Bibelvers der Woche 06/2019

Darum hüte dich vor seinem Angesicht und gehorche seiner Stimme und erbittere ihn nicht; denn er wird euer Übertreten nicht vergeben, und mein Name ist in ihm.
Ex 23,21

Hier ist ein Link für den Kontext des Verses, zur Übersetzung von 2017.

Der Weg

Das Volk Israel hat sich auf den Weg ins Gelobte Land gemacht und lagert am Sinai. Dort werden die zehn Gebote verkündet und Mahnungen und Verheißungen ausgesprochen. Der Bundesschluss steht bevor. Hier der unmittelbare Kontext:

Siehe, ich sende einen Engel vor dir her, der dich behüte auf dem Wege und dich bringe an den Ort, den ich bereitet habe. Darum hüte dich vor seinem Angesicht und gehorche seiner Stimme und erbittere ihn nicht; denn er wird euer Übertreten nicht vergeben, und mein Name ist in ihm. Wirst du aber seiner Stimme hören und tun alles, was ich dir sagen werde, so will ich deiner Feinde Feind und deiner Widersacher Widersacher sein.

Über mehrere Jahre besuchten wir regelmäßig einen Kindergottesdienst, wo die größeren Kinder von den kleinen und ganz kleinen mit einem Lied verabschiedet wurden. „Siehe, ich sende einen Engel vor Dir her…“ Ich habe das ab und zu auf der Gitarre begleitet. Das Bild vom Engel als Begleiter unseres Wegs fühlte sich vertraut an und verlieh den Kindern Sicherheit.

Wie man sich denken kann, kam der darauf folgende Vers im Lied nicht vor. In der Bibel haben Engel so gar nichts Kuscheliges an sich: sie sind Diener Gottes, so das hebräische Wort, Werkzeuge seines Willens, seine Stellvertreter, oft genug als furchterregende Kämpfer. Auch hier: das Volk macht sich auf einen Weg, an dessen Ende eine Eroberung stehen soll. Der Engel unseres Verses ist wie Gott selbst. Wie die Israeliten Gott nicht schauen können ohne zu sterben, so sollen sie sich vor dem Antlitz dieses Engels hüten. Er wird sie bewahren und auf dem Weg führen, und sie sollen ihn nicht erbittern, denn er wird Übertretung nicht vergeben —der Name Gottes ist in ihm.

Schutz und Strafe, Fluch und Segen als Seiten derselben Medaille, dieses Motiv zieht sich durch die ganze Bibel. Wird unser Tun von Gott und den höheren Mächten argwöhnisch betrachtet und sanktioniert? Ist es gut, in ständiger Furcht vor Strafe zu leben? Sollen wir das?

Der Vers bietet eine Perspektive. Es geht ganz ausdrücklich um einen Weg, den Gott uns bestimmt hat, mit einem Ziel, das er bereitet hat. Wenn der Weg gut ist, dann ist Abweichen schlecht. In der Wüste ist das evident. Wer vom Weg abweicht, kann umkommen. Im besten Fall wird er das Ziel auf einem anderen, schwierigeren und gefährlicheren Weg erreichen. Das Abweichen vom Weg trägt die Strafe in sich. 

Das schafft die Drohung nicht aus der Welt. Aber ich habe keine Mühe, damit zu leben. Nie und nirgends ist es eine gute Idee, etwas Notwendiges nicht zu tun. 

Ich wünsche uns eine Woche mit dem Engel auf dem Weg,
Ulf Von Kalckreuth

Bibelvers der Woche 05/2019

Und darnach sah ich vier Engel stehen auf den vier Ecken der Erde, die hielten die vier Winde der Erde, auf dass kein Wind über die Erde bliese noch über das Meer noch über irgend einen Baum.
Off 7,1

Hier ist ein Link für den Kontext, zur Übersetzung von 2017.

Vor der Öffnung des siebenten Siegels

Die Offenbarung des Johannes kommt im Religionsunterricht nicht vor und im Gottesdienst auch nicht, abgesehen vielleicht vom letzten Abschnitt, der einen Blick ins Reich Gottes tut, in dem alles Irdische hinter uns liegt. Vor der Heraufkunft des Reichs Gottes stehen in der Johannes-Apokalypse die Geburtswehen, die gleichzeitig der Todeskampf der Alten Welt sind. Die Vorbereitung des Untergangs wird mit der nacheinander erfolgenden Öffnung von sieben Siegeln geschildert. Nach der Öffnung des siebten Siegels wird der Untergang eingeleitet in Stationen, die jeweils durch eine von sieben Posaunen angekündigt wird, von einem Engel geblasen. Der Untergang wird vollzogen durch das Ausgießen von wiederum sieben „Schalen des Zorns“. Drei mal sieben.

Die Johannesapokalypse enthält viele dunkle und auch verstörende Bilder. Der gezogene Vers ist an sich nicht schwer zu lesen. Nach dem Aufbrechen des sechsten Siegels werden diejenigen gekennzeichnet, die bewahrt werden sollen. Die Engel, denen die Kraft zur Vernichtung der Erde gegeben ist, halten inne. 

Für einen Augenblick, vor der Öffnung des siebten Siegels, steht die Welt still, mitten im Sturm.

Nun wird es aber doch rätselhaft. Unter den Stämmen Israels (den Juden also?) gibt es 144.000 solchermaßen Gekennzeichnete, für jeden der namentlich genannten Stämme zwölftausend, siehe Kap 7, 4-8. Daneben gibt es eine unbestimmte Zahl — „eine große Zahl, die niemand zählen konnte, aus allen Nationen und Stämmen und Völkern, und Sprachen“ von Menschen, die „aus großer Trübsal kommen und ihre Kleider rein gemacht haben im Blut des Lammes“. Kap 7, 9-17. Sind dies die Christen aus den Völkern? Zwei Heilswege also: einen für Juden und einen für Christen aus den Völkern? 

Schwer zu sagen. In Kap 14 wird die Zahl der durch das Lamm bezeichneten Menschen ebenso mit 144.000 angegeben wie die Zahl der Geretteten aus dem Volk Israel in Kap 7, 4-8. Sie singen vor dem Thron ein neues Lied, das niemand lernen konnte außer ihnen, „die erkauft sind von der Erde“. Das passt nicht recht zur Unbestimmtheit der Anzahl der geretteten Nachfolger Christi aus den Völkern in Kap 7, 9-17. Sind es dieselben 144.000? Also doch nur ein Heilsweg?

Die Zahlenangaben haben ihre eigene Wirkungsgeschichte. Manche Leser der Apokalypse, namentlich die Zeugen Jehovas, interpretieren sie wörtlich. Sie müssen in meinen Augen symbolisch gelesen werden: zwölf ist die Zahl der Vollkommenheit und zwölf mal zwölftausend ist eine überhöhte, transzendente Vollkommenheit, ein Kontinuum der Vollkommenheit sozusagen. Die Geretteten haben Teil an der Vollkommenheit — mehr zu wissen ist uns nicht gegeben. 

Wie will man den Vers dieser Woche lesen? Erinnerung an das Ende? Nachricht von der Rettung? Die Stille, die vor beidem liegt? Ich wünsche uns eine gute Woche, in der es uns gelingt, ein Apfelbäumchen zu pflanzen…
Ulf von Kalckreuth

Bibelvers der Woche 04/2019

Gelobt sei der HErr; denn er hat erhört die Stimme meines Flehens.
Ps 28,6

Hier ist ein Link für den Kontext, zur Übersetzung von 2017.

Bitten und Danken

Ein schöner Vers! Der Psalmist, David, hat zu Gott gebetet, offenbar in schwerer Auseinandersetzung oder in großer Gefahr — dies ist der erste Teil des Psalms. Der zweite Teil setzt mit dem gezogenen Vers ein: Davids Gebet wurde erhört, er ist gerettet, er findet seine Lebensfreude wieder, ist fröhlich und stimmt den Lobpreis an:

Gelobt sei der HErr; denn er hat erhört die Stimme meines Flehens.
Der HErr ist meine Stärke und mein Schild; auf ihn traut mein Herz und mir ist geholfen. Nun ist mein Herz fröhlich, und ich will ihm danken mit meinem Lied.

Ps 28, 6+7

Der Vers der Woche ist die „Wende“ im Psalm. Wer diesen Vers zieht, kann sich erst einmal fragen, ob er selbst nicht Grund hat, dem Herrn zu danken, oder er kann den Vers als entsprechenden Hinweis betrachten. Er könnte sich gar entschließen, sich und seine Sache als gerettet zu erleben, selbst wenn die Signale aus der Umwelt nicht eindeutig sind. Was dem Betenden Kraft verleiht und den Umschwung bewirkt, ist ja das Vertrauen in den Herrn: „auf ihn traut mein Herz und mir ist geholfen“. 

Schließlich könnte er sich fragen, wie der Dank denn aussehen kann. In einer Reziprozitätsbeziehung ist „Danke!“ ja keine bloße Floskel. Der Dankende bekennt den Wert des Empfangenen und äußert gleichzeitig die Bereitschaft, bei entsprechender Gelegenheit seinerseits zu helfen. Bezogen auf Gott gab es eine festehende Form dafür: das Dankopfer. In diesem Psalm Davids aber tritt an die Stelle des Dankopfers in Vers 7 das Lied. In Psalm 69 singt David, ebenfalls nach schwerer Anfechtung: 

Ich will den Namen Gottes loben mit einem Lied und will ihn hoch ehren mit Dank. 
Das wird dem HERRN besser gefallen als ein Stier, der Hörner und Klauen hat.
Ps 69 32f

Wer dem Herrn danken kann, gar mit einem Lied, nimmt die positiven, manchmal unerwarteten Wendungen in seinem Leben wahr und lässt sie in seine Weltsicht einfließen. Der Dankende betritt seelisch einen neuen Raum und verlässt den Krisenmodus. Wir verkümmern, wenn wir nur klagen und bitten, also im ersten Teil des Psalms stecken bleiben.

Ich wünsche uns eine Woche, in der wir Grund finden, Gott zu danken, und ein Lied dazu.
Ulf von Kalckreuth

Bibelvers der Woche 03/2019

Zu der Zeit war Moses geboren, und war ein feines Kind vor Gott und ward drei Monate ernährt in seines Vaters Hause.
Apg 7,20

Hier ist ein Link für den Kontext, zur Übersetzung von 2017.

Stephanus vor dem Sanhedrin, Beit Gemal, Israel

Stephanus Rede

Ein eigentümliches Dokument: Apg 7 ist eine Zusammenfassung wichtiger Teile der biblischen Geschichte im Neuen Testament, gut und anschaulich geschrieben. Wie kommt es dazu? Stephanus, Judenchrist der ersten Stunde, wortgewaltiger und wundertätiger Missionar, wird in Jerusalem vor dem Hohen Rat der Häresie angeklagt. Auf die Frage des Hohepriesters „Ist das so?“ hält er eine Rede. Mit einer Wiedergabe der biblischen Geschichte bis zu den Propheten legt er dar, dass diese zwar, nach dem Willen Gottes, eine Heilsgeschichte ist, dieses Heil aber von den Erwählten wieder und wieder abgelehnt wird. Und nun sei der Träger des Heils, Jesus nämlich, ermordet und die Wahrheit werde verfolgt. Dies ist sehr genau gezielt — sind es doch die Pharisäer selbst, die die biblische Geschichte als Geschichte des Ungehorsams werten. Die Mitglieder des Hohen Rats geraten außer sich. Stephanus aber sieht, wie der Himmel über ihm sich öffnet und bekennt Jesus Christus. Er wird gesteinigt. Ein junger Mann, ein gewisser Saulus, beobachtet interessiert die Hinrichtung.

Der gezogene Vers führt den zentralen Heilsträger der jüdischen Geschichte, Moses, in Stephanus Erzählung ein. Stephanus tut das sehr knapp: Moses war ein „feines Kind“ vor Gott und blieb bei seinen Eltern drei Monate; er war also von Gott erwählt und ein echter Sohn seines Volks, nicht etwa ein Ägypter, wie man seines Namens und der Erziehung am Hof des Pharao wegen hätte meinen können.

Am Freitag bin ich Stephanus begegnet. Meine Tochter Mathilde und ich sind von einem israelischen Freund auf eine kleine Tour durch das Gebirge östlich von Beit Schemesch genommen worden. Einer der Orte, die wir sahen, war Beit Gemal. Dort steht heute ein italienisches Salesianerkloster an der Stelle, wo nach jüdischer und christlicher Tradition bereits im fünften Jahrhundert das Grab von Stephanus, Nikodemus und Gamaliel vermutet wurde. Gamaliel war gemäßigter Pharisäer, Gelehrter, Mitglied des Sanhedrin, Lehrer des Paulus und Mann des Ausgleichs (siehe Apg 5). Nikodemus, ebenfalls Pharisäer und Mitglied des Hohen Rats, wird im Johnannesevangelium mal als versteckter, mal als offener Sympathisant Jesu beschrieben. Hier und oben sind Bilder von Fresken, die Stephanus’ Befragung vor dem Hohen Rat und die nachfolgende Steinigung zeigen.

Stephans wird gesteinigt, Beit Gemal, Israel.

Den Vers dieser Woche hatte ich versehentlich schon vor dem Jahreswechsel gezogen und dann aufgehoben für eine Gelegenheit, bei der ich keine reguläre Ziehung vornehmen konnte. Dies war in der vergangenen Woche der Fall. Umso erstaunlicher für mich die unvermittelte Begegnung mit dem Heiligen und den beiden Pharisäern, die nicht in die Schublade passen — mein Freund hatte mir nicht erzählt, was es mit dem Ort auf sich hatte, und er wusste seinerseits nichts vom Bibelvers der Woche.

Ich schreibe diese Zeilen im Flugzeug von Jerusalem nach Frankfurt. Das Flugzeug setzt zur Landung an. Was tun mit diesem schönen Vers? Moses war ein feines Kind vor Gott — „Dieser ist’s, der in der Gemeinde in der Wüste stand zwischen dem Engel, der mit ihm redete auf dem Berg Sinai, und unseren Vätern. Er empfing Worte des Lebens, um sie an uns weiterzugeben“ sagt Stephanus (Apg 7,38f). Ohne Moses sind Stephanus, Gamaliel, Paulus und Jesus selbst nicht denkbar. Stephanus weiß das sehr gut, kurz vor seinem Tod. Als Geschenk habe ich von dem Salesianerkloster eine Bibel in hebräischer Sprache mitgenommen, Altes und Neues Testament in einem Band… 

Ich wünsche uns allen eine gute Woche,
Ulf von Kalckreuth

Bibelvers der Woche 02/2019

Also regierte David über das ganze Israel und handhabte Gericht und Gerechtigkeit allem seinem Volk
1.Ch 18,14

Hier ist ein Link für den Kontext, in der Übersetzung von 2017.

Der Höhepunkt

Diesen Bibelvers der Woche verschicke ich aus Jerusalem, der Stadt, die David groß gemacht hat, in den beiden Bedeutungen, die dieser Satz haben kann. Überall hier stößt man hier auf den Namen dieses sagenhaften Königs, der das Nordreich und das Südreich in Personalunion beherrscht hat und die Grenzen des von Israeliten beherrschten Gebiets in alle Richtungen erweitert hat — „du stellst meine Füße auf weiten Raum…“ Eine kurze Zeit lang sind die Gegensätze und die Gefahren, von denen das Leben der Israeliten bestimmt wird, aufgehoben und unbedeutend geworden. David schafft die Voraussetzungen für den Bau des Tempels, die physische Manifestation der Einheit von Volk, Gott und politischer Herrschaft. 

Diese Zeit stellt für die jüdische Religion und für das Judentum als kulturelle Entität einen Fixpunkt dar, aus dem heraus sich das Vorher und das Nachher interpretieren lassen. Ein Fixpunkt, der in der Vergangenheit liegt. Ein anderer  Fixpunkt liegt in der Zukunft — die Herabkunft des Messias und das Gottesreich, das er aufrichten soll. Diese beiden Fixpunkte haben große strukturelle Ähnlichkeit: Für viele Juden ist David und seine Herrschaft Modell und Vorläufer für die messianische Zeit. 

Der Text um den Vers herum macht alles klar, alles sicher, alles unerschütterlich. Die Geschichte könnte hier ein Ende finden. Das tut sie nicht — ideelle Fixpunkte stehen fest nur als Konzepte; was immer der Zeit unterliegt, ist endlich. Vom ausgedehnten Großreich Davids und Salomos wurde bislang keinerlei außerbiblische historische oder archäologische Evidenz gefunden. David als historische Person muss man sich vielleicht eher als Fürsten von Juda vorstellen. Das Großreich wäre nicht in der Zeit verschwunden, sondern nie dagewesen. Aber ändert das etwas an der Bedeutung, die dieses Reich als ideeller Fixpunkt hat? 

Zeit und Ewigkeit—man ist gewohnt, sich Ewigkeit als Fortführung der Zeit ad infinitum vorzustellen. Aber vielleicht ist es stattdessen ein Gegensatzpaar? Sich ergänzend?

Wir können gelassener sein, wenn wir unsere Fixpunkte kennen und — in unserer Zeit — mit ihnen leben lernen.
Ulf von Kalckreuth

Bibelvers der Woche 01/2019

Schlangen vertreiben; und so sie etwas Tödliches trinken, wird’s ihnen nicht schaden; auf die Kranken werden sie die Hände legen, so wird es besser mit ihnen werden.
Mk 16,18

Hier ist ein Link für den Kontext, zur Übersetzung von 2017.

Letzte Worte

Weil sich um ein Satzfragment handelt, hier der ganze Satz, in der Übersetzung von 2017:

Die Zeichen aber, die folgen werden denen, die da glauben, sind diese: In meinem Namen werden sie Dämonen austreiben, in neuen Zungen reden, Schlangen mit den Händen hochheben, und wenn sie etwas Tödliches trinken, wird’s ihnen nicht schaden; Kranken werden sie die Hände auflegen, so wird’s gut mit ihnen. (Mk 16, 17+18)

Unser Vers steht ganz am Ende des wahrscheinlich ältesten Evangeliums. Markus berichtet knapp und präzise, Ausschmückungen sind ihm fremd. Bei ihm gibt es keine Geburtsgeschichte — der Bericht setzt ein, als Jesus bereits ein erwachsener Mann ist und am Ufer des Jordan seine Taufe von Johannes empfängt. Auch das Ende — Auferstehung und Himmelfahrt — wird ausgesprochen lakonisch erzählt, in nur 20 Versen, von denen allein die Hälfte auf die Szene vor dem leeren Grab verwendet wird. Der Auferstandene erscheint erst Maria Magdalena, dann zwei anderen, ungenannten Jüngern. Als die Berichte dieser drei bei den anderen nur auf Unglauben stoßen, zeigt er sich den versammelten elf Jüngern und schilt sie wegen ihres Unglaubens. Spätestens daran werden sie ihn erkannt haben… Es folgt die Aussendung, und dann der Vers oben. Er enthält nichts weniger als die letzten Worte Jesu — eine Woche nach Weihnachten.

Ein unerwartetes, abruptes Ende. Es ist ein Nachlass. Jesus Wundertätigkeit ist so charakteristisch für ihn wie kaum etwas anderes, und auf die glaubenden Nachfolger gehen diese Kräfte über. Jesus zählt auf, worauf sich die Jünger einstellen können — fünf „Zeichen“, im gezogenen Vers sind drei davon genannt: Der Glaubende vermag Schlangen mit den Händen hochzuheben, Gift kann ihm nichts anhaben und er kann durch Handauflegen Kranke heilen.

Beim ersten Lesen erinnert die Liste frappierend an weißmagische Praktiken. Manche der Handlungen bergen für den Ausführenden große Gefahr. Soll man diese Verse wörtlich lesen? Im Altertum war das Leeren eines Giftbechers gebräuchliche Hinrichtungsart. Paulus, dem es — auch nach eigenem Bekunden — nicht an Glauben mangelte, war durchaus überzeugt, dass seine Hinrichtung tödlich für ihn enden würde (siehe den BdW 2018/49). Aber er hat sich davon nicht schrecken lassen, nicht in der Missionstätigkeit vor seiner Verhaftung und auch nicht, als sein Leben tatsächlich zu Ende ging. Die Todesdrohung konnte ihm in der Tat nichts anhaben. 

Schlangen stehen in der Bibel für vieles: Streit und Sünde, aber auch Macht, Klugheit und sogar Weisheit und ewiges Leben, weil sie sich immer wieder häuten. Denkt man in erster Linie an Gift und Hader zwischen Menschen, so wäre es eine wunderbare, Gemeinschaft schaffende und erhaltende Gabe, Schlangen mit der Hand aufheben zu können. 

Jesu Reihung läse sich dann wie eine Assoziationskette: Das Austreiben von Dämonen geschieht im Neuen Testament durch intensive Ansprache dieser fremdartigen Wesen. Dazu gesellt sich unmittelbar die Rede in „neuen Zunge“. Wenn die Schlangen für Hass und Hader stehen, die der Glaubende aus dem System „herausnehmen“ kann, wäre das die natürliche Fortsetzung. Von der Schlange dann zum Gift, das dem Glaubenden nicht schaden kann, und vom Gift zum Kranken, zu einem anderen Menschen also, dessen Heilung der Glaubende mit einer Berührung seiner Hand (wieder der Hand) befördern kann. Vielleicht lässt sich die Kette nach diesem Muster auch fortsetzen, wie eine Zahlenreihe, so dass sie nacheinander alle wichtigen Aspekte des Lebens berührt. Die eigentliche Bedeutung der Aufzählung, ihr mathematischer „Grenzwert“, wäre dann: „Wenn ihr glaubt, vermögt ihr alles, worum ihr bittet.“ In dieser Form ist die Zusage an mehreren anderen Stellen des NT belegt, z.B. Mar 9:23, Mar 11:23, Luk 17:6, Mat 17:20.

Die drei im gezogenen Vers genannten übernatürlichen Kräfte, die Jesus den Glaubenden vermacht, sind die Fähigkeit zu heilen, die Fähigkeit, Streit aufzulösen und Frieden zu stiften und ein unbedingtes, lebensspendendes und lebenserhaltendes Vertrauen. Vielleicht sollten wir diese Kräfte im neuen Jahr einmal auf die Probe stellen. Wenn wir sie nur ein oder zweimal wirken lassen, können wir, mit Gottes Hilfe, ein oder zwei verfahrene, verzweifelte Situationen drehen.
Ulf von Kalckreuth

Bibelvers der Woche 52/2018

Wer ist unter euch, der den HErrn fürchtet, der seines Knechtes Stimme gehorche? Der im Finstern wandelt und scheint ihm kein Licht, der hoffe auf den HErrn und verlasse sich auf seinen Gott.
Jes 50,10

Hier ist ein Link für den Kontext, zur Übersetzung von 2017:

Wenn es am dunkelsten ist

Es gibt Grund, dies zu betonen: Dieser Vers für die letzte Woche des Jahres ist zufällig gezogen, und zwar vor exakt einer Woche, am 14.12. Der Vers enthält die Essenz der Erlösungshoffnung und des Weihnachtsfests — und in dem Kontext des Buchs Jesaja, in dem er steht, konstituiert er beides geradezu. 

Matthäus erzählt die Geschichte von den drei Weisen, die dem Stern folgen, das Kind suchen und finden. Lukas berichtet von der Geburt im Stall. Aber die Vorstellung, der Erlöser komme in dunkelster Nacht, komme in Kindsgestalt, ist viel älter, sie geht auf die Propheten zurück, vor allem auf Jesaja: siehe Jes 9,1ff und Jes 7,14ff. Matthäus bezieht sich direkt auf diese Bilder, mit denen er selbst aufgewachsen ist. In die Katastrophe hinein, in die tiefe Demütigung, wird ein Reis gepflanzt, aus dem Erlösung erwächst. Man kann sagen, dass Jesaja das Weihnachtsfest erfunden – oder gefunden – hat, viele Jahrhunderte vor Christi Geburt. 

Den zweiten Teil des Jesajabuchs, Jes 40-66, schreibt man heute einem anderen, späteren Autor zu als den ersten. Der „zweite“ Jesaja hat das Ende des Südreichs und die Verbannung nach Babylonien selbst erlebt. Der Text rund um den gezogenen Vers, das „Trostbuch von der Erlösung Israels“, ist daher tatsächlich in tiefster Nacht geschrieben, in einem Biotop der Hoffnungslosigkeit:

Der im Finstern wandelt und scheint ihm kein Licht, der hoffe auf den HErrn und verlasse sich auf seinen Gott. 

Wir feiern Weihnachten, wenn es am dunkelsten ist. Wann auch sonst? Weihnachten ist nicht die Erfüllung, wie Kinder glauben, sondern die Hoffnung. Kein erwachsener Messias kommt da, sondern ein Säugling aus Fleisch und Blut. Konkretisierte Hoffnung, die Gestalt angenommen hat, ein festes Versprechen, der Nacht zum Trotze — „O komm, o komm, du Morgenstern“. 

Heute ist der dunkelste Tag des Jahres, und ich wünsche uns allen ein gesegnetes Weihnachtsfest, mit einem Licht im Herzen. 
Ulf von Kalckreuth 

Bibelvers der Woche 51/2018

Und der HErr redete mit Mose und sprach: …
Num 5,1

Hier ist ein Link für den Kontext, zur Übersetzung von 2017.

Der Herr spricht

Der Vers spielt mit Sprache, und dies auf mehreren Ebenen. Formal ist der Satz eine Einleitung, und man mag als erstes betrachten wollen, was denn der Herr zu Mose sagt. Es ist eine zwar traurige, aber vernünftige Regel, die hier aufgestellt wird: alle Israeliten, die an Lepra oder anderen schweren ansteckenden Krankheiten litten, sollten außerhalb des Lagers leben. Quarantäne ist noch heute medizinisch angezeigt, wenn es keine Behandlungsmöglichkeit gibt. 

Aber da ist noch etwas anderes. Man kennt den Satz nämlich, auch wenn man nicht oft in die Bibel schaut. Moses Leben erstreckt sich über die Bücher Exodus, Leviticus, Numeri und Deuteronomium. Ich habe den Computer zählen lassen: die Zeichenfolge „Und der HErr redete mit Mose“ kommt in diesen Büchern nicht weniger als 87 mal vor. Die vier Bücher gemeinsam haben 4319 Verse. Der Halbsatz hat also einen Anteil von fast exakt 2% an den Versen dieser Bücher! Das ist massiv. Als Variante kommt hinzu der erste Vers des Buchs Leviticus: „Und der Herr rief Mose und sprach: „

Irgendwann mussten wir den Satz also ziehen… Liest man ihn für sich selbst, so kann er drei Bedeutungen haben, je nachdem, wie man betont: 

1) Und der Herr redete mit Mose und sprach — was nun kommt, ist nicht von Mose oder einem Priesterangeordnet, sondern von Gott.

2) Und der Herr redete mit Mose und sprach: Gott richtet sein Wort an die Menschen.

3) Und der Herr redete mit Mose und sprach — nicht mit irgendeinem Menschen spricht er, sondern mit Mose, dem berufenen Vertreter.

Alle drei Bedeutungen sind präsent in dieser Phrase, die wie ein Mantra wiederholt wird. Aber die zweite ist herausgehoben: Dem Verb kommt in der hebräischen Sprache eine überragende Stellung zu. Es ist der Ausgangspunkt jeder Bedeutung, jeder sprachlichen Äußerung. Im Vers, wie im klassischen Hebräisch üblich, steht das Verb am Anfang des Satzes, und Subjekt und Objekt sind Attribute des Verbs. Die meisten Nomina und Adjektive im Hebräischen sind direkt von Verbstämmen abgeleitet. Der hebräische Name Gottes selbst ist formal ein Verb, in der 3. Person Einzahl männlich im Imperfekt. 

Gott redet und spricht, er richtet sein Wort an die Menschen, sein Wort, das die Welt erschaffen hat. Dass er dies tut, unterscheidet ihn vom „Gott der Philosophen“. Darin, dass wir miteinander sprechen und mit Gott, sind wir Gott gleich. Mit Worten können wir heilen und bauen, mit Worten zerstören und niederreißen. Und mit seinem Wort „baut “Gott sein Volk in der Wüste. 

Ich wünsche uns eine Woche, in der Gott sein Wort an uns richtet —in welcher Form auch immer,
Ulf von Kalckreuth

Bibelvers der Woche 50/2018

… Jereon, Migdal-El, Horem, Beth-Anath, Beth-Semes. Neunzehn Städte und ihre Dörfer.
Jos 19,38

Hier ist ein Link für den Kontext, zur Übersetzung von 2017.

Die Sieger

Der gezogene Vers ist ein Satzfragment, daher erst einmal hier der unmittelbare Zusammenhang:

Und feste Städte sind: Ziddim, Zer, Hammat, Rakkat, Kinneret, Adama, Rama, Hazor, Kedesch, Edreï, En-Hazor, Jiron, Migdal-El, Horem, Bet-Anat, Bet-Schemesch. Neunzehn Städte mit ihren Gehöften. Das ist das Erbteil des Stammes Naftali nach seinen Geschlechtern, die Städte mit ihren Gehöften. (Jos 19,35-39)

Josua hat den Eroberungskrieg im Heiligen Land strategisch gewonnen, mit entscheidenden Siegen im Süden und im Norden. Doch die Eroberungen sind nicht abgeschlossen, und besiedelt ist das Land weiterhin von Kanaanäern. Dennoch bekommt Josua, der nun schon sehr alt ist, vom Herrn den Auftrag, die Verteilung des Landes vorzunehmen. Nachdem die beiden Schwergewichte — Juda und die beiden Josefsstämme — ihre Siedlungsräume erhalten haben, geht Josua wie folgt vor: der Zuschnitt des Landes für die verbleibenden Stämme wird im Konsens festgelegt, erst danach wird das Los geworfen. Das erinnert an die Technik, wie sie von Gefangenen bei der Teilung von Brot genutzt wird: der eine teilt, der andere wählt aus. 

Der Vers ist Teil der Beschreibung des Landes, das an den Stamm Naftali geht. Es ist eine schöne Gegend, ich war einmal da. Sie liegt im Norden Israels, umfasst den ganzen See Genezareth und zieht sich hoch bis unterhalb des Hermon.

Die Enumeration im Vers hat etwas Endgültiges, fast Überzeitliches. Aber das ist Illusion. Einerseits gehörte das Land zum Zeitpunkt der Aufteilung noch den Kanaanäern, und auch später bleiben die ursprünglichen Bewohner in einigen der im gezogenen Vers genannten Städte, siehe Ri 1,33. Andererseits gab es den Stamm Naftali schon gar nicht mehr, als das Buch Richter kompiliert wurde: sein Gebiet war mit dem ganzen Nordreich an die Assyrer gefallen, und diese hatten andere Ethnien angesiedelt. Und noch einmal zweitausendsiebenhundert Jahre später ist das Gebiet weitgehend israelisch, viele der früheren Bewohner haben es verlassen müssen… 

Bei meinem ersten Versuch, die Bibel ganz zu lesen, war ich etwa 15 Jahre alt, und ich habe ihn mitten im Buch Josua abgebrochen, vielleicht nicht weit entfernt vom Bibelvers dieser Woche. Es war einfach unerträglich. Historisch hat sich die Landnahme der Israeliten sicher nicht in der genozidalen Weise abgespielt, wie sie dort geschildert wird — die Archäologen finden keinen großflächigen Abbruch und Umbruch von Siedlungsstrukturen in jener Zeit, es sieht eher nach überwiegend friedlicher Durchmischung und Durchdringung aus. Zum guten Teil sind die Israeliten dann vielleicht Nachkommen von Gruppen, die „schon immer“ dort wohnten. Das Buch Josua verfolgt jedoch ein theologisches und gesellschaftlichen Erklärungsziel: Gott ist mit dem Volk, wenn es die Treue wahrt, er wird sich gegen das Volk stellen, wenn es ihn verläßt. Reinheit in der Entscheidung ist gefordert. Das ist Deuteronomium: Fluch und Segen in 5. Mose 28 und 30. Da gibt es eine Entsprechung und eine implizite Warnung an den Leser: So brutal die Einsetzung in das Erbe erfolgt, so brutal kann das Ende sein. 

Aber die Zuschreibung des Landes als Erbe an Naftali erinnert noch an etwas anderes. Die Orte haben bereits Namen, sie stammen aus der Zeit vor der Landnahme. Wir alle bewohnen Land, leben in Verhältnissen, die früher anderen gehörten oder heute anderen gehören könnten. Wir alle sind Kinder von Siegern, in einem ganz kreatürlichen Sinne: wir sind das letzte Glied einer schier endlosen Kette menschlicher und nichtmenschlicher Wesen, deren jedes sich fortpflanzen und das Überleben des Nachwuchses sicherstellen konnte. Zu jedem Zeitpunkt ist das vielen anderen nicht gelungen. Oftmals waren die Sieger, unsere Vorfahren, vielleicht nur genügsamer als die Verlierer, oder jene hatten einfach Pech. Oftmals aber haben die Sieger zum dem Ausgang aktiv das ihre beigetragen, in mancherlei Form. So war es immer, so wird es auch in tausend Jahren sein, in einer Welt, in der unsere Nachkommen vielleicht noch leben, vielleicht aber auch nicht. 

Wie fühlt man sich als Sieger? Ist denn der Herr mit den Siegern, oder siegt der, mit dem der Herr ist? Kain hat seinen Bruder Abel erschlagen, aber dennoch, trotz dieses ungeheuren Verbrechens steht er unter dem Schutz des Herrn, als derjenige, der die Fackel weiterträgt.  

Wenn es eine Erbsünde gibt, dann ist sie, so glaube ich, hier zu suchen. Unsere Existenz und die Voraussetzungen für unsere Existenz haben unendlich viel anderes weggedrängt, unmöglich gemacht in Zeit und Raum. Das ist unserem Leben eingeschrieben, unauslöschlich. Es wäre schön, wenn wir mit ebendiesem Leben dem Debit irgendwie gerecht werden könnten. 

Ich wünsche uns eine Woche, in der wir ein wenig dazu beitragen können, dass etwas gelingt, das es sonst nicht gegeben hätte. Vielleicht ist das die Antwort…
Ulf von Kalckreuth

Bibelvers der Woche 49/2018

Der Herr aber stand mir bei und stärkte mich, auf daß durch mich die Predigt bestätigt würde und alle Heiden sie hörten; und ich ward erlöst von des Löwen Rachen.
2 Ti 4,17

Hier ist ein Link für den Kontext, zur Übersetzung von 2017.

In des Löwen Rachen

Der 2. Timotheusbrief ist ein anrührendes und ausgesprochen persönliches Schreiben. Paulus sieht sich am Ende seines Lebens und schreibt seinem vertrauten Jünger und Freund Timotheus, den er einst selbst getauft und sogar beschnitten (!) hat (Apg 16). Der Brief ist gleichzeitig Testament und dringende Bitte um Beistand. 

Von Theologen wird die Echtheit der beiden Briefe an Timotheus in Frage gestellt. Der Duktus weiche von dem der anerkannt echten Briefe ab, so heißt es, und die darin aufscheinenden Gemeindestrukturen gehörten einer späteren Zeit an. 

Diese Argumente kann ich selbst nicht beurteilen. Beim 2. Timotheusbrief würde es sich in diesem Fall aber nicht um eine „normale“ pseudepigraphische Schrift handeln, in der jemand offen und mit Wissen des intendierten Lesers den Namen einer anerkannten Autorität benutzt, um den geistigen Hintergrund eines Schreibens zu bezeichnen; der Brief wäre vielmehr eine gezielte Fälschung. Der Schreiber hätte dann nämlich alles nur Erdenkliche getan, um durch viele Einzelheiten und persönliche Anspielungen den Eindruck zu erwecken, Paulus sei tatsächlich der Verfasser. Wir wären in der Sphäre des Bibelkrimis. Als Fälscher — cui bono — käme in erster Linie Timotheus selbst in Frage, oder jemand, dem die Autorität von Timotheus wichtig war.

Ich kann konzeptionell nur schwer damit umgehen, dass der Vers der Woche „in Wahrheit“ eine Fälschung ist. Aber ich glaube es auch gar nicht. Wenn Theologen unserer Zeit diese Schrift durch bloße Betrachtung als Fälschung entlarven könnten, dann wäre dies den Zeitgenossen mit ihrem größeren kontextuellen Wissen noch viel leichter gefallen. Und mit seinen vielen Invektiven gegen namentlich genannte Personen gibt der Brief ja durchaus persönlichen Anlass für kritische Betrachtungen.

Paulus ist in Rom. Die erste Gefangenschaft dort und die Verhöre, an die er im Vers zurückdenkt, waren glimpflich ausgegangen, sie mündeten in einen Hausarrest und er konnte sich in Rom recht frei bewegen und kommunizieren. Nun ist er wieder eingekerkert, vermutlich im Zuge der Christenverfolgung unter Nero, und diesmal ist alles ganz anders. An seinem bevorstehenden Tod hat er keinen Zweifel. Er ist schwach und friert, er bittet Timotheus um den Mantel, den er in Troas zurückgelassen hat (siehe den Vers 30/2018).

In den letzten Zeilen des Briefs fühlt Paulus sich alleingelassen und zählt namentlich diejenigen auf, die ihn im Stich gelassen haben. Auf der Suche nach Trost, weit entfernt vom inneren Gleichgewicht, denkt er zurück an die Verhöre seiner ersten Gefangenschaft und jetzt wird er sehr jüdisch: er gerät in eine alte Fahrrinne, die über viele Jahrhunderte vorgezeichnet ist, allgegenwärtig in den Psalmen und auch bei den Propheten. Völlig allein ist er und die Feinde umringen ihn, der Rachen des Löwen ist aufgesperrt – im Wortsinn. Aber der Herr steht ihm bei, rettet ihn und der Betende verkündet öffentlich den Namen des Herrn und sein Wort. Eine genaue Parallele ist Psalm 22, 12‑24, aber auch Psalm 35, 17f passt gut. Daniel in der Löwengrube (KW 35) und die drei Freunde im Feuerofen (KW 31) folgen demselben Muster, auch das uralte Miriamslied, der Kern der Exoduserzählung.

Vielleicht sind dies die letzten schriftlichen Worte des Völkerapostels. Wer könnte ein solches Ende fälschen? Und wenn es so wäre, so enthielten sie doch eine Wahrheit jenseits der Wahrheit.

Der Herr stehe uns bei, wenn die Nöte uns umringen, in dieser Woche und immer. 
Ulf von Kalckreuth