Bibelvers der Woche 17/2019

Mache dir zwei Drommeten von getriebenem Silber, dass du sie brauchst, die Gemeinde zu berufen und wenn das Heer aufbrechen soll.
Num 10,2

Hier ist ein  Link für den Kontext des Verses, zur Lutherbibel 2017.

Clarion call

Das Volk Israel zieht in der Wüste umher. Die Stiftshütte war gebaut, das Pessachfest war eingesetzt und die Israeliten hatten sich vollständig der Führung Gottes anvertraut: Sie blieben lagern, solange die Wolke über der Stiftshütte stand und brachen ihr Lager ab, wenn die Wolke über der Stiftshütte sich erhob, und folgten ihr.

Ein Bild wie aus einem Traum. An einigen Stellen sind Berichte erhalten geblieben, die ein wenig Licht auf dieses Leben in der Wüste werfen. Die Einsetzung von Richtern durch Mose in Ex 18 zum Beispiel. Oder sanitäre Vorschriften, den Umgang mit Fäkalien betreffend in Dtn 23. Oder hier: die Einführung von Signaltrompeten und Vereinbarung über Signale.

Wo viele Menschen zusammenleben, bedarf es der Koordination. Die Trompeten dienten dem Zweck, den Aufbruch zu organisieren. Mit unterschiedlichen Signalen wurde den Lagern im Osten und im Süden der Aufbruch befohlen. Es gab auch Signale für eine Versammlung. Die Trompeten wurden im Krieg eingesetzt, damit der Herr der Israeliten gedenke, und als Freudenzeichen bei den Opferfesten. Nur die Priester, die Söhne Aarons, durften sie blasen. Das Brockhaus-Bibellexikon beschreibt die hebräische Trompete als „gerades Metallinstrument mit schlanker Röhre, wohl eine Elle lang, und ohne Ventile“. Eine Fanfare also. Man kann man laute und prägnante Signaltöne damit erzeugen, ich kenne Fanfaren von den Umzügen beim Heimatfest meiner Stadt. Der Bericht über die Trompeten ruft in mir eine lebendige Vorstellung auf. Wieviel Menschen kann man damit erreichen? Den Radius, auf dem das Signal gut und differenziert hörbar ist, würde ich im Gelände auf ein bis anderthalb Kilometer schätzen, darüber hinaus wird es schwierig. In locker verteilten Lagern lassen sich in diesem Radius zehn bis zwanzigtausend Menschen unterbringen. Beinahe kann ich diese Lager vor mir sehen. 

Nun wird die Größe des Volks in der Wüste verschiedentlich mit rund 600.000 wehrfähigen Männern angegeben. Nach der ersten Volkszählung in Numeri waren es 603.550 Männer über zwanzig Jahren, die mit dem Heer hinausziehen konnten, ohne Leviten. Mit Frauen, Kindern und Greisen wären es mehr als dreimal so viel, dazu Vieh (2Mo 12,38). Bei lockerer Lagerung nach Stämmen und Sippen dürfte die Fläche der Stadt Frankfurt (rund 700.000 Einwohner) sicherlich nicht genügen. Es ist nicht möglich, den Zug so vieler Menschen mit zwei Fanfaren zu koordinieren, realistisch wären dann ein Netz von Fanfaren oder Signalfeuer. Salomon vergrößert die Zahl der Trompeten auf 120 (2Chr 5,12), für Jerusalem allein.

Das ist ein Hinweis, dass die Berichte aus Israels Vorzeit, insbesondere ihre scheinbar präzisen numerischen Angaben, nicht allzu konkret gelesen werden sollten. Den Berichten kommt (auch) eine spirituelle Dimension zu. Hier ist sie nicht schwer zu sehen. Das Wort „clarion call“ im Englischen bedeutet Weckruf, eine „sehr klare Botschaft, dass ein Wandel nötig ist“ (Cambridge Dict.) Das Wort Gottes ist ein solcher Weckruf. Zwei silberne Trompeten, zu blasen beim Auszug, vor Versammlungen, beim Opferfest und im Krieg. Ein schönes Bild. Und wie sollten wir dabei heute nicht an Ostern denken, Signalfeuer für eine neue Welt?

Frohe, gesegnete Ostern wünscht uns
Ulf von Kalckreuth

Bibelvers der Woche 51/2018

Und der HErr redete mit Mose und sprach: …
Num 5,1

Hier ist ein Link für den Kontext, zur Übersetzung von 2017.

Der Herr spricht

Der Vers spielt mit Sprache, und dies auf mehreren Ebenen. Formal ist der Satz eine Einleitung, und man mag als erstes betrachten wollen, was denn der Herr zu Mose sagt. Es ist eine zwar traurige, aber vernünftige Regel, die hier aufgestellt wird: alle Israeliten, die an Lepra oder anderen schweren ansteckenden Krankheiten litten, sollten außerhalb des Lagers leben. Quarantäne ist noch heute medizinisch angezeigt, wenn es keine Behandlungsmöglichkeit gibt. 

Aber da ist noch etwas anderes. Man kennt den Satz nämlich, auch wenn man nicht oft in die Bibel schaut. Moses Leben erstreckt sich über die Bücher Exodus, Leviticus, Numeri und Deuteronomium. Ich habe den Computer zählen lassen: die Zeichenfolge „Und der HErr redete mit Mose“ kommt in diesen Büchern nicht weniger als 87 mal vor. Die vier Bücher gemeinsam haben 4319 Verse. Der Halbsatz hat also einen Anteil von fast exakt 2% an den Versen dieser Bücher! Das ist massiv. Als Variante kommt hinzu der erste Vers des Buchs Leviticus: „Und der Herr rief Mose und sprach: „

Irgendwann mussten wir den Satz also ziehen… Liest man ihn für sich selbst, so kann er drei Bedeutungen haben, je nachdem, wie man betont: 

1) Und der Herr redete mit Mose und sprach — was nun kommt, ist nicht von Mose oder einem Priesterangeordnet, sondern von Gott.

2) Und der Herr redete mit Mose und sprach: Gott richtet sein Wort an die Menschen.

3) Und der Herr redete mit Mose und sprach — nicht mit irgendeinem Menschen spricht er, sondern mit Mose, dem berufenen Vertreter.

Alle drei Bedeutungen sind präsent in dieser Phrase, die wie ein Mantra wiederholt wird. Aber die zweite ist herausgehoben: Dem Verb kommt in der hebräischen Sprache eine überragende Stellung zu. Es ist der Ausgangspunkt jeder Bedeutung, jeder sprachlichen Äußerung. Im Vers, wie im klassischen Hebräisch üblich, steht das Verb am Anfang des Satzes, und Subjekt und Objekt sind Attribute des Verbs. Die meisten Nomina und Adjektive im Hebräischen sind direkt von Verbstämmen abgeleitet. Der hebräische Name Gottes selbst ist formal ein Verb, in der 3. Person Einzahl männlich im Imperfekt. 

Gott redet und spricht, er richtet sein Wort an die Menschen, sein Wort, das die Welt erschaffen hat. Dass er dies tut, unterscheidet ihn vom „Gott der Philosophen“. Darin, dass wir miteinander sprechen und mit Gott, sind wir Gott gleich. Mit Worten können wir heilen und bauen, mit Worten zerstören und niederreißen. Und mit seinem Wort „baut “Gott sein Volk in der Wüste. 

Ich wünsche uns eine Woche, in der Gott sein Wort an uns richtet —in welcher Form auch immer,
Ulf von Kalckreuth

Bibelvers der Woche 40/2018

Und der HErr sprach zu Mose: Wie lange lästert mich dies Volk? und wie lange wollen sie nicht an mich glauben durch allerlei Zeichen, die ich unter ihnen getan habe?
Num 14,11

Hier ist ein Link für den Kontext, zur Übersetzung von 2017.

Eine abgesagte Verabredung

Das ist ein wenig sonderbar: schon zum dritten Mal in den letzten vier Wochen haben wir einen Vers, der im Umfeld des Streits über den Einzug ins Gelobte Land steht. Num 17 in Woche 37 zeigt die Desorientierung und Verzweiflung, als alle Träume zerstoben waren. Deu 34 in der vergangenen Woche 39 stellt uns Mose vor, der das Land zwar nicht betreten, am Ende aber sehen darf. Und in dieser Woche nun die unmittelbare Reaktion Gottes auf die Weigerung des Volks Israel, aus der Wüste herauszutreten und in das versprochene Land einzuziehen. 

Num 14, 11 in dieser Woche und Num 17, 27 in Woche 37 — Gottes Zorn und der Aufschrei der Menschen. Diese beiden Verse sind einander Spiegelbilder: sie bringen die Fassungslosigkeit mit Hinblick auf das Verhalten des jeweils anderen zum Ausdruck.

Nach zwei Jahren Wanderung war das Volk an einem Punkt, von dem aus die Einnahme des Gelobten Landes möglich wäre. Späher werden ausgesandt und zeichnen ein schreckerregendes Bild der militärischen Stärke seiner Bewohner. Was da bevorstand, war keine friedliche Besiedlung, sondern ein brutaler, von beiden Seiten bis zum äußersten geführter Kampf ums Überleben — das Buch Josua, in dem die viel später doch erfolgende Landnahme beschrieben wird, ist wahrhaftig keine Lektüre für Kinder. Mutlosigkeit macht sich breit, keiner will den entscheidenden Schritt tun.

Das Versprechen Gottes soll eingelöst werden und die Kinder Israels schlagen es aus. Gott wird zornig: dies ist der gezogene Vers. Er will sein Volk vernichten und Moses Nachkommen einem neuen Volk Gottes machen. Wie schon einmal auf dem Sinai. Wieder versucht Mose, dies zu verhindern und erinnert Gott an seine Selbstbeschreibung und die darin enthaltene Gnadenzusage (Vers 17-19). Und wieder nimmt Gott Mose Fürbitte an. Er bestimmt, dass die nächste Generation das Land betreten kann, von den jetzt lebenden aber niemand, mit Ausnahme der beiden Späher Josua und Kaleb, die sich dafür einsetzten, Gott zu vertrauen.

Ist das gnädig? Gottes Verfügung ist ein einfaches „Wer nicht will, der hat schon“. Die Israeliten wollen nicht aus der Wüste heraustreten? Dann sollen sie darin bleiben. Ich werde sie weiter ernähren mit Manna und ihnen vorangehen. Aber das Land werden sie nicht einnehmen, wenn sie nicht bereit sind, den Einsatz zu zahlen. Erst ihre Kinder — wenn diese es denn wollen.

Das ist gnädig, was die generationenübergreifende Identität des Volks betrifft, und konsequent zugleich. Die ungeborenen Kinder auszuschließen wäre nicht richtig gewesen, sie hatten keine Möglichkeit zu antworten. Aber für die lebende Generation gab es eine konkrete Verabredung und sie wurde abgesagt. Manche Gelegenheiten kehren nicht wieder. 

Ich denke, darin ist eine Botschaft auch für einzelne Menschen. Unser Leben ist begrenzt. Manche Fragen, Gelegenheiten, Wegscheiden tauchen immer wieder auf, aber für uns Individuen eben nur abzählbar oft — irgendwann ist Schluss, der Tod zieht einen dicken Strich unter die To-do Liste der nicht eingelösten Verabredungen. Das gehört zu den grundlegenden Spielregeln. Hier hört alle Gnade auf, in dieser Welt jedenfalls. Aber unsere Kinder können später wieder an denselben Wegscheiden stehen. 

Nachdem ich diesen Vers gezogen hatte, fragte ich mich, ob es für mich selbst Verabredungen gibt, die ich schleifen lasse, aus Angst oder Bequemlichkeit. Auf eine bin ich tatsächlich gestoßen. Mal sehen, was sich daraus machen lässt. Der Vers der vorletzten Woche, KW 38, handelt ja von einem Versprechen, das erst mit viel langem Atem in neue Realität verwandelt werden kann…

Eine Woche mit Mut für wichtige Verabredungen wünscht uns allen
Ulf von Kalckreuth

Bibelvers der Woche 37/2018

Und die Kinder Israel sprachen zu Mose: Siehe, wir verderben und kommen um; wir werden alle vertilgt und kommen um.
Num 17,27

Hier ist ein Link für den Kontext, zur Übersetzung von 2017. 

Furcht vor Gott

Für diesen Bibelvers gibt es einen engeren Kontext und einen weiteren. Im engeren geht es um den Konflikt zweier rivalisierender Eliten, die das Priestertum und die Führungsrolle unter den Leviten beanspruchen: die Kohaniter und die Korachiter. Die Kohaniter führen sich auf Aaron zurück, den Bruder Mose, und im Jerusalemer Tempeldienst stellen sie die Priesterkaste — andere Leviten durften nur niedere Dienste verrichten. Die Korachiter — „die Rotte Korach“ — tauchen auch später noch als Lyriker und Musiker auf, im Buch der Psalmen werden sie immer wieder genannt. Der Abschnitt erzählt, wie Gott in den Konflikt zwischen den beiden Gruppen in brutaler Weise eingreift und ihn für die Kohaniter entscheidet. 

Von dem Streit wird an einer Stelle berichtet, in der es zu einer Krise im Zusammenleben des in der Wüste wandernden Volks mit ihrem Gott gekommen war. Das ist der weitere Kontext. Die „Langfassung“ des Aufschreis des Volks könnte wie folgt lauten:

„Mose, was sollen wir tun? Die Kundschafter sind aus dem Geloben Land zurückgekommen und hatten schreckliche Neuigkeiten: Das Land starrt vor Waffen und seine Einwohner sind unbesiegbar. Wir können nicht sehenden Auges ins Verderben rennen. Und unser Gott, der uns herausgeführt hat aus Ägypten, sagt uns, dass wir alle, jeder einzelne von uns, verrotten sollen in der Wüste, dass keiner das Land sehen wird, erst unsere Nachkommen sollen dorthin gelangen. Wir wurden furchtbar geschlagen, als wir dennoch den Angriff wagten. Und dann tat sich die Erde auf und verschlang die Korachiter, 150 Mann, unsere Vorbeter, Sänger, und Musiker, sie sind in eine glühende Felsspalte gefallen. Und als wir dann schrieen in Zorn und Angst, brachte Gott die schreckliche Pest über uns, die in Windeseile über vierzehntausend von uns hinwegraffte! Wir sind hier in der Steinwüste,  haben alles verloren, wissen nicht wohin, wir sind verurteilt, hier zu sterben. Mose, Gott tötet uns!!“

Da fällt einem vieles ein. Krieg, Vertreibung, Erdbeben, Krankheit, Tod. Die Zerstörung Lissabons im Jahr 1755 hat unauslöschliche Spuren in der europäischen Geistesgeschichte hinterlassen: es fiel vielen schwer, danach noch an einen gütigen Gott zu glauben. 

Und wie kann man denn angstfrei sein vor Gott? Diese Welt ist sein Werk. Sie ist das Interface, über das er mit uns spricht. Man muss man ihm also all dasjenige zutrauen, was diese Welt an Martern zu bieten hat, und das ist eine ganze Menge. Das Alte Testament ist nicht sparsam darin, Gewaltakte des Höchsten zu beschrieben: die Sintflut, die Zerstörung Sodoms, die schreckliche Bestrafung der Ägypter, der Babylonier, immer wieder auch des eigenen auserwählten Volks, der furchtbare Genozid an den Völkern in Kanaan. Und die in den Prophetien des Alten wie des Neuen Testaments manifestierten Erwartungen übersteigern diese Bilder noch!

Mich überfordert dieser Vers. Luther hat der Frage, wie man einen gnädigen Gott bekommt, sein Leben gewidmet. Ich bin kein Theologe, und hier braucht es mehr als Theologie. Aber ich habe diesen Vers gezogen, also will ich mich stellen!

Die Frage, die der Vers stellt, ist so groß, dass es mehrere Antworten gibt, und vielleicht ist keine davon stets und immer gültig. Die erste Antwort folgt in den darauf folgenden Abschnitten. Der Herr gibt dem Volk über Moses seine Regeln (hier: die des Tempeldiensts), und wer sich daran hält, hat nichts befürchten. Das ist eine (!) klassische Antwort des Judentums. Eine zweite Antwort gibt Psalm 91: „Wenn auch tausend fallen zu deiner Seite / und zehntausend zu deiner Rechten, so wird es doch dich nicht treffen.“ Das Grauen wütet in der Welt, aber es trifft nicht die, die unter Gottes besonderem Schutz, die mit ihm im Bund stehen. Eine dritte Antwort gibt Num 14, wo die Israeliten verurteilt werden, Zeit ihres Lebens in der Wüste zu bleiben. Gott hat sich geäußert, wir kennen ihn, er ist keine blinde Naturgewalt. Im Gespräch mit Gott erinnert Mose ihn daran, wie er selbst sich vorgestellt hat: »Der HERR ist geduldig und von großer Barmherzigkeit und vergibt Missetat und Übertretung« Die Christen können auf Jesus vertrauen, der uns in Gott den gütigen Vater zeigt. Eine vierte Antwort steckt im gezogenen Vers selbst: Ja, so ist es. Das Leben ist Verzweiflung, die Entfernung zu Gott ist nicht zu überbrücken, das Ende ist Dunkelheit und es gibt kein Entrinnen. So sagt es Psalm 88, ein Psalm der Korachiter übrigens, und als Möglichkeit scheint diese Antwort in vielen anderen Stellen der Bibel auf. Diese Antwort ist ernst zu nehmen und wert bedacht zu werden, sie bleibt stets bestehen, und sei es als Referenz.

Eine fünfte Antwort steckt in den Lobpreispsalmen und in Hiob: Die Welt ist, wie sie ist, aber Gott ist so unermesslich groß, dass sie bedeutungslos wird. Liebhaber der Mathematik können an eine Folge denken, die den Nenner gegen unendlich gehen lässt und jeden noch so großen Zähler ins Nichts wirft. In Gottes Größe ist die Welt aufgehoben. Wir verstehen nicht warum, aber in Gott ist die Welt gut. Diese Antwort kenne ich von Juden, es ist aber, so glaube ich, auch die Antwort, die Jesus uns gibt, wenn er im Leiden der Welt auf das Reich Gottes verweist. Das Reich Gottes ist nirgendwo und nirgendwann, es ist in Gott selbst, in dem das Leid der Welt aufgehoben und bedeutungslos ist. Das Reich Gottes anzunehmen, wirft Licht bereits in diese Welt. Eine Christin sagte mir einst, sie denke an Gott, wenn die Sorgen zu groß werden. Das hilft wirklich, und das fast augenblicklich, es hilft immer, wenn ich daran denke, es zu tun!

Ich denke über den Vers und mögliche Antworten nach, während ich schwimme. Es ist ein strahlender Frühherbsttag im Freibad. Ich bin ein guter Schwimmer, eine um die andere Bahn lege ich zurück und denke dabei an Luther, den Tod, der uns alle erwartet, an die Gesetzlichkeit, die Gnade. Mein Kopf ist unter Wasser, ich schaue nach unten, wo auf dem Metall des Beckenbodens die Reflexe der Wellen tanzen und sehe die Blasen aufsteigen, die ich mit meinen Kraulzügen nach unten drücke. Mit jedem vierten Zug drehe ich den ganzen Körper nach rechts, wende mein Gesicht in den blendendblauen Himmel und atme tief. Das Wasser trägt mich und meinen beschädigten Rücken, der Rhythmus, die Kraft und das Licht schaffen eine eigene Welt, der Moment ist unbeschreiblich schön.

Da erkenne ich, dass Angst falsch ist. Obwohl es Gründe genug dafür gibt. Wasser kann tödlich sein — vielleicht nicht im Hausener Freibad, aber an vielen anderen Orten, wo ich schon geschwommen bin. Aber sich zu ängstigen, ist dem Leben nicht dienlich. Beim Schwimmen würde ich sofort den Rhythmus verlieren, und wenn die Angst zu Panik wird, kann ich sogar ertrinken.

Angst ist falsch. Obwohl das Urteil steht. Das Leben reibt unsere Leiber auf, unausweichlich, und auf dieser Welt bleibt uns nichts. Das steht so fest, dass es befreiend wirken mag: wenn es keine Alternative gibt, hat die Angst ihren Hebel, ihren Anspruch verloren! Jetzt, in diesem Moment, trägt mich das Wasser, trägt mich der Herr. Nur das zählt. Vielleicht ist es dies, was Jesus uns mit dem Gleichnis von den Lilien auf dem Feld sagen will.

Was könnte ein Israelit sich damals gedacht haben, wenn er nachts aus dem Zelt blickte, in das Sternenmeer im schwarzen Himmel über der Wüste? Was denken Sie?

Ich wünsche uns eine Woche in Gottes Gnade, 
Ulf von Kalckreuth

Bibelvers der Woche 23/2018

Das ist’s, was der HERR gebietet den Töchtern Zelophehads und spricht: Laß sie freien, wie es ihnen gefällt; allein daß sie freien unter dem Geschlecht des Stammes ihres Vaters,…
Num 36,6

Hier ist ein Link für den Kontext des Verses, zur Lutherbibel 2017.

Kulturelle Evolution in der Eisenzeit

Der Vers steht am Ende des 4. Buchs Mose. Die vereinigten Stämme liegen am Ostufer des Jordan gegenüber der Stadt Jericho, bereit, in das Heilige Land einzufallen. Die Truppen sind gezählt (vgl. den Vers der Woche 18/2018), das noch zu erobernde Land ist zur Hälfte verteilt, Regeln für die Behandlung von Tötungsdelikten sind aufgestellt, sogar Freistädte sind benannt, in welche Totschläger (nicht: Mörder) vor ihren Verfolgern fliehen können… 

Und dann, im letzten Abschnitt des vierten Buchs, gibt es noch recht unspektakuläre Dinge zu regeln. Im gezogenen Vers geht es um die Fortsetzung eines Falles, dessen Studium in Abschnitt 27 begonnen wurde. Dort war vor Mose das Problem gebracht worden, dass ein verdienter Mann namens Zelophehad ohne Söhne gestorben war — was soll nun mit seinem Erbe geschehen? Zwar hatte er keine Söhne, aber vier Töchter. Mose sprach im Namen des Herrn, dass den Töchtern ein eigenständiges Erbrecht zukomme: das Erbe Zelophhad solle also nicht an weiter entfernte männliche Verwandte gehen, was offenbar die relevante Alternative gewesen wäre. 

In Abschnitt 36 nun wird die Fallstudie fortgesetzt: Wenn nun aber die erbberechtigten Töchter Männer aus einem fremden Stamm heiraten, so falle diesen das Erbe zu und der Stamm Manasse verliere Land, argumentieren die Ältesten. Hier gibt es zwei Rechtsprinzipien, die zu achten sind: zum einen soll jedem Stamm auf alle Zeit das seine bleiben — das war durch eine große Zahl von Regeln abgesichert, zu denen auch der Schuldenerlass gehörte, siehe den Vers der Woche 15/2018. Zum anderen ging das Eigentum der Frau in das Erbe ihres Mannes über, auch dies ein nicht verhandelbares Prinzip. 

Mose Antwort im Namen des Herrn ist durchaus jüdisch: die Prinzipen werden geachtet, aber gangbare Wege werden gesucht. Der gezogene Vers enthält die Lösung. Die Töchter haben (offenbar entgegen älterer Auffassungen) ein eigenes Erbrecht. Dann müssen sie auch mit Einschränkungen leben. Sie können frei heiraten, allerdings muß der Erwählte ein Mann aus dem eigenen Stamm sein. So bleibt das Erbe des Stammes erhalten.

In der biblischen Geschichte ist der Text im 13. Jhd. v. Chr. angesiedelt, seine heutige Form hat er spätestens im 6. Jhd. erhalten. Kulturgeschichtlich entstammt er der ausgehenden Eisenzeit. Mir fallen drei Dinge auf. Erstens: Frauen waren mitnichten rechtlos. Oftmals haben im AT die Rechte von Frauen den Charakter von Schutzrechten, wie sie heute dem Bürger gegenüber dem Staat zustehen, nicht jedoch hier. Zweitens: Die in den beiden Abschnitten 27 und 36 gezeigte Rechtsentwicklung mutet verblüffend modern an. Es gab allgemeine Prinzipien. Diese stießen auf konkrete Probleme, in denen sich Widersprüche zeigen. Die aufgefundene Lösung ist dann Synthese und Präzedenzfall, und wird Ausgangspunkt für die Beurteilung der nächsten Probleme etc., ähnlich wie im englischen Recht. Dynamisch und offen — kulturelle Evolution. Drittens: In der Torah, den fünf Büchern Mose, die die Gesetze des Judentums enthalten, geht es nicht nur um Religiöses im heutigen, engeren Sinne. Hier sind unterschiedslos auch Staatsrecht und Zivilrecht Thema, die Schublade „religiös“ scheint nicht zu existieren.

Außer Rechtsetzungen aller Art enthalten Torah und Bibel Ethik, Folklore, Märchen und Legenden, Lieder, Gebete, Geschichtsschreibung, philosophische Diskurse, Propaganda — und immer wieder persönliche und kollektive Begegnung mit Gott. Bei all ihrer normativen Kraft hat sie etwas vertrauenerweckend anarchisches. Kästchendenken ist ihr völlig fremd. Das hält sie lebendig, jung und kraftvoll, wenn die Kästchen um sie herum zusammenbrechen und neue an ihre Stelle treten, die ihrerseits nur von begrenzter Dauer sind… 

Ich wünsche uns eine gesegnete Woche!
Ulf von Kalckreuth

Bibelvers der Woche 18/2018

Jasub, daher das Geschlecht der Jasubiter kommt; Simron, daher das Geschlecht der Simroniter kommt.
Num 26,24

Hier ist ein Link für den Kontext des Verses, zur Lutherbibel 2017.

Dieser Vers ist spröde, wenn er allein steht — so spröde, dass ich der plötzlichen Versuchung nachgab, eine neue Zufallsziehung zu generieren und erst später wieder hineinzuschauen. Aber irgendetwas funktionierte nicht, und als ich nachschaute, war die alte Ziehung noch intakt. Und das ist auch gut so. Zum einen ist es gänzlich gegen die Regeln, einen inkommoden Vers einfach wieder zurückzulegen. Das sollen wir ja mit unserem Leben auch nicht tun. Und zweitens war mir mittlerweile eingefallen, warum der Vers wichtig sein könnte.

Num 26 handelt vom Ende der Wüstenwanderung der Israeliten. Die Stämme haben sich am Ostufer des Jordan versammelt, gegenüber von Jericho, und sind bereit, in das Heilige Land einzufallen. Eine gewaltige Zahl von Menschen: Mose zählt 601.730 Männer über zwanzig Jahren, die Land einnehmen dürfen, zuzüglich 23.000 männliche Angehörige des Stammes Levi, die kein Land bekommen. Dazu kommt eine mindestens ebenso hohe Zahl von Frauen und Mädchen. Die Volkszählung ist der Spiegel jener Zählung, die Mose recht bald nach dem Auszug aus Ägypten gemacht hatte. Weil die Israeliten zum entscheidenden Zeitpunkt mutlos wurden, waren sie dazu bestimmt, vierzig Jahre lang in der Wüste zu wandern, so lange, bis alle ursprünglichen Auswanderer gestorben waren außer zweien, die sich als treu erwiesen hatten,. Und nun war es so weit. Das Volk vergewissert sich seiner selbst — nach Zahl, nach Stämmen, nach Geschlechtern und nach Sippen. Die Geschlechter als Teile der Stämme werden einzeln aufgezählt. 

Und hier liegt eine interessante Botschaft: die hebräische Bibel führt alles — die Menschheit, die Rassen (Sem, Ham, Japhet), Völker (Jakob/Israel, Lot, Jismael, uva.) und Geschlechter jeweils auf Individuen, einzelne Männer und Frauen, zurück. Und große Kollektive werden regelmäßig mit Personennamen benannt. Das hat mit dem modernen Individualismus, für den das Individuum alles ist und das Kollektiv nichts, ebenso wenig zu tun wie mit den modernen kollektivistischen Anschauungen, für die das Gegenteil gilt. Die Idee ist vielmehr, dass das Schicksal von Kollektiven über Individuen vermittelt ist, und zwar über sehr lange Zeiträume hinweg.

Die Stammväter der zwölf Stämme, die nun nach Palästina einfallen, waren vierhundert Jahr vorher dort ausgezogen, in Gestalt von zwölf lebenden Individuen, und die Verdienste und Fehler, die sie mit sich brachten, wirkten fort. Der gezogene Vers steht konkret in einer Reihung, in welcher die Untergruppen des Stammes Issachar aufgezählt werden — wiederum als Söhne je eines bestimmten Mannes.

Sachlich ist das nicht haltbar. Völker bilden sich nicht durch Projektion, durch Hochskalierung einzelner Individuen in die Hundertausende, sondern eher durch Zu- und Abwanderung und Vermischung und Akkulturation. Aber es kann ein starkes Bild sein für die Verantwortung, die wir alle für die Zukunft tragen. Die Zukunft ist durch die Gegenwart vermittelt, ihr Keim sind unsere Handlungen und dasjenige, was wir unseren Kindern weitergeben. Und dies ist eine Kernbotschaft der hebräischen Bibel. 

Ich wünsche uns einen schönen Maifeiertag,
Ulf von Kalckreuth