Bibelvers der Woche 22/2021

…was zu meiner Haustür heraus mir entgegengeht, wenn ich mit Frieden wiederkomme von den Kindern Ammon, das soll des HErrn sein, und ich will’s zum Brandopfer opfern.
Ri 11,31

Hier ist ein Link für den Kontext des Verses, zur Lutherbibel 1984.

Abgründe und Trauer

Unser Vers ist der zweite Teil eines Gelübdes, er sagt, was geschehen soll, wenn die im ersten Teil genannte Bedingung eintritt. Jeftah (oder Jiftach) ist regionaler Führer und will den Widerstand gegen einen Einfall der Ammoniter in die Landschaft Gilead in Gad organisieren. Er ist Sohn des Fürsten von Gilead, gezeugt allerdings mit einer Hure und daher von der Familie verstoßen. In der Verbannung lebt er als Freibeuter, ähnlich wie David nach seiner Flucht vor Saul.

In der Not nun rufen ihn die Ältesten von Gilead und bieten ihm Herrschaft an: militärische Herrschaft jetzt und politische Herrschaft später. Jeftah hat wenig zu verlieren, aber viel zu gewinnen. Vor den Schlachten wendet er sich an den Herrn, hier ist das ganze Gelübde im Zusammenhang (in der Übersetzung von 2017): 

Und Jeftah gelobte dem Herrn ein Gelübde und sprach: Gibst du die Ammoniter in meine Hand, so soll, was mir aus meiner Haustür entgegengeht, wenn ich von den Ammonitern heil zurückkomme, dem Herrn gehören, und ich will’s als Brandopfer darbringen. (Ri 11, 30+31)

Er gewinnt die Schlachten und demütigt die Ammoniter, er kehrt siegreich heim. Und es kommt ihm seine Tochter entgegen, sein einziges Kind, eine junge Frau in heiratsfähigem Alter, tanzend, mit der Handpauke, dem Musikinstrument der jungen Mädchen!

Jeftah muß mit einem solchen Ausgang gerechnet haben — der hebräische Text wäre besser mit „wer mir entgegenkommt“ übersetzt. Sonderbar genug aber macht er seiner Tochter Vorwürfe. Sie weist seine Klage zurück und erinnert ihn, dass er es war, der das Gelübde getan hatte. Sie akzeptiert ihr Schicksal, bittet aber, zwei Monate lang in die Berge gehen zu können, um mit ihren Freundinnen zu trauern. Danach könne das Opfer gebracht werden. Und so geschah es.  Wenn ich richtig lese, starb sie von des Vaters eigener Hand.

Der Vers und die Geschichte treffen auf eine Tiefenschicht unseres kollektiven Unterbewusstseins. Ganz ähnliche Begebenheiten werden aus sehr unterschiedlichen Quellen berichtet. Das singende springende Löweneckerchen ist ein Märchen der Gebrüder Grimm, und Idomeneus eine griechische Sagengestalt. 

Ein Führer im vorstaatlichen Israel, ein Richter, opfert dem Herrn sein Kind. Es gibt in der Bibel einige Parallelen. In 2. Kö 3 ist es ein moabitischer König, der in höchster Not seinem Gott Kemosch den ersten Sohn opfert, um die Israeliten zurückzuschlagen — gleichfalls mit Erfolg. Ahas und Manasse, Könige von Juda, opfern ihre Söhne fremden Göttern. Auf Gottes Geheiß soll Abraham seinen Sohn opfern und er ist bereit dazu, nur Gottes Eingreifen rettet Isaak. In Sam 21 liefert David sieben Söhne Sauls den Gibeonitern aus, einem nichtisraelitischen Sassenvolk, damit diese ihre Feinde Gott zum Opfer bringen können. Und die Schilderung des furchtbaren Feldzugs der Israeliten gegen die Midianiter in Num 31 ist an einer wichtigen Stelle ambivalent, siehe den BdW 19/2019.

Menschenopfer sind in der hebräischen Bibel streng untersagt, und sie werden als Greueltaten dargestellt. Es ist jedoch möglich, dass dies nicht immer so gesehen wurde. Im kulturellen Umfeld Israels waren Menschenopfer etwas Natürliches: Opfer ist Kommunikation mit der Gottheit und die höchste Opfergabe war ein Mensch. Wie Baal erhebt der Gott der Israeliten an vielen Stellen des Tanach Anspruch auf den erstgeborenen Sohn, anders als für Baal muss dieser Anspruch allerdings durch ein Tieropfer ausgelöst werden. 

Es fällt mir nicht leicht, darüber zu schreiben, und ich kann für mich nicht klären, ob und mit welcher Regelmäßigkeit in frühester Zeit auch Menschen für Gott geopfert wurden — ganz sicher aber spielten menschliche Opfer eine Rolle in den vielfältigen Vorstellungen, aus denen sich erst die jüdische und dann die christliche Religion herausbildete. Ohne diese uralten Muster im spirituellen Genom könnten Christen nicht in einem Opfer die höchste Erlösungstat erkennen, dem Tod eines eingeborenen Sohns.

Wenn man nun die Geschichte von Jeftah und seiner Tochter noch einmal liest, mag man diese vielgestalte Vorstellungswelt erfühlen, und dann verschwimmen plötzlich die Grenzen zwischen „unserem“ Gott, dem Gott der Israeliten, und den anderen Göttern dieser Zeit. Und da ist sie, die schöne Tochter Jeftahs, wir kennen ihren Namen nicht, wie sie ihrem Vater lachend mit der Handpauke entgegentanzt und sich damit um ihr junges Leben bringt. Ich kann sehen, wie sie mit ihren Freundinnen in die kargen Berge Gileads zieht, um Abschied zu nehmen vom Leben — unendlich kostbar, mit dunklen Augen und schmalem Gesicht unter der Sonne Palästinas, auf einem Esel, angetan mit dem Goldschmuck ihres Vaters und begleitet von seinen bewaffneten Knechten, sie zu schützen und zu bewachen.

Am Ende des biblischen Berichts ist die Rede von alljährlichen Trauertagen für die namenlose Tochter Jeftahs, ausgerichtet von den jungen Mädchen Israels. Ja, manchmal ist es gut zu trauern. Gerade auch über das, was auf dem Weg liegt, der dorthin führt, wo wir stehen. Jetzt und hier.  

Der Herr behüte diesen Weg,
Ulf von Kalckreuth

Bibelvers der Woche 21/2021

…haben auch anderes Geld mit uns hergebracht, Speise zu kaufen; wir wissen aber nicht, wer uns unser Geld in unsre Säcke gesteckt hat.
Gen 43,22

Hier ist ein Link für den Kontext des Verses, zur Lutherbibel 2017.

Schulden, Schuld und Verzeihung

Der Vers ist aus der Josephsgeschichte, der längsten und komplexesten Erzählung der Torah. Joseph, der von seinen Brüdern ausgestoßen und in die Sklaverei verkauft wird, macht mit seinen besonderen Fähigkeiten unglaubliche Karriere: er wird Vizekönig in Ägypten. Es ergibt sich, dass seine Brüder während einer Hungersnot nach Ägypten ziehen, um Nahrungsmittel zu kaufen. Sie erkennen ihn nicht, und Joseph verkauft ihnen alles, was sie brauchen. Einer der Brüder aber, Simeon, muss als Pfand und Geisel in Ägypten bleiben, weil die Brüder im Verdacht stehen, Spione zu sein. In Wahrheit will Joseph die Brüder zur Rückkehr zwingen, mit dem jüngsten der Söhne Israels, Benjamin, der nicht nur denselben Vater, sondern auch dieselbe Mutter hat wie Joseph.

Wie gesagt, komplex. Die Brüder kehren nach Hause zurück und auf dem Weg durchfährt sie ein Schrecken: sie finden das Geld, das sie für das Brot bezahlt haben, vollständig in ihrem Gepäck wieder. Eigentlich könnte es eine gute Nachricht sein, wenn man mehr Geld hat als erwartet. Aber die Brüder fürchten eine Falle — jemand könnte ihnen unterstellen, das Geld gestohlen zu haben. So bleiben sie lange mutlos bei ihrem Vater in Palästina, ohne Simeon auszulösen, aus Angst vor dem seltsamen, mächtigen Mann in Ägypten.

Schließlich gehen sie doch dorthin zurück, der Hunger ist stärker. Aber da ist das überschüssige Geld, und nun auch die Scham, den Bruder zurückgelassen zu haben. Sie bringen das Geld zurück, und weiteres dazu, um neues Brot zu kaufen, und rechtfertigen sich ausführlich vor dem ägyptischen Verwalter — das ist der gezogene Vers. Schuldenfrei seien sie und unschuldig! Der Verwalter zeigt sich großzügig und sagt: Alles ist gut, alles ist bezahlt, der Überschuss ist ein Geschenk des Gottes eures Vaters.

In Wahrheit war es Joseph, der das Geld zurücklegen ließ — weil er für die Rettung seiner Brüder und des alten Vaters kein Geld nehmen konnte, zum anderen auch, um Schuld zu erzeugen. Die heimliche Gabe greift auch vor auf das Ende der zweiten Begegnung; da bekommen die Brüder einen wertvollen Becher zugesteckt, und dieses Mal werden sie wirklich des Diebstahls bezichtigt.

Kaufleute rechnen genau: Bestände müssen erklärbar sein, ein Zuviel ist ebenso schlimm wie ein Zuwenig. Als ich bei der Bank von England arbeitete, erzählte mir ein älterer Kollege, wie vor Jahrzehnten viele Monate lang einem kleinen Überschuss nachgespürt wurde. Die gewaltige Bilanz der Bank von England war nicht in Soll und Haben ausgeglichen, die Summe der Aktivseite war um einige Penny länger als die der Passivseite. Die Aufregung war nicht grundlos: Wenn in einem Buchungssystem einige Penny unerklärt auftauchen oder verschwinden, kann das morgen auch mit Hunderttausenden oder Millionen von Pfund geschehen. In der Josephsgeschichte wissen die Brüder genau, dass sich Geld nicht von selbst in den Säcken ihrer Esel materialisiert — hier geschah etwas, das sie nicht verstanden und das stärker war als sie. Dass der Verwalter den Gott ihres Vaters erwähnt, macht die Sache nicht leichter, auch vor diesem fühlten sie sich nämlich schuldig.

Die Geschichte erzählt von einer Schuldspirale, die sich immer weiter dreht, sich den Brüdern wie ein Korkenzieher ins Fleisch bohrt. Bis einer der elf bereit ist, sich für einen anderen zu opfern. Juda will den zu Unrecht beschuldigten Benjamin auslösen. Da endlich kann Joseph verzeihen, und aus dem Beziehungsgeflecht der Brüder verschwindet die Schuld, die dunkle Energie. Sie wird gestrichen! Ganz einfach, und doch so schwer. Schwer ist es, Verzeihung auszusprechen, und fast ebenso schwer, sie anzunehmen, damit umzugehen, dass der andere verzeiht. Bedeutet es doch eine Anerkenntnis der Schuld, die gestrichen werden soll. Statt immer weiter „recht“ zu haben.

Ich glaube, man muß einander sehr lieben dafür. Und so ist es auch zwischen uns und Gott.

Der Herr sei und bleibe uns gnädig. Ich wünsche uns allen ein frohes Pfingstfest!
Ulf von Kalckreuth

Bibelvers der Woche 20/2021

Und er ließ in den Bund treten alle, die zu Jerusalem und in Benjamin vorhanden waren. Und die Einwohner zu Jerusalem taten nach dem Bund Gottes, des Gottes ihrer Väter.
2 Ch 34,32

Hier ist ein Link für den Kontext des Verses, zur Lutherbibel 2017.

Fund und Bund und Kirchentag 

Als er von meinem Blog hörte, fragte mich ein Kollege leicht ironisch, ob es denn etwas neues gebe in der Bibel. Für uns ist die Bibel etwas Festes, im Wortsinne Gegebenes, Unverrückbares. Das war nicht immer so — der Kanon der Heiligen Schriften des Judentums und damit des christlichen Alten Testaments wurde erst gegen 100 n.Chr. festgelegt, und der Korpus des Neuen Testaments im 4. Jahrhundert. Vorher bestand die Heilige Schrift aus einzelnen, heilig gehaltenen Schriften, die selbständig kursierten und kopiert wurden, oft in verschiedenen Fassungen.  

Die Sammlung, Redaktion und Systematisierung der Heiligen Schriften begann aber bereits in Juda unter König Josia (640-609 v.Chr). Die 2. Chronik und das 2. Buch der Könige berichten von einem unglaublichen Ereignis. Der Tempel wurde renoviert, und als man Silbervorräte heraussuchte, um damit die Bauarbeiten zu bezahlen, fand man das „Gesetz“, eine Schrift mit den Bestimmungen Mose. im Hebräischen steht tatsächlich „Sefer HaTorah“, das Buch der Torah. Das Buch war in Vergessenheit geraten und nun durch einen Zufall wieder aufgefunden. Möglicherweise handelte es sich um eine frühe Fassung des Deuteronomiums. 

Wirklich wurden in jener Zeit Schriftrollen behandelt wie Schätze und sie hatten einen entsprechenden Wert. Und wie ein Schatzfund wächst die Schriftrolle dem Fundus der bekannten Schriften zu. Die Wirkung ist spektakulär. König Josia lässt sich die Rolle vorlesen, und er zerreißt seine Kleider, weil ihm klar ist, wie sehr Israel und Juda gefehlt haben und was die Konsequenz sein kann. Er versammelt das Volk, lässt die Rolle verlesen und gelobt stellvertretend für das Volk, dass man die Rechte des Herrn künftig genau halten werde. Darum geht es im gezogenen Vers: der König formuliert den Bund und die Einwohner Jerusalems und des umliegenden Landes Benjamin treten bei und halten ihn. Eine Art Kirchentag, nicht wahr?

Josia hat in den Königsbüchern und der Chronik den Rang einer Lichtgestalt. Er steht für Ausdifferenzierung und Zentralisierung. Die kultische Verehrung des einen Gottes wird exklusiv: Andere Götter dürfen nicht mehr angebetet werden. Die religiöse Aktivität fokussiert auf Jerusalem. Nur im dortigen Tempel kann noch legal geopfert werden, all die freiwilligen und mandatorischen Gaben gehen dorthin. Gleichzeitig beginnt, wie schon erwähnt, in dieser Zeit eine redaktionelle Arbeit, welche die heiligen Schriften in konsistente Beziehung zueinander setzt und zu Teilen einer einheitlichen Erzählung werden läßt. Die biblische Geschichte entsteht allmählich. Als Juden und als Christen gäbe es uns nicht ohne dieses Werk. 

Durchaus nicht alles gefällt nach heutigen Standards. Wer ist „im Bund“, wer nicht? Josia integriert, und gleichzeitig grenzt er ab und grenzt er aus, sehr harsch zuweilen. Recht betrachtet gehört beides zusammen. Wer sagt, was eine Gemeinschaft ausmacht und was in ihr gilt, sagt damit gleichzeitig, wer oder was nicht dazu gehört. Als ich den Vers las, mußte ich an den Kirchentag in Frankfurt denken, der am Donnerstag mit einem Gottesdienst begann und am Sonntag seinen Abschluss findet. Er war als ökumenisches Fest gedacht und ist zum virtuellen Ereignis geworden. Arg gerupft wirkt er, nicht nur wegen Corona. Im Vorfeld schien es, als sei auch der Mut zum Träumen verlorengegangen. Vielleicht, weil Integration voraussetzt, dass man gemeinsam formulieren kann, wofür man steht. Das fällt schwer, wenn das Haus des Herrn viele Wohnungen haben soll, alle mit Zentralheizung. Wer allen alles sein will, ist am Ende den meisten nichts.

Die Chronik berichtet weiter, wie Josia die heidnischen Anbetungsstätten in den ihm zugänglichen Gebieten des früheren Nordreichs entfernen lässt und am Ende in einem großen Staatsakt Pessach feiert, das Fest der Befreiung im Frühling, endlich so, wie das „Gesetz“ es vorsieht. Das Pessachmahl ist das Urbild der christlichen Abendmahlsfeier, auch daran mag man mit Blick auf den Frankfurter Kirchentag denken. 

Am Donnerstag feierte eine Handvoll Vertreter der großen Konfessionen auf dem Dach eines Frankfurter Parkhauses einen luftigen Eröffnungsgottesdienst mit Musik. Ein gemeinsames Abendmahl gab es nicht, wohl aber ein gemeinsames Bekenntnis des Glaubens. Heute (Samstag) Abend bin ich „live“ auf einer gemeinsamen Abendmahlsfeier im Rahmen des Kirchentags im Stadtteil. Ich weiss noch nicht genau, was mich erwartet, aber vielleicht wird es wirklich — neu!

Der Herr behüte uns in unsern Träumen und immer,
Ulf von Kalckreuth

Bibelvers der Woche 19/2021

Wenn ein Ochse einen Mann oder ein Weib stößt, dass sie sterben, so soll man den Ochsen steinigen und sein Fleisch nicht essen; so ist der Herr des Ochsen unschuldig.
Ex 21,28

Hier ist ein Link für den Kontext des Verses, zur Lutherbibel 2017.

Haftung — in Exodus und im BGB 

Achtung: in dieser Woche wird’s juristisch, aber trotzdem ziemlich spannend, finde ich! In den Büchern Exodus, Leviticus und Numeri finden sich Elemente nicht nur für ein eisenzeitliches Strafrecht, sondern auch für ein Zivilrecht. Unser Vers steht im „Bundesbuch“, unmittelbar im Anschluß an die zehn Gebote. Es wird die Frage geregelt, ob und unter welchen Umständen der Besitzer eines Rinds für einen etwaigen Personenschaden haftet, den das Tier anrichtet. Erstaunlicherweise ist die Antwort aus dem Buch Exodus im wesentlichen dieselbe wie im modernen BGB. Hier noch einmal unser Vers, gemeinsam mit den beiden darauf folgenden (28-30).

Wenn ein Rind einen Mann oder eine Frau stößt, dass sie sterben, so soll man das Rind steinigen und sein Fleisch nicht essen; aber der Besitzer des Rindes soll nicht bestraft werden. Ist aber das Rind zuvor stößig gewesen und seinem Besitzer war’s bekannt und er hat das Rind nicht verwahrt und es tötet nun einen Mann oder eine Frau, so soll man das Rind steinigen, und sein Besitzer soll sterben. Will man ihm aber ein Lösegeld auferlegen, so soll er geben, was man ihm auferlegt, um sein Leben auszulösen.

Der Besitzer haftet nicht, wenn er seinen Sorgfaltspflichten nachkommt. Verletzt er diese jedoch, so wird er zur Verantwortung gezogen. In der Torah ist bekanntlich grundsätzlich ein Leben der Preis für ein Leben, aber oft — und in diesem Fall sogar explizit — ist als Ersatz die Zahlung eines Lösegeldes möglich. Das Rind aber wird in jedem Fall getötet (gesteinigt), und sein Fleisch darf nicht gegessen werden. Ersteres verhindert, dass der Vorfall sich wiederholt und letzteres, dass der Eigentümer den ihm dadurch entstehenden wirtschaftlichen Schaden durch Verkauf oder Verzehr mindern kann. 

Und hier die entsprechende Norm im BGB: 

§ 833
Haftung des Tierhalters

(1) Wird durch ein Tier ein Mensch getötet oder der Körper oder die Gesundheit eines Menschen verletzt oder eine Sache beschädigt, so ist derjenige, welcher das Tier hält, verpflichtet, dem Verletzten den daraus entstehenden Schaden zu ersetzen. (2) Die Ersatzpflicht tritt nicht ein, wenn der Schaden durch ein Haustier verursacht wird, das dem Beruf, der Erwerbstätigkeit oder dem Unterhalt des Tierhalters zu dienen bestimmt ist, und entweder der Tierhalter bei der Beaufsichtigung des Tieres die im Verkehr erforderliche Sorgfalt beobachtet oder der Schaden auch bei Anwendung dieser Sorgfalt entstanden sein würde.

In Deutschland haftet grundsätzlich der Eigentümer für die „Tiergefahr“, und zwar verschuldungsunabhängig, es gilt Gefährdungshaftung. Absatz (2) schränkt diese für den Eigentümer sehr ungünstige Regel allerdings auf sog. Luxustiere ein, die ohne wirtschaftlichen Hintergrund gehalten werden, z.B. Haushunde. Für Nutztiere, deren Haltung wirtschaftlichen Zwecken dient, gilt hingegen die Regel aus Exodus: wenn der Halter die Sorgfaltspflichten beachtet, ist er frei, wenn nicht, ist er ersatzpflichtig. Die Unterscheidung soll die gewerbsmäßige Haltung von Tieren, insbesondere in der Landwirtschaft,  von den unkalkulierbaren wirtschaftlichen Risiken bei Gefährdungshaftung freistellen. Anders als der Eigentümer eines Luxustieres kann der Landwirt die Tiergefahr nicht ganz vermeiden, will er seinen Beruf nicht aufgeben. 

Es ist spannend zu sehen, dass die „Privilegierung“ der Landwirte modernen Juristen ein Dorn im Auge ist. In einem einschlägigen Fall ließ das OLG Schleswig im Jahr 2008 eine Revision beim BGH zu, weil §833(2) möglicherweise den Gleichheitsgrundsatz des Grundgesetzes verletze. Die Besserstellung von Landwirten werde in der Literatur als unzeitgemäß betrachtet, diese könnten sich schließlich versichern — hier ein Link.

Die jüdische Schriftgelehrsamkeit zählt 613 Ge- und Verbote (Mitzwot) auf, die aus den Texten der Torah folgen, hier ist ein Link zur Liste von Maimonides. Unser Vers kommt in dieser Liste gleich zweimal vor: Als Verbot, vom Fleisch des gesteinigten Rinds zu essen (#189), und als Gebot an die Richter, den Fall gebührend zu untersuchen (#463). Auf Maimonides und die Bibel kann der OLG Schleswig sich in seinem Kampf gegen unzeitgemäße Privilegien also nicht berufen. So sah es 2009 auch der BGH: er verwies den Fall an das Oberlandesgericht zurück, weil es in seiner Entscheidung versäumt habe zu prüfen, ob der beklagte Landwirt die erforderliche Sorgfalt an den Tag gelegt habe. Dies, statt der Erwägungen zum Gleichheitsgrundsatz, wäre seine Aufgabe gewesen. 

In der Sammlung von Maimonides sind viele der Mitzwot direkt als Forderung an Richter und Gerichte formuliert. Sollen Gesetze wirksam sein, muß es Menschen geben, die sie durchsetzen. Die neuere ökonomische Forschung zeigt, dass Rechtsstaatlichkeit einen großen Teil des Unterschiedes zwischen armen und reichen Ländern ausmacht. Die Bibel sieht das Gesetz als „Gottesgabe“, und unser Vers mag uns daran erinnern.

Der Herr behüte uns in dieser Woche,
Ulf von Kalckreuth