Bibelvers der Woche 27/2023

Da sprach er zu Abram: Das sollst du wissen, dass dein Same wird fremd sein in einem Lande, das nicht sein ist; und da wird man sie zu dienen zwingen und plagen vierhundert Jahr.
Gen 15,13

Hier ist ein Link für den Kontext des Verses, zur Lutherbibel 1984.

Die ganz lange Frist…!

Der Vers dieser Woche ist in gewisser Weise das Gegenstück zu dem der vergangenen Woche. Dort wurde das große Versprechen zurückgenommen — endgültig, wie es schien. Hier hingegen wird das Versprechen gegeben: Abraham soll Stammvater eines großen Volks sein, mit dem Heiligen Land als Heimstatt. Gott und Abraham schließen einen Bund, eine Art Schutz- und Lehensverhältnis. Besiegelt wird der Bund mit einem Opfer, das eindrucksvoll beschrieben wird. 

Es gibt jedoch ein großes „Aber“. Während des Opfers fällt Abraham in einen tiefen Schlaf und wird von Angstgesichten gepeinigt. Die Heimstatt gibt es für seine Nachkommen nicht gleich, so hört er, auch nicht in absehbarer Zeit, sondern erst nach vierhundert Jahren Frondienst in Ägypten, wo sie als heimatlose Fremdlinge leben werden. 

Vielleicht war diese Einschränkung in der ersten Fassung des Texts nicht enthalten, denn sie bricht die Geschlossenheit der Bundes- und Opferszene. Aber sie zeigt etwas Wichtiges. Abraham glaubt der Verheissung und richtet sein Leben danach aus — und er stört sich nicht daran, dass sie erst nach mehr als vierhundert Jahren eintrifft! Da ist mehr als Glaube im Spiel. Abraham hat ein anderes Zeitempfinden als wir.

Vierhundert Jahre Sklaverei, was für eine Verheissung ist das denn? Für uns wäre an dieser Stelle wohl Schluß gewesen. Wenn es die Welt, wie wir sie kennen, in vierhundert Jahren noch geben soll, müssten wir jetzt auf Urlaubsflüge, Benzinmotoren und Gasheizungen zu verzichten. Die Industrie müsste Vergleichbares tun, und die Waren, die wir kaufen vom Lohn unserer Arbeit, wären deutlich teurer. Eigentlich ist das unstrittig, aber dennoch: damit etwas geschieht, brauchen wir Tornados, Hitzewellen und Dürre JETZT. Sonst geht es leider nicht. Vierhundert Jahre sind ausserhalb unseres „scope“, wie es heute heisst. Selbst wenn es um die ganze Welt geht. 

Nicht für Abraham. Mit vollem Recht ist er daher Stammvater der Juden und der Araber und — im geistlichen Sinne — der Christen.

Und uns allen wünsche ich eine gesegnete Woche,
Ulf von Kalckreuth

Bibelvers der Woche 26/2023

Es lagen in den Gassen auf der Erde Knaben und Alte; meine Jungfrauen und Jünglinge sind durchs Schwert gefallen. Du hast erwürgt am Tage deines Zorns; du hast ohne Barmherzigkeit geschlachtet.
Klgl 2,21

Hier ist ein Link für den Kontext des Verses, zur Lutherbibel 1984.

Unbedingte Trauer

In dieser Woche beginnt die zweite Hälfte des Jahres, die Sommersonnenwende liegt hinter uns. Ich feiere meinen sechzigsten Geburtstag. Da wäre ein Vers schön, der hilft, mit einem guten Gefühl nach vorn zu blicken. 

Diesen Wunsch kann und will unser Bibelvers, das zweite Klagelied und das Buch der Klagelieder insgesamt nicht erfüllen. Reflexartig suchen wir in der Bibel nach der Frohen Botschaft — hier ist sie nicht. Das Buch besteht aus fünf psalmartige Gedichte, bei denen absolute Trauer im Vordergrund steht, im wesentlichen hoffnungslose Trauer.

Die fünf Lieder handeln von der Vernichtung Jerusalems durch die Babylonier. Das erste ist aus der Sicht eines repräsentativen Einwohners geschrieben. Im zweiten Lied erhebt die Stadt Jerusalem selbst ihre Stimme zu Klage und Anklage, wie ein Mensch. Die Bilder sind grausam — Mütter essen ihre eigenen Kinder, um nicht zu verhungern. Gott ist in diesem Lied zum Mörder und Feind seines Volks geworden und wird ausdrücklich so bezeichnet. Ganz wie das Hohelied singen die Klagelieder von Gott und seinem Volk — statt vom Vollzug einer mystischen Einheit aber geht es um ihr Ende, um finale Zerrüttung. Beachtlich, dass dieser Text im Kanon der Bibel seinen Platz gefunden und behalten hat. 

Alles hat seine Zeit — auch die Trauer hat ihre Zeit und der Trost. Das heisst auch, dass man beides nicht immer vermischen soll. Erst das fünfte Lied vollzieht den Perspektivwechsel. Es ist geschrieben aus der Sicht des Exils und kulminiert in einer Bitte, die im Judentum große Bedeutung hat:

Bringe uns, HErr, zu dir zurück, dass wir wieder heimkommen; erneuere unsere Tage wie von alters. (Klgl 5,21) 

Wer bittet, hat eine lebendige Beziehung und ist nicht hoffnungslos. Ich wünsche uns allen eine gesegnete Woche und eine zweite Jahreshälfte in Gottes Gnade,
Ulf von Kalckreuth

Bibelvers der Woche 25/2023

Sie aber sprachen: Geh hinweg! und sprachen auch: Du bist der einzige Fremdling hier und willst regieren? Wohlan, wir wollen dich übler plagen denn jene. Und sie drangen hart auf den Mann Lot. Und da sie hinzuliefen und wollten die Tür aufbrechen,…
Gen 19,9

Hier ist ein Link für den Kontext des Verses, zur Lutherbibel 1984.

Gut und Böse — und jenseits davon

… griffen die Männer hinaus und zogen Lot hinein zu sich ins Haus und schlossen die Tür zu. Und die Männer vor der Tür am Hause wurden mit Blindheit geschlagen, klein und groß, bis sie müde wurden und die Tür nicht finden konnten.

So geht der angefangene Satz zu Ende. Die Lage ist hochdramatisch. Zwei Engel Gottes kommen nach Sodom, um zu schauen, ob es nicht doch Gerechte gibt in der Stadt, die der Herr zu vernichten gedenkt. Lot, der Neffe Abrahams, lädt die Engel in sein Haus — ohne zu wissen, wen er da beherbergt –, und ALLE Einwohner Sodoms, ohne Ausnahme, kommen, und umringen das Haus. Sie verlangen von Lot die Herausgabe der beiden Gäste, um sie sexuell mißbrauchen zu können. Das verstößt gleichzeitig gegen das Gastrecht und gegen sexuellen Normen zu Homosexualität und Vergewaltigung und verletzt obendrein die Heiligkeit der Boten Gottes. Die Wahrheit, die abgrundtief böse Haltung der Bewohner, liegt glasklar offen. Die Engel brauchen nicht weiter nach Gerechten zu suchen. Sie können zur Tat schreiten: die Rettung Lots und seiner Familie und die Vernichtung der Stadt. 

Ich habe zu den Versen dieses Abschnittes bei früherer Gelegenheit schon geschrieben, siehe den BdW 05/2021. Die Betrachtung zum strafenden Gott brauche ich nicht zu wiederholen. Mir fällt indes auf, das zwar der Angriff der Sodomiten auf die Engel und Lot die Frage nach der Gerechtigkeit der Stadtbewohner eindeutig und letztgültig klärt, was aber Lot betrifft, gilt das nicht. Die Gäste stehen unter Lots Schutz. Die Forderung der Sodomiten ist ihm vollkommen unerträglich, und er bietet den Anwohnern seine beiden Töchter statt der Gäste zur Massenvergewaltigung an. Hier der Text, der unserem Bibelvers unmittelbar vorangeht:

Lot ging heraus zu ihnen vor die Tür und schloss die Tür hinter sich zu und sprach: Ach, liebe Brüder, tut nicht so übel! Siehe, ich habe zwei Töchter, die wissen noch von keinem Manne; die will ich herausgeben unter euch und tut mit ihnen, was euch gefällt; aber diesen Männern tut nichts, denn darum sind sie unter den Schatten meines Dachs gekommen. (Gen 19,6-8)

Mit diesem erstaunlichen Angebot verletzt er seinerseits Schutzpflichten, die noch höher stehen als das Gastrecht. Warum tut er das? Will er recht behalten? 

Lot und seine Töchter werden gerettet. Die Töchter aber haben das Angebot des Vaters nicht vergessen. Sie setzen ihn unter Alkohol und in aufeinanderfolgenden Nächten schänden die beiden Frauen ihren Vater abwechselnd, systematisch und planvoll. Daraus entstehen Lot und seinen Töchtern gar männliche Nachkommen, die Stammväter der verhassten Moabiter und Ammoniter. 

Sie sind nicht glasklar „gut“, Lot und seine Familie, alles andere als das. Sie sind ambivalent, wie wirkliche Menschen, und am Ende sind sie moralisch erledigt. Beim Lesen ist man froh, die Szene verlassen zu dürfen. Und doch werden sie gerettet. Hierin liegt vielleicht, im Schmutze hell glänzend, ein Stück Frohe Botschaft?

Es ist kaum zu fassen. Gestern suchte ich in einem alten Notizbuch nach einer Adresse, und fand dabei die Skizze für ein Gedicht über Lot, das ich völlig vergessen hatte. Ich habe nur noch ein wenig daran gefeilt, hier also ist die Erstveröffentlichung:

Lot

Ganz unten:
Verloren sind Herden und Reichtum, 
Verloren sind Heimat und Frau.
Volltrunken im Erbrochnen, auf der Höhle Boden,
von den Töchtern furchtbar mißbraucht!

Doch auch: 
Vater von Völkern,
Vater von Israels König,
Vater des Königs der Welt -- 
Doch auch!

Ulf von Kalckreuth, 16. Juni 2023

Wieder diese Ambivalenz, auch bei der Rettung. So wie Lot möchte man nicht allzu oft gerettet werden. Aber aus dem Schmutz geht er in den Heilsplan ein. Wieviel von ihm steckt in jedem von uns?

Ich wünsche uns eine gesegnete Woche,
Ulf von Kalckreuth

Bibelvers der Woche 24/2023

Wenn dann die Fußsohlen der Priester, die des HErrn Lade, des Herrschers über alle Welt, tragen, in des Jordans Wasser sich lassen, so wird das Wasser, das von oben herabfließt im Jordan, abreißen, dass es auf einem Haufen stehen bleibt.
Jos 3,13

Hier ist ein Link für den Kontext des Verses, zur Lutherbibel 1984.

Zeichen und Wunder

Vor einiger Zeit hatten wir mit BdW 06/2018 einen Vers in der unmittelbaren Nachbarschaft, dessen Betrachtung ich jetzt ein wenig fortspinnen kann.

Josua ist neuer Führer der Israeliten und bekommt von Gott Autorität geschenkt — beim Einzug der Kinder Israel ins Heilige Land wiederholt sich für ihn im Kleinen das Wunder, das unter Mose im Großen den Auszug, die Flucht aus Ägypten, ermöglicht hat. Wie damals im Schilfmeer teilen sich nun die Wasser des Jordan: oberhalb staut sich das Wasser auf wie durch eine unsichtbare Mauer, so dass Priester und Kämpfer den Fluß trockenen Fußes durchschreiten können. 

Die Kinder Israel durchschreiten trockenen Fußes den Jordan.
Ulf von Kalckreuth mit Dall-E, 6. Juni 2023

Es ist dies „nur“ eine Erinnerung, ein Zeichen — die Durchquerung des Jordan wäre auch ohne dies möglich gewesen. Später aber schenkt Gott dem Josua ein eigenes Wunder: auf sein Gebet hin bleiben Sonne und Mond fast einen Tag lang stehen und ermöglichen den Israeliten die Fortführung einer günstig verlaufenden Schlacht, siehe Jos 10,13-15. Auch dieses Wunder erhält ein fernes Echo. Auf Hiskias flehendes Gebet hin gibt Gott dem Todkranken fünfzehn weitere Jahre Lebenszeit, und um die Heilung zu bestätigen, lässt er die Sonnenuhr rückwärts gehen, siehe 2 Kö 20,8ff und BdW 09/2019. Auch hier hat die Wiederholung Zeichencharakter: die Heilung Hiskias selbst hat mit dem Wunder nichts zu tun. 

Da ist eine Art Handschrift, eine Semantik. Die Wunder setzen den klassisch physikalischen Gang der Dinge einfach aus. Eine Wassersäule steht, und statt mit der Schwerkraft zu fallen und im Fallen sich auszubreiten, bleibt sie einfach weiter stehen. Und Himmelskörper — scheinbar der Mond und die Sonne, in Wahrheit aber die Erde selbst — halten in ihrer Rotation inne. Eine äußere Kraft, die das Drehmoment der Erde in kurzer Zeit überwindet, und anschließend wieder herstellt, müsste die Erdoberfläche zerstören und alles Leben unmöglich machen. 

Es wird gesagt, dass Gott durch die Naturgesetze spricht — hier spricht er durch ihre Aufhebung, in denkbar machtvoller Weise. 

Aber noch ein Zeichen gibt Gott am Jordan, vielleicht an derselben Stelle, aber über tausend Jahre später. Es kommt ohne Eingriff in die Naturgesetze aus. Gott spricht selbst, in direkter Rede. In allen Evangelien wird berichtet, wie Jesus sich von Johannes taufen lässt: 

Und als Jesus getauft war, stieg er alsbald heraus aus dem Wasser. Und siehe, da tat sich der Himmel auf, und er sah den Geist Gottes wie eine Taube herabfahren und über sich kommen. Und siehe, eine Stimme aus dem Himmel sprach: Dies ist mein lieber Sohn, an dem ich Wohlgefallen habe (Mt 3,13f). 

Gott bestätigt Jesus in der Öffentlichkeit, wie er Josua bestätigt hat, ebenso eindrucksvoll, aber es geschieht mit einer ganz anderen Semantik. Warum? Ich weiss es nicht. 

Ich wünsche uns eine gesegnete Woche!
Ulf von Kalckreuth

P.S. Gestern konnte ich für ein paar Stunden den Kirchentag in Nürnberg besuchen — und als ich die Kirchentags-App öffnete, um sehen, was ich mit dieser Zeit anfangen kann, fand sich auf meinem Bildschirm meines Handys plötzlich eine jüdisch-christliche Diskussion zu 2. Kö 20, der Geschichte von Hiskias Heilung und der Sonnenuhr, die rückwärts läuft. Darüber hatte ich doch gerade erst geschrieben! Natürlich ging ich hin. Ein klitzekleines Zeichen vielleicht für mich…

Bibelvers der Woche 23/2023

So habe ich nun dies Haus erwählt und geheiligt, dass mein Name daselbst sein soll ewiglich und meine Augen und mein Herz soll da sein allewege.
2 Chr 7,16

Hier ist ein Link für den Kontext des Verses, zur Lutherbibel 1984.

Wo wohnt Gott? 

Der Tempelberg inJerusalem ist drei Religionen heilig, Juden, Christen, und Muslimen, und jedes Jahr zieht er Millionen von Besuchern an. Den zwischen die Steine der Klagemauer geschobenen Gebetszetteln wird besondere Kraft nachgesagt. Die Mauer ist der Ort, wo man der vermuteten Ort des Allerheiligsten so nahe wie möglich kommen kann, ohne die Plattform selbst zu betreten. Dem Ort, an dem Gott zu wohnen versprach!

Nach seinem Bau war der Tempel der einzige Ort, an dem Gott Opfer gebracht werden durften — alternative Opferstätten, die es nach wie vor gab, wurden diskreditiert und kriminalisiert. Opfer war Gottesdienst. Opfer war die wichtigste Form der Kommunikation zwischen Gott und Mensch, und wenn der Tempel in Jerusalem die einzig legitime Opferstätte war, dann war dieser Tempel unglaublich wichtig. Und Gott hatte zugesagt, im Tempel zu WOHNEN. Anders als andere Gottheiten der Zeit war der Gott Israels vorher ortlos — er war dort, wo er angebetet wurde, wo er den Seinen erschien, er zog mit den Israeliten durch die Wüste. Mit David und Salomo hatte sich ein Königtum etabliert, mit einer festen Hauptstadt, und Gott bekam einen Ort zugewiesen, siehe den BdW 29/2019. Gott war nun festgelegt: er hatte ein Volk, dessen König er schützte, und einen Wohnort in dessen Hauptstadt. Ich hatte nie ein gutes Gefühl bei dieser Vorstellung. 

Das Versprechen Gottes, an seinem Wohnort zu bleiben, war aber von vornherein bedingt, siehe Vers 20, es galt nur solange das Volk seinen Teil des Bundesvertrags erfüllt. Der Tempel wurde mehrfach zerstört, zuletzt von den Römern, welche die Bevölkerung Jerusalems zerstreute und einen Wiederaufbau des Tempels verhinderten. 

So ist es heute noch. Keine israelische Regierung hat den Wiederaufbau gewagt. Der Tempel kann nur dort stehen, wo schon der alte war — der Bibelvers, den wir gezogen haben, sagt es: Gott hat sich einen konkreten Ort erwählt. Genau deshalb aber stehen auf dem Gelände des Tempels heute zwei wichtige  muslimische Heiligtümer. Es gibt noch ein anderes Problem: mit der Einweihung des Tempels würden sofort eine Unzahl Opfervorschriften der Torah wieder gelten. Ein gewaltiger Opferbetrieb müsste aufgenommen werden und das würde viele Juden in Israel und dem Ausland ihrer Religion entfremden, das Judentum vielleicht gar spalten. 

Lieber nicht.

Wo aber WOHNT Gott, wenn das alte Versprechen ausgesetzt ist und bleibt? Ist er ortlos wie ursprünglich, zieht er umher? Ist diese Frage überhaupt sinnvoll? Wenn Gott überall ist, ist es dann nicht so, als wäre er nirgends? 

Ich kenne nur die christlichen Vorstellungen näher. Aus dem Pfingstereignis heraus sagen Christen, dass Gott in der Gemeinde der Glaubenden wohnt. Auch Jesus selbst weist auf die Betenden: Wahrlich, ich sage euch auch: Wenn zwei unter euch eins werden auf Erden, worum sie bitten wollen, so soll es ihnen widerfahren von meinem Vater im Himmel. Denn wo zwei oder drei versammelt sind in meinem Namen, da bin ich mitten unter ihnen. (Mat 18,19f). Mystiker aller Religionen verorten Gott im Menschen selbst: Gott ist im Menschen, soweit der Mensch lernt, ihn in sich wahrzunehmen. 

Von George Berkeley, Bischof und Philosoph des 18. Jahrhunderts, stammt eine recht radikale philosophische Position: Den Dingen kommt Existenz nur insofern zu, wie sie wahrgenommen werden. Etwas, das nicht wahrgenommen wird oder nicht wahrgenommen werden kann, gibt es im eigentlichen Sinne nicht. Ein Stein auf der Rückseite des Mondes, der sich schwebend vom Boden entfernt und wieder niedersinkt, ist ebensogut wie einer, der sich nie bewegt hat. Man nennt diese Haltung subjektiven Idealismus, ebensogut könnte man sie radikalen Empirismus nennen. 

Wenn man Berkeley folgt, ist die Antwort auf die Frage recht einfach: Gott wohnt dort, wo wir ihm begegnen: im Gebet, im Studium der Schrift, in der Gemeinschaft der Glaubenden, in der Verzückung, der Meditation, aber auch auf dem Sterbebett, der Geburtsstation, in der Todesangst, vielleicht auch im religiösen Wahn, im Delirium — die Berichte von Gotteserfahrungen der Propheten im Alten Testament sind mit „normalen“ Welterfahrungen nicht vereinbar. 

Für die Begegnung aber müssen wir selbst uns bewegen. Gott lässt sich von denen finden, die ihn suchen, sagt die Schrift, und mein Pastor meinte kürzlich, dass wir Gotteserfahrungen selten auf der Couch machen…

So habe ich nun dies Haus erwählt und geheiligt, dass mein Name daselbst sein soll ewiglich und meine Augen und mein Herz soll da sein allewege. 

Und wenn wir selbst dies Haus sein könnten? Ich wünsche uns eine gesegnete Woche!
Ulf von Kalckreuth

P.S. Bischof Berkeley gehört nun zu denen, deren Name möglichst nicht genannt werden soll. Er stammt aus Irland, aber er besaß ein Gut in Rhode Island. Dort arbeiteten auch Sklaven. Das Trinity College in Dublin nimmt dies nun zum Anlass, seine Bibliothek nicht weiter nach Bischof Berkeley zu benennen. Wir werden sehen, wie die Stadt Berkeley und ihre weltberühmte Universität damit umgehen wollen.