Bibelvers der Woche 01/2019

Schlangen vertreiben; und so sie etwas Tödliches trinken, wird’s ihnen nicht schaden; auf die Kranken werden sie die Hände legen, so wird es besser mit ihnen werden.
Mk 16,18

Hier ist ein Link für den Kontext, zur Übersetzung von 2017.

Letzte Worte

Weil sich um ein Satzfragment handelt, hier der ganze Satz, in der Übersetzung von 2017:

Die Zeichen aber, die folgen werden denen, die da glauben, sind diese: In meinem Namen werden sie Dämonen austreiben, in neuen Zungen reden, Schlangen mit den Händen hochheben, und wenn sie etwas Tödliches trinken, wird’s ihnen nicht schaden; Kranken werden sie die Hände auflegen, so wird’s gut mit ihnen. (Mk 16, 17+18)

Unser Vers steht ganz am Ende des wahrscheinlich ältesten Evangeliums. Markus berichtet knapp und präzise, Ausschmückungen sind ihm fremd. Bei ihm gibt es keine Geburtsgeschichte — der Bericht setzt ein, als Jesus bereits ein erwachsener Mann ist und am Ufer des Jordan seine Taufe von Johannes empfängt. Auch das Ende — Auferstehung und Himmelfahrt — wird ausgesprochen lakonisch erzählt, in nur 20 Versen, von denen allein die Hälfte auf die Szene vor dem leeren Grab verwendet wird. Der Auferstandene erscheint erst Maria Magdalena, dann zwei anderen, ungenannten Jüngern. Als die Berichte dieser drei bei den anderen nur auf Unglauben stoßen, zeigt er sich den versammelten elf Jüngern und schilt sie wegen ihres Unglaubens. Spätestens daran werden sie ihn erkannt haben… Es folgt die Aussendung, und dann der Vers oben. Er enthält nichts weniger als die letzten Worte Jesu — eine Woche nach Weihnachten.

Ein unerwartetes, abruptes Ende. Es ist ein Nachlass. Jesus Wundertätigkeit ist so charakteristisch für ihn wie kaum etwas anderes, und auf die glaubenden Nachfolger gehen diese Kräfte über. Jesus zählt auf, worauf sich die Jünger einstellen können — fünf „Zeichen“, im gezogenen Vers sind drei davon genannt: Der Glaubende vermag Schlangen mit den Händen hochzuheben, Gift kann ihm nichts anhaben und er kann durch Handauflegen Kranke heilen.

Beim ersten Lesen erinnert die Liste frappierend an weißmagische Praktiken. Manche der Handlungen bergen für den Ausführenden große Gefahr. Soll man diese Verse wörtlich lesen? Im Altertum war das Leeren eines Giftbechers gebräuchliche Hinrichtungsart. Paulus, dem es — auch nach eigenem Bekunden — nicht an Glauben mangelte, war durchaus überzeugt, dass seine Hinrichtung tödlich für ihn enden würde (siehe den BdW 2018/49). Aber er hat sich davon nicht schrecken lassen, nicht in der Missionstätigkeit vor seiner Verhaftung und auch nicht, als sein Leben tatsächlich zu Ende ging. Die Todesdrohung konnte ihm in der Tat nichts anhaben. 

Schlangen stehen in der Bibel für vieles: Streit und Sünde, aber auch Macht, Klugheit und sogar Weisheit und ewiges Leben, weil sie sich immer wieder häuten. Denkt man in erster Linie an Gift und Hader zwischen Menschen, so wäre es eine wunderbare, Gemeinschaft schaffende und erhaltende Gabe, Schlangen mit der Hand aufheben zu können. 

Jesu Reihung läse sich dann wie eine Assoziationskette: Das Austreiben von Dämonen geschieht im Neuen Testament durch intensive Ansprache dieser fremdartigen Wesen. Dazu gesellt sich unmittelbar die Rede in „neuen Zunge“. Wenn die Schlangen für Hass und Hader stehen, die der Glaubende aus dem System „herausnehmen“ kann, wäre das die natürliche Fortsetzung. Von der Schlange dann zum Gift, das dem Glaubenden nicht schaden kann, und vom Gift zum Kranken, zu einem anderen Menschen also, dessen Heilung der Glaubende mit einer Berührung seiner Hand (wieder der Hand) befördern kann. Vielleicht lässt sich die Kette nach diesem Muster auch fortsetzen, wie eine Zahlenreihe, so dass sie nacheinander alle wichtigen Aspekte des Lebens berührt. Die eigentliche Bedeutung der Aufzählung, ihr mathematischer „Grenzwert“, wäre dann: „Wenn ihr glaubt, vermögt ihr alles, worum ihr bittet.“ In dieser Form ist die Zusage an mehreren anderen Stellen des NT belegt, z.B. Mar 9:23, Mar 11:23, Luk 17:6, Mat 17:20.

Die drei im gezogenen Vers genannten übernatürlichen Kräfte, die Jesus den Glaubenden vermacht, sind die Fähigkeit zu heilen, die Fähigkeit, Streit aufzulösen und Frieden zu stiften und ein unbedingtes, lebensspendendes und lebenserhaltendes Vertrauen. Vielleicht sollten wir diese Kräfte im neuen Jahr einmal auf die Probe stellen. Wenn wir sie nur ein oder zweimal wirken lassen, können wir, mit Gottes Hilfe, ein oder zwei verfahrene, verzweifelte Situationen drehen.
Ulf von Kalckreuth

Bibelvers der Woche 52/2018

Wer ist unter euch, der den HErrn fürchtet, der seines Knechtes Stimme gehorche? Der im Finstern wandelt und scheint ihm kein Licht, der hoffe auf den HErrn und verlasse sich auf seinen Gott.
Jes 50,10

Hier ist ein Link für den Kontext, zur Übersetzung von 2017:

Wenn es am dunkelsten ist

Es gibt Grund, dies zu betonen: Dieser Vers für die letzte Woche des Jahres ist zufällig gezogen, und zwar vor exakt einer Woche, am 14.12. Der Vers enthält die Essenz der Erlösungshoffnung und des Weihnachtsfests — und in dem Kontext des Buchs Jesaja, in dem er steht, konstituiert er beides geradezu. 

Matthäus erzählt die Geschichte von den drei Weisen, die dem Stern folgen, das Kind suchen und finden. Lukas berichtet von der Geburt im Stall. Aber die Vorstellung, der Erlöser komme in dunkelster Nacht, komme in Kindsgestalt, ist viel älter, sie geht auf die Propheten zurück, vor allem auf Jesaja: siehe Jes 9,1ff und Jes 7,14ff. Matthäus bezieht sich direkt auf diese Bilder, mit denen er selbst aufgewachsen ist. In die Katastrophe hinein, in die tiefe Demütigung, wird ein Reis gepflanzt, aus dem Erlösung erwächst. Man kann sagen, dass Jesaja das Weihnachtsfest erfunden – oder gefunden – hat, viele Jahrhunderte vor Christi Geburt. 

Den zweiten Teil des Jesajabuchs, Jes 40-66, schreibt man heute einem anderen, späteren Autor zu als den ersten. Der „zweite“ Jesaja hat das Ende des Südreichs und die Verbannung nach Babylonien selbst erlebt. Der Text rund um den gezogenen Vers, das „Trostbuch von der Erlösung Israels“, ist daher tatsächlich in tiefster Nacht geschrieben, in einem Biotop der Hoffnungslosigkeit:

Der im Finstern wandelt und scheint ihm kein Licht, der hoffe auf den HErrn und verlasse sich auf seinen Gott. 

Wir feiern Weihnachten, wenn es am dunkelsten ist. Wann auch sonst? Weihnachten ist nicht die Erfüllung, wie Kinder glauben, sondern die Hoffnung. Kein erwachsener Messias kommt da, sondern ein Säugling aus Fleisch und Blut. Konkretisierte Hoffnung, die Gestalt angenommen hat, ein festes Versprechen, der Nacht zum Trotze — „O komm, o komm, du Morgenstern“. 

Heute ist der dunkelste Tag des Jahres, und ich wünsche uns allen ein gesegnetes Weihnachtsfest, mit einem Licht im Herzen. 
Ulf von Kalckreuth 

Bibelvers der Woche 51/2018

Und der HErr redete mit Mose und sprach: …
Num 5,1

Hier ist ein Link für den Kontext, zur Übersetzung von 2017.

Der Herr spricht

Der Vers spielt mit Sprache, und dies auf mehreren Ebenen. Formal ist der Satz eine Einleitung, und man mag als erstes betrachten wollen, was denn der Herr zu Mose sagt. Es ist eine zwar traurige, aber vernünftige Regel, die hier aufgestellt wird: alle Israeliten, die an Lepra oder anderen schweren ansteckenden Krankheiten litten, sollten außerhalb des Lagers leben. Quarantäne ist noch heute medizinisch angezeigt, wenn es keine Behandlungsmöglichkeit gibt. 

Aber da ist noch etwas anderes. Man kennt den Satz nämlich, auch wenn man nicht oft in die Bibel schaut. Moses Leben erstreckt sich über die Bücher Exodus, Leviticus, Numeri und Deuteronomium. Ich habe den Computer zählen lassen: die Zeichenfolge „Und der HErr redete mit Mose“ kommt in diesen Büchern nicht weniger als 87 mal vor. Die vier Bücher gemeinsam haben 4319 Verse. Der Halbsatz hat also einen Anteil von fast exakt 2% an den Versen dieser Bücher! Das ist massiv. Als Variante kommt hinzu der erste Vers des Buchs Leviticus: „Und der Herr rief Mose und sprach: „

Irgendwann mussten wir den Satz also ziehen… Liest man ihn für sich selbst, so kann er drei Bedeutungen haben, je nachdem, wie man betont: 

1) Und der Herr redete mit Mose und sprach — was nun kommt, ist nicht von Mose oder einem Priesterangeordnet, sondern von Gott.

2) Und der Herr redete mit Mose und sprach: Gott richtet sein Wort an die Menschen.

3) Und der Herr redete mit Mose und sprach — nicht mit irgendeinem Menschen spricht er, sondern mit Mose, dem berufenen Vertreter.

Alle drei Bedeutungen sind präsent in dieser Phrase, die wie ein Mantra wiederholt wird. Aber die zweite ist herausgehoben: Dem Verb kommt in der hebräischen Sprache eine überragende Stellung zu. Es ist der Ausgangspunkt jeder Bedeutung, jeder sprachlichen Äußerung. Im Vers, wie im klassischen Hebräisch üblich, steht das Verb am Anfang des Satzes, und Subjekt und Objekt sind Attribute des Verbs. Die meisten Nomina und Adjektive im Hebräischen sind direkt von Verbstämmen abgeleitet. Der hebräische Name Gottes selbst ist formal ein Verb, in der 3. Person Einzahl männlich im Imperfekt. 

Gott redet und spricht, er richtet sein Wort an die Menschen, sein Wort, das die Welt erschaffen hat. Dass er dies tut, unterscheidet ihn vom „Gott der Philosophen“. Darin, dass wir miteinander sprechen und mit Gott, sind wir Gott gleich. Mit Worten können wir heilen und bauen, mit Worten zerstören und niederreißen. Und mit seinem Wort „baut “Gott sein Volk in der Wüste. 

Ich wünsche uns eine Woche, in der Gott sein Wort an uns richtet —in welcher Form auch immer,
Ulf von Kalckreuth

Bibelvers der Woche 50/2018

… Jereon, Migdal-El, Horem, Beth-Anath, Beth-Semes. Neunzehn Städte und ihre Dörfer.
Jos 19,38

Hier ist ein Link für den Kontext, zur Übersetzung von 2017.

Die Sieger

Der gezogene Vers ist ein Satzfragment, daher erst einmal hier der unmittelbare Zusammenhang:

Und feste Städte sind: Ziddim, Zer, Hammat, Rakkat, Kinneret, Adama, Rama, Hazor, Kedesch, Edreï, En-Hazor, Jiron, Migdal-El, Horem, Bet-Anat, Bet-Schemesch. Neunzehn Städte mit ihren Gehöften. Das ist das Erbteil des Stammes Naftali nach seinen Geschlechtern, die Städte mit ihren Gehöften. (Jos 19,35-39)

Josua hat den Eroberungskrieg im Heiligen Land strategisch gewonnen, mit entscheidenden Siegen im Süden und im Norden. Doch die Eroberungen sind nicht abgeschlossen, und besiedelt ist das Land weiterhin von Kanaanäern. Dennoch bekommt Josua, der nun schon sehr alt ist, vom Herrn den Auftrag, die Verteilung des Landes vorzunehmen. Nachdem die beiden Schwergewichte — Juda und die beiden Josefsstämme — ihre Siedlungsräume erhalten haben, geht Josua wie folgt vor: der Zuschnitt des Landes für die verbleibenden Stämme wird im Konsens festgelegt, erst danach wird das Los geworfen. Das erinnert an die Technik, wie sie von Gefangenen bei der Teilung von Brot genutzt wird: der eine teilt, der andere wählt aus. 

Der Vers ist Teil der Beschreibung des Landes, das an den Stamm Naftali geht. Es ist eine schöne Gegend, ich war einmal da. Sie liegt im Norden Israels, umfasst den ganzen See Genezareth und zieht sich hoch bis unterhalb des Hermon.

Die Enumeration im Vers hat etwas Endgültiges, fast Überzeitliches. Aber das ist Illusion. Einerseits gehörte das Land zum Zeitpunkt der Aufteilung noch den Kanaanäern, und auch später bleiben die ursprünglichen Bewohner in einigen der im gezogenen Vers genannten Städte, siehe Ri 1,33. Andererseits gab es den Stamm Naftali schon gar nicht mehr, als das Buch Richter kompiliert wurde: sein Gebiet war mit dem ganzen Nordreich an die Assyrer gefallen, und diese hatten andere Ethnien angesiedelt. Und noch einmal zweitausendsiebenhundert Jahre später ist das Gebiet weitgehend israelisch, viele der früheren Bewohner haben es verlassen müssen… 

Bei meinem ersten Versuch, die Bibel ganz zu lesen, war ich etwa 15 Jahre alt, und ich habe ihn mitten im Buch Josua abgebrochen, vielleicht nicht weit entfernt vom Bibelvers dieser Woche. Es war einfach unerträglich. Historisch hat sich die Landnahme der Israeliten sicher nicht in der genozidalen Weise abgespielt, wie sie dort geschildert wird — die Archäologen finden keinen großflächigen Abbruch und Umbruch von Siedlungsstrukturen in jener Zeit, es sieht eher nach überwiegend friedlicher Durchmischung und Durchdringung aus. Zum guten Teil sind die Israeliten dann vielleicht Nachkommen von Gruppen, die „schon immer“ dort wohnten. Das Buch Josua verfolgt jedoch ein theologisches und gesellschaftlichen Erklärungsziel: Gott ist mit dem Volk, wenn es die Treue wahrt, er wird sich gegen das Volk stellen, wenn es ihn verläßt. Reinheit in der Entscheidung ist gefordert. Das ist Deuteronomium: Fluch und Segen in 5. Mose 28 und 30. Da gibt es eine Entsprechung und eine implizite Warnung an den Leser: So brutal die Einsetzung in das Erbe erfolgt, so brutal kann das Ende sein. 

Aber die Zuschreibung des Landes als Erbe an Naftali erinnert noch an etwas anderes. Die Orte haben bereits Namen, sie stammen aus der Zeit vor der Landnahme. Wir alle bewohnen Land, leben in Verhältnissen, die früher anderen gehörten oder heute anderen gehören könnten. Wir alle sind Kinder von Siegern, in einem ganz kreatürlichen Sinne: wir sind das letzte Glied einer schier endlosen Kette menschlicher und nichtmenschlicher Wesen, deren jedes sich fortpflanzen und das Überleben des Nachwuchses sicherstellen konnte. Zu jedem Zeitpunkt ist das vielen anderen nicht gelungen. Oftmals waren die Sieger, unsere Vorfahren, vielleicht nur genügsamer als die Verlierer, oder jene hatten einfach Pech. Oftmals aber haben die Sieger zum dem Ausgang aktiv das ihre beigetragen, in mancherlei Form. So war es immer, so wird es auch in tausend Jahren sein, in einer Welt, in der unsere Nachkommen vielleicht noch leben, vielleicht aber auch nicht. 

Wie fühlt man sich als Sieger? Ist denn der Herr mit den Siegern, oder siegt der, mit dem der Herr ist? Kain hat seinen Bruder Abel erschlagen, aber dennoch, trotz dieses ungeheuren Verbrechens steht er unter dem Schutz des Herrn, als derjenige, der die Fackel weiterträgt.  

Wenn es eine Erbsünde gibt, dann ist sie, so glaube ich, hier zu suchen. Unsere Existenz und die Voraussetzungen für unsere Existenz haben unendlich viel anderes weggedrängt, unmöglich gemacht in Zeit und Raum. Das ist unserem Leben eingeschrieben, unauslöschlich. Es wäre schön, wenn wir mit ebendiesem Leben dem Debit irgendwie gerecht werden könnten. 

Ich wünsche uns eine Woche, in der wir ein wenig dazu beitragen können, dass etwas gelingt, das es sonst nicht gegeben hätte. Vielleicht ist das die Antwort…
Ulf von Kalckreuth

Bibelvers der Woche 49/2018

Der Herr aber stand mir bei und stärkte mich, auf daß durch mich die Predigt bestätigt würde und alle Heiden sie hörten; und ich ward erlöst von des Löwen Rachen.
2 Ti 4,17

Hier ist ein Link für den Kontext, zur Übersetzung von 2017.

In des Löwen Rachen

Der 2. Timotheusbrief ist ein anrührendes und ausgesprochen persönliches Schreiben. Paulus sieht sich am Ende seines Lebens und schreibt seinem vertrauten Jünger und Freund Timotheus, den er einst selbst getauft und sogar beschnitten (!) hat (Apg 16). Der Brief ist gleichzeitig Testament und dringende Bitte um Beistand. 

Von Theologen wird die Echtheit der beiden Briefe an Timotheus in Frage gestellt. Der Duktus weiche von dem der anerkannt echten Briefe ab, so heißt es, und die darin aufscheinenden Gemeindestrukturen gehörten einer späteren Zeit an. 

Diese Argumente kann ich selbst nicht beurteilen. Beim 2. Timotheusbrief würde es sich in diesem Fall aber nicht um eine „normale“ pseudepigraphische Schrift handeln, in der jemand offen und mit Wissen des intendierten Lesers den Namen einer anerkannten Autorität benutzt, um den geistigen Hintergrund eines Schreibens zu bezeichnen; der Brief wäre vielmehr eine gezielte Fälschung. Der Schreiber hätte dann nämlich alles nur Erdenkliche getan, um durch viele Einzelheiten und persönliche Anspielungen den Eindruck zu erwecken, Paulus sei tatsächlich der Verfasser. Wir wären in der Sphäre des Bibelkrimis. Als Fälscher — cui bono — käme in erster Linie Timotheus selbst in Frage, oder jemand, dem die Autorität von Timotheus wichtig war.

Ich kann konzeptionell nur schwer damit umgehen, dass der Vers der Woche „in Wahrheit“ eine Fälschung ist. Aber ich glaube es auch gar nicht. Wenn Theologen unserer Zeit diese Schrift durch bloße Betrachtung als Fälschung entlarven könnten, dann wäre dies den Zeitgenossen mit ihrem größeren kontextuellen Wissen noch viel leichter gefallen. Und mit seinen vielen Invektiven gegen namentlich genannte Personen gibt der Brief ja durchaus persönlichen Anlass für kritische Betrachtungen.

Paulus ist in Rom. Die erste Gefangenschaft dort und die Verhöre, an die er im Vers zurückdenkt, waren glimpflich ausgegangen, sie mündeten in einen Hausarrest und er konnte sich in Rom recht frei bewegen und kommunizieren. Nun ist er wieder eingekerkert, vermutlich im Zuge der Christenverfolgung unter Nero, und diesmal ist alles ganz anders. An seinem bevorstehenden Tod hat er keinen Zweifel. Er ist schwach und friert, er bittet Timotheus um den Mantel, den er in Troas zurückgelassen hat (siehe den Vers 30/2018).

In den letzten Zeilen des Briefs fühlt Paulus sich alleingelassen und zählt namentlich diejenigen auf, die ihn im Stich gelassen haben. Auf der Suche nach Trost, weit entfernt vom inneren Gleichgewicht, denkt er zurück an die Verhöre seiner ersten Gefangenschaft und jetzt wird er sehr jüdisch: er gerät in eine alte Fahrrinne, die über viele Jahrhunderte vorgezeichnet ist, allgegenwärtig in den Psalmen und auch bei den Propheten. Völlig allein ist er und die Feinde umringen ihn, der Rachen des Löwen ist aufgesperrt – im Wortsinn. Aber der Herr steht ihm bei, rettet ihn und der Betende verkündet öffentlich den Namen des Herrn und sein Wort. Eine genaue Parallele ist Psalm 22, 12‑24, aber auch Psalm 35, 17f passt gut. Daniel in der Löwengrube (KW 35) und die drei Freunde im Feuerofen (KW 31) folgen demselben Muster, auch das uralte Miriamslied, der Kern der Exoduserzählung.

Vielleicht sind dies die letzten schriftlichen Worte des Völkerapostels. Wer könnte ein solches Ende fälschen? Und wenn es so wäre, so enthielten sie doch eine Wahrheit jenseits der Wahrheit.

Der Herr stehe uns bei, wenn die Nöte uns umringen, in dieser Woche und immer. 
Ulf von Kalckreuth