht an Gott. Der hat sein Urteil gesprochen. Er appelliert an die Solidarität der Nachbarn in Tema. Sie werden aufgerufen, das Unheil zu mildern, das von Gottes Ratschluss ausgeht. Nicht in Erfüllung eines Gebots — sie hängen dem Gott Israels gar nicht an — sie sollen es einfach tun. Ohne Grund.

Die Bibel spricht oft rauh und lapidar. Die Botschaft dieses sehr alten Texts ist erschütternd existentialistisch. Wir sind es gewohnt, Gott anzurufen, das Unheil zu mildern, das von unseren Mitmenschen ausgeht. Aber wer macht das Schicksal — Gott oder die Menschen? Und an wem ist es, zu mildern? Vielleicht tun wir sein Werk gerade dann?

Ich wünsche uns eine Woche, in der wir unsere Wege sicher gehen können. In der wir Kraft finden, dem zu helfen ohne Grund, der seine Wege verloren hat.
Ulf von Kalckreuth

Bibelvers der Woche 48/2019

Wenn du dein Land einerntest, sollst du nicht alles bis an die Enden umher abschneiden, auch nicht alles genau aufsammeln.
Lev 19,9

Hier ist ein Link zur Lutherbibel 2017, für den Kontext des Verses.

Ein ganz außergewöhnliches Gebot

Aus Grundschulzeiten kenne ich ein Lied, das ich heute noch manchmal summe, vor allem im Herbst: „Leer sind die Felder und voll sind die Scheunen“. Der Refrain lautet:

Recht die Felder ab, aber nicht zu knapp
Vögelein und Mäuschen kriegen auch noch etwas ab. 

Das ist nichts anderes als der gezogene Vers. Es geht um die Armen, die kein eigenes Land oder andere Ressourcen haben. Das Gebot ist Teil des embryonalen „Sozialgesetzbuchs“ in Leviticus. Es wirkt unscheinbar, geht es doch nur um „Reste“. Aber die Bibel unterstreicht seine Bedeutung zweifach. Das Gebot rettet Ruth, der Migrantin aus Moab und Großmutter Davids, das Leben. Und es steht inmitten des Heiligkeitsgesetzes, einer Rekapitulation der wichtigsten Gebote, die in die zentrale Forderung mündet: „Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst“ (Lev 19,18), die zweite Hälfte des Doppelgebots der Liebe. 

Also geht es hier um etwas sehr Wichtiges. Nicht darum, was wir erreichen wollen, sondern wie wir es tun. Den way of life. Nicht um die die großen Linien der Zeichnung, sondern darum, wie sie gezogen werden — hart und scharf oder graduiert und leicht verwischt. Wenn wir durch das Leben ziehen, hinterlassen wir einen Fußabdruck, der sich aus all den „Nebenwirkungen“ unseres Tuns und Unterlassens bildet. Dieser Fußabdruck wird mit der Zeit immer wichtiger. Wir sollen unseren Bedürfnissen nachgehen und denen unserer Familien, wir sollen ernten dürfen, ja, aber nicht in einer Weise, die keinen Raum lässt für anderes. Wir sollen das Wichtige erreichen, aber wir sollen dabei nicht maximieren. Wie jedes der wichtigen Gebote hilft uns auch dieses in erster Linie selbst: wer sich nach dem letzten Krümel bückt, macht sich klein und gibt jede Freiheit auf, wird Sklave. So will uns Gott nicht.  

Manchmal bin ich für Gebote dankbar. So auch hier und heute. Ich wünsche uns eine schöne Woche, in der Großmut uns Raum für Leben schafft. 
Ulf von Kalckreuth

Bibelvers der Woche 47/2019

Ihr werdet aber über den Jordan gehen und in dem Lande wohnen, das euch der HErr, euer Gott, wird zum Erbe austeilen, und er wird euch Ruhe geben von allen euren Feinden um euch her, und ihr werdet sicher wohnen.
Dtn 12,10

Hier ist ein Link für den Kontext des Verses, zur Lutherbibel 2017.

Licht und Schatten

Das ist die Klammer um die ganze Torah, alle fünf Bücher, das große Versprechen: Ich führe euch heraus aus der Sklaverei, ich habe euch erwählt und nenne euch keinen Grund dafür, ihr müsst mir treu sein, dann gebe ich euch ein großes, reiches Land, das eure Heimstatt sei, und ihr werdet frei sein von Feinden und Bedrohung.

Das ganze fünfte Buch Mose spielt eine logische Sekunde, bevor das Versprechen wahr zu werden beginnt. Die Israeliten brechen aus der Wüste hervor, sie haben den Jordan erreicht und stehen nun bereit, ihn zu überschreiten, das Land einzunehmen. Mose darf diesen letzten Schritt nicht mehr mitgehen, er stirbt vorher, das weiß er, aber jetzt, am Ufer des Flusses, fasst er in einer langen Rede die ganze bisherige Heilsgeschichte zusammen, blickt nach vorn und rekapituliert und interpretiert die Gebote, die das Volk empfangen hat.

***

Unser Vers benennt das große Versprechen in einem besonderen Kontext. Zu einer Zeit, die noch nicht bekannt ist, an einem Ort, den Gott noch nicht benannt hat, soll das ganze Opferwesen der israelitischen Stämme zentralisiert werden. Im gezogenen Abschnitt wird also, noch bevor die Stämme die Stadt überhaupt kennen, der Anspruch des Tempels in Jerusalem begründet, einzige legitime Opferstätte und Ort der Anbetung zu sein, ja Wohnstätte Gottes. Das wirkt sehr ungleichzeitig: Als Mose spricht, ist Israel ein Volk „ohne festen Wohnsitz“ und eine einzige Anbetungsstätte für ihren körperlosen und unsichtbaren Gott, der stets mit seinem Volk zieht, ist eine absurde Vorstellung. Der Text beugt dem Einwand vor: jetzt tut ihr noch, was ihr wollt (V 8), aber bald werdet ihr ein festes und sicheres Land haben (unser Vers), dann könnt und sollt ihr anders verfahren.

Eine erhebliche Einschränkung. Der Text zeigt, dass immer, wenn die Israeliten Rind oder Schaf schlachteten und aßen, sie Teile davon dem Herrn opferten, beinahe so, wie wir heute ein Tischgebet sprechen. Das Opfer und die Anrufung des Herrn mit seinem Namen war der Kern des Austauschs eines jeden Israeliten mit Gott. Sie haben mit Gott gegessen und gesprochen.

Die Monopolisierung von Opfer und Gottesdienst im Tempel geschah spät in der Geschichte der Königreiche. Das große Nordreich war schon untergegangen, als die Könige des kleineren Juda, namentlich Hiskia und Josia, das Opfer und das religiöse Steuerwesen auf Jerusalem konzentrierten. Nur in Jerusalem durfte noch geopfert werden, nur die Priester dort durften den Zehnten empfangen und all die freiwilligen und mandatorischen Gaben. Noch später durfte auch der Name des Herrn nur an diesem Ort ausgesprochen werden, nur zu einer Zeit, Jom-Kippur, nur von einem Menschen, dem Hohepriester.

Die Konzentration auf Jerusalem war verbunden mit einer Einhegung von Wildwuchs und hatte damit große Bedeutung für die Durchsetzung des Monotheismus. Auf „den Höhen“ wurde nämlich durchaus nicht nur dem Herrn geopfert. Die Kehrseite ist, dass der Gottesdienst sehr verletzlich wurde. Ökonomen würden von systemischen Risiken sprechen. Der Tempel wurde zweimal zerstört, und nach dem zweiten Mal konnte er nicht mehr wiederaufgebaut werden. Für das Judentum eine existenzielle Krise. Sie konnte überwunden werden, aber die Riten, die sich in einem Jahrtausend herausgebildet hatten und nur im Tempel vollzogen werden durften, hatten keinen Ort mehr, ein großer Teil der 613 Ge- und Verbote, die jüdische Gelehrte aus der Torah destillieren, läuft seither leer.

Auch die Christen sind getroffen. Die Aussprache des Eigennamen Gottes ging verloren, als es nach der Zerstörung des Tempels niemanden mehr gab, der ihn legitimiert rufen durfte. Wir kennen noch die Konsonanten, J H W H, und hinsichtlich der Vokalisierung gibt es eine Anzahl mehr oder weniger begründeter Theorien. Aber kann man im Gottesdienst nach vorn treten oder auf einen Berg steigen und dort, in Verzweiflung, Hoffnung, Freude oder Triumph, den Namen Gottes, des Herrn, laut ausrufen? Gott ist nicht nur körperlos und unsichtbar, auch sein Name entzieht sich uns wieder. Und dabei misst die Bibel Namen (Gottes und der Menschen) große Bedeutung zu. 

***

So wirft unser Vers ein helles Licht auf die Zukunft und auch einen Schatten. Ich wünsche uns eine Woche, in der wir Ruhe haben vor unseren Feinden und sicher wohnen,
Ulf

Bibelvers der Woche 46/2019

Der HErr lebt, und gelobt sei mein Hort; und erhoben werde der Gott meines Heils,…
Ps 18,47

Hier ist ein Link für den Kontext des Verses, zur Lutherbibel 2017.

Gott loben

Ein Vers wie eine Antiphon im Psalmgebet. Man kann sich ihm nähern, indem man ihn zunächst isoliert sieht, betet, sich vielleicht eine Melodie dazu denkt… Aber dann ist da auch die zweite Hälfte des Satzes:

… der Gott, der mir Rache gibt und zwingt die Völker unter mich; (Ps 18,48)

Was ist das? Wir sind in der frühen Eisenzeit. David triumphiert. Er hat sich als König in Israel durchgesetzt und in einer langen Reihe blutiger Auseinandersetzungen gegen seine ganze Umgebung obsiegt. Hier geht es nicht um abstrakte, anonyme „Feinde“ wie in vielen anderen Psalmen (vgl. BdW 2019 KW 26 und KW 28), gemeint sind konkret die unterlegenen Kriegsgegner. David sieht sie einzeln vor sich.

Politisch inkorrekter geht es kaum. Der Psalm ist ein regelrechtes Sprungbrett für reflexartige Aufregung aller Art. „Er lehrt meine Hände streiten, und meinen Arm, den ehernen Bogen spannen…“ Fast scheint es, dass auch Assad so mit seinem Gott sprechen könnte. Wenn wir den Psalm in Ruhe betrachten, sehen wir, dass der syrische Diktator ganz sicher so nicht beten würde, Davids Vertrauen ist nicht bedingt oder eingeschränkt darauf, dass er um die „rechten“ Dinge bittet, richtig, es ist nämlich überhaupt nicht bedingt, es ist gänzlich unbedingt. Der Herr ist sein Verbündeter, von dem alle seine Kraft ausgeht, David selbst, alleine, ist nichts. Davids Triumph ist der Triumph Gottes. 

Davids Beziehung zu Gott ist sehr ursprünglich

In der vergangenen Woche musste ich mit einer verschleppten Erkältung und einem Hexenschuss eine große Zahl von Dingen erledigen, für ein wichtiges, aber noch kaum entwickeltes Projekt, drei Vorträge und eine Reise, die in dieser Woche vor mir liegt. Ich dachte, es kann nicht gelingen, da waren so viele „Feinde“ und so wenig Kraft. Aber irgendwie wurde ich fertig. Ich habe an der richtigen Stelle abgesagt, verschoben, vereinfacht, und immer war Gott bei mir, die ganze Zeit, und am Freitagabend kam ich nach Hause und habe Gott gedankt. Ein kleines bisschen wie David. 

Wir können Gott danken und loben, auch wenn wir nichts Großes und Edles erreichen, wenn wir einfach nur durchkommen. Vielleicht ist dies eine gute Woche dafür…?
Ulf von Kalckreuth

Bibelvers der Woche 45/2019

Da ward ihm das Buch des Propheten Jesaja gereicht. Und da er das Buch auftat, fand er den Ort, da geschrieben steht: …
Lk 4,17

Hier ist ein Link zur Lutherbibel 2017, für den Kontext des Verses.

Gott ist treu

Es ist die erste öffentliche Predigt seines Lebens. Die Primiz, die Initiation. Nach einer Zeit der Abwesenheit ist er in seine Heimatstadt zurückgekehrt und am Schabbat geht er wie immer in die Synagoge. Nach der Torah wird aus den Propheten gelesen. Obwohl er jung an Jahren ist, nimmt er sich das Recht und geht zum Lesepult. Sein Angebot wird angenommen, man reicht ihm die Rolle Jesaja. Er sucht eine Stelle ganz am Ende der Schrift, findet sie und liest Jes 61,1-2:

Der Geist des Herrn ist auf mir, weil er mich gesalbt hat und gesandt, zu verkündigen das Evangelium den Armen, zu predigen den Gefangenen, dass sie frei sein sollen, und den Blinden, dass sie sehen sollen, und die Zerschlagenen zu entlassen in die Freiheit und zu verkündigen das Gnadenjahr des Herrn.

Jeder der Zuhörer Jesu in Nazareth kennt diese Stelle. Von wem spricht Jesaja? Viele glauben, dass nur vom Messias die Rede sein kann. Nach der Lesung setzt sich Jesus und bietet auch die Auslegung an. Alle Augen richten sich auf ihn. Seine Predigt besteht aus nur einem Satz:

            Heute ist dieses Wort der Schrift erfüllt vor euren Ohren!

Das Reich Gottes ist ganz nahe herbeigekommen, sagt Jesus damit, hier in diesem Raum hat es schon begonnen, und es hat mit mir zu tun, und seht: dies ist meine Botschaft!

Anfangs sind die Zuhörer freudig und offen, dann aber erinnern sie sich, dass man den jungen Mann, der da spricht, eigentlich gut kennt, es ist doch der Sohn von Josef, dem Zimmermann! Die Reaktion ist wenig erstaunlich: Was würden wir denken, wenn jemand, den wir rund zwanzig Jahre lang aus der Gemeinde kennen, plötzlich so spräche?

Jesus erwidert scharf. Die Propheten werden im eigenen Land nicht geschätzt, das ist bekannt, sagt er, und nun solle er wohl Wunder wirken, um Glauben zu finden. Aber dann verweist er darauf, dass Gott seine Wunder und Taten oft den Fremden vorbehält, denjenigen, die nicht aus dem Volk stammen, und er nennt zwei Beispiele. Nichts habe ich gemein mit euch, und eine besondere Behandlung gibt es nicht, sagt er.

Die Gottesdienstbesucher sind so erzürnt, dass sie Jesus aus der Kirche drängen, er wird zu einem Berg geführt und er ist in Gefahr, das Leben schon ganz zu Beginn des öffentlichen Wirkens zu verlieren. Ein Wunder rettet ihn — ausgerechnet.

Das ist eine Initiation wie die Ouvertüre einer Oper. Die Erzählung nennt Jesu Rolle und den Kern seiner Botschaft. Sie bindet beides auf die Propheten zurück. Sie nimmt Jesus aus seinen heimischen Bezügen, aus seiner Familie und der vertrauten Umgebung, und auch sein Tod wird vorweggenommen, als Folge des Ärgernisses, das er erregt. Das Neue Testament in der Nussschale!

Und noch zwei Botschaften gibt es. Ich höre sie, weil ich selbst am Ende des Textes zum BdW der vergangenen Woche, der alptraumhaften Exodus-Sequenz, danach gefragt habe. Jesus spricht von der Treue Gottes. Das 700 Jahre zuvor dem Jesaja gegebene Versprechen wird eingelöst! Und er sagt deutlich, dass Gottes Treue nicht nur den Kindern Israels gelte. 

Eine bemerkenswerte Korrespondenz — wer hätte diese beiden weit entfernten Stellen der Bibel zusammen denken können? Ich wünsche uns eine Woche in der Treue Gottes. 
Ulf von Kalckreuth

Bibelvers der Woche 44/2019

Und der HErr tat, wie Mose gesagt hatte, und schaffte das Ungeziefer weg von Pharao, von seinen Knechten und von seinem Volk, daß nicht eines übrigblieb.
Ex 8,27

Hier ist der Link zur Lutherbibel 2017 für den Kontext des Verses.

Verblendung

Das klingt doch richtig gut — Mose betet, und der Herr schafft das schreckliche Ungeziefer weg vom ägyptischen Volk, das sehr gelitten hat, so dass nicht ein Tier übrigbleibt. 

Aber etwas ist wie in einem Alptraum. Dieselbe Geschichte wiederholt sich immer wieder, neun Mal, mit Variationen. Der ägyptische König soll seine hebräischen Bausklaven in die Wüste ziehen und ein Opfer verrichten lassen, sagt Moses. Der König weigert sich. Dann geschieht etwas spektakulär-schreckliches: Blut, Frösche, Stechmücken aus dem Nil, Ungeziefer, Viehpest, Blattern, Hagel, Heuschrecken, Finsternis — jedes religiös erzogene jüdische Kind kann die Plagen auswendig hersagen. Der Pharao lenkt ein und bittet Mose, die Plage von ihm und seinem Volk zu nehmen, dann werde er den Opferdienst in der Wüste erlauben. Die Plage verschwindet ins Nichts, aus dem sie gekommen ist. Und dann geschieht es, neunmal: „der Pharao verhärtete sein Herz auch diesmal, und ließ das Volk nicht ziehen“. Die nächste Plage kommt. 

Unglaublich, nicht wahr? Beim zehnten Mal schließlich geschieht eine Katastrophe. Alle erstgeborenen Söhne im Land sterben, nur die der Israeliten nicht. Die hebräischen Kinder sind geschützt durch Blut am Türrahmen, das Blut eines zuvor geschlachteten Lamms, das dem Todesengel den Weg weist: hier nicht! Das ist der Kern des Pessach-Festes, aus dem unser Osterfest erwachsen ist. Schockiert erlaubt der Pharao den Auszug, der nicht vorübergehend bleibt: die Bausklaven der Ägypter ziehen in die Wüste, um dort ihrem Gott zu begegnen.

In der langen Erzählung wirkt der Pharao wie ferngesteuert. Jedes Mal gibt er nach, um die Konzession sofort wieder zurückzunehmen, wenn die Not gebannt ist. Und auch der Herr wiederholt seinen Part immer wieder. Da spielen zwei ein Spiel. Aber eigentlich spielt das Spiel nur einer, der andere nämlich ist ein Roboter, eine Marionette. Am Anfang des siebten Kapitels (Ex 7,1-5) eröffnet Gott dem Mose, er werde das Herz des Pharaos verhärten, so dass dieser nicht auf ihn, Mose, hören werde. Und dann werde Gott in spektakulärer Weise, „durch große Gerichte“ das Volk aus Ägyptenland führen. 

Die Gebetserhörung im gezogenen Vers ist daher durchaus nicht das, was sie zu sein scheint. Sie öffnet nur den Vorhang für den nächsten Akt. Der Pharao hat keine Willensfreiheit, und so schließt sich eine Heimsuchung an die andere, wie in einer Schleife, die Gott selbst programmiert hat, mit einer Abzweigung zu einem weithin sichtbaren blutigen Ende. 

Es ist nicht leicht, als Nichtjude zu dieser Erzählung ein positives Verhältnis zu entwickeln. „Wen Gott vernichten will, den schlägt er mit Blindheit“ heißt es. Wir dürfen in der Tat dankbar sein, wenn wir lesen können, was die Welt uns mitteilt. Die Bibelstelle scheint auch darauf hinzudeuten, dass — im gegebenen Kontext jedenfalls — Gottes Treue ausschließlich dem auserwählten Volk gilt. Wer gehört dazu? Wer nicht? 

Noch etwas: Konflikte, die sich nach festem Schema wiederholen und die Beteiligten zu Automaten machen, gibt es auch heute: Familien- und Ehestreit, Tarifkämpfe, Bürgerkriege, zermürbende Fehden unter Kollegen. Wenn es eine Hölle gibt, dann sieht sie vermutlich so aus. Wir sollten ihr entfliehen, wenn es geht.

Ich wünsche uns eine gesegnete Woche, im Vollbesitz unseres Urteilsvermögens, 
Ulf von Kalckreuth

Bibelvers der Woche 43/2019

…und soll es auf dem Altar opfern samt dem Speisopfer und ihn versöhnen, so ist er rein.
Lev 14,20

Hier ist ein Link zum Kontext in der Lutherbibel 2017

Reinheit II

Der Bibelvers der vergangenen Woche handelte von Reinheit als zentralem Konzept im Verhältnis zwischen Gott und Mensch. Im Vers dieser Woche geht es um Reinheit in einem sehr kreatürlichen Kontext. Aussatz ist eine spezifische und besonders krasse Form von Unreinheit. Der Aussätzige musste außerhalb der Gemeinschaft leben und war recht weitgehend seinem Schicksal überlassen. Eine Katastrophe für ihn. Es geschah aber auch, dass jemand gesundete. Dies musste zunächst vom Priester verifiziert werden. Anschließend wurde er rituell in den Zustand der Reinheit zurückgeführt — über die physische Heilung hinaus war ein Akt erforderlich, die Gemeinschaft mit Gott und den Menschen wieder herzustellen. 

Das Ritual ist kompliziert. Es zog sich über acht Tage hin und erforderte mehrere Opfer. Im Anschluss an die Begutachtung wurde zunächst ein sehr spezielles Opfer gebracht, bei dem ein Vogel mit dem Blut des anderen Vogels besprengt freigelassen wurde. Ich sehe darin ein Bild für die Heilung selbst, die den Kranken gewissermaßen durch den Tod hindurchführt. Nach sieben bzw. acht Tagen war ein weiteres, komplexes Opfer nötig, das nicht weniger als drei der in den ersten Kapiteln von Leviticus beschriebenen Grundtypen umfasste: ein Schuldopfer, ein Speisopfer und ein Brandopfer

Ich kann und will hier nicht in die Einzelheiten gehen, ich verstehe sie zu wenig. Wichtig ist folgendes: Das Schuldopfer kommt von einem Menschen, den seine Verfehlungen von Gott und den Menschen getrennt haben. Weil er unrein ist, kann er die Tötung des Opfertiers nicht selbst vornehmen. Der Priester muss es für ihn tun, ein Anteil des Opfers geht an ihn. Das Brandopfer sind „zum lieblichen Geruch“, sie gelten Gott ganz allein, die Opfergemeinschaft nahm nicht daran teil. Brandopfer kommen von kultisch reinen Menschen, die einen Grund haben, Freude mit Gott zu teilen. Sie führen das Opfer normalerweise selbst aus. Nicht aber in diesem Fall: Die Reinigung ist erst das Ziel, der Priester muss also auch das Brandopfer schlachten, stellvertretend für den zu Reinigenden. 

Opfer ist immer Kommunikation mit Gott. Der komplizierte Ritus spiegelt die Aspekte wieder, die das Wiedererlangen der Reinheit hat. Der erste Akt wirkt magisch und steht für die Heilung selbst. Das zweite Opfer überwindet das „Defizit“ der Unreinheit so, wie ein Mensch sich vom Makel der Sünde befreit. Sünde und Unreinheit ist eins. Der dritte Teil schließlich ist eine innige Zuwendung des Gereinigten, des zurück ans Ufer Gelangten, zu Gott selbst — ich hätte diese Zuwendung gern als Dank bezeichnet, aber Dankopfers sind in der Nomenklatur von Levitikus eine eigene Kategorie (Kapitel 3).

Um dieses Brandopfer, den letzten Teil des Ritus, geht es im gezogenen Vers. Die Reinheit ist eigentlich bereits da, und doch bedarf sie, um wirklich zu werden, eines Aktes, der selbst Reinheit bereits voraussetzt. „Mind-boggling“ würde der Brite sagen. Bezeichnenderweise findet sich der Nachsatz „so ist er rein“ ein erstes Mal bereits im Anschluss an die siebentägige Wartefrist nach dem Vogelopfer.

Zufällig habe ich am Sonntag der vergangenen Woche eine Predigt zur Heilung der zehn Aussätzigen gehört, Luk 17,11-19. Der beschriebene Ritus ist integraler Teil der Erzählung von Lukas. Jesus heilt zehn Aussätzige, die an ihn und seine Heilkraft glauben. Er schickt sie zum Priester, damit dieser die Heilung feststellt. Aber nur einer kehrt zurück, um Jesus zu danken und Gott zu loben — und dies ausgerechnet ein Samariter, von denen die Juden geistlich nicht viel erwarteten. Jesus bringt seine Enttäuschung über die anderen zum Ausdruck und sagt dem Samariter: Steh auf, geh hin, dein Glaube hat Dir geholfen! 

Ich denke, Jesus und der Samariter tun hier etwas, das dem letzten Teil des Ritus entspricht: die Reinheit ist technisch bereits hergestellt, sie muss aber im Miteinander von Mensch und Gott vollzogen werden. Jesu Rolle ist ambivalent – ist er Priester? Vertritt er Gott? 

Reinheit, die nicht mit Gott gelebt wird, ist unwirklich, theoretisch, vielleicht gar wertlos. Ich habe mir Reinheit stets als Zustand gedacht, der auf Erden nicht zu erreichen ist, der metaphysischer Fluchtpunkt eines immer physisch bleibenden Lebens ist. Die beiden Bibelstellen erwecken nun eher den Eindruck, als ob Reinheit vor Gott nicht nur durchaus erreicht werden kann, sondern sogar Voraussetzung ist für die aktive Gemeinschaft mit Gott. 

Ich wünsche uns eine Woche, in der unsere Reinheit nicht folgenlos bleibt — was immer das dann bedeutet. 
Ulf von Kalckreuth