Bibelvers der Woche 21/2021

…haben auch anderes Geld mit uns hergebracht, Speise zu kaufen; wir wissen aber nicht, wer uns unser Geld in unsre Säcke gesteckt hat.
Gen 43,22

Hier ist ein Link für den Kontext des Verses, zur Lutherbibel 2017.

Schulden, Schuld und Verzeihung

Der Vers ist aus der Josephsgeschichte, der längsten und komplexesten Erzählung der Torah. Joseph, der von seinen Brüdern ausgestoßen und in die Sklaverei verkauft wird, macht mit seinen besonderen Fähigkeiten unglaubliche Karriere: er wird Vizekönig in Ägypten. Es ergibt sich, dass seine Brüder während einer Hungersnot nach Ägypten ziehen, um Nahrungsmittel zu kaufen. Sie erkennen ihn nicht, und Joseph verkauft ihnen alles, was sie brauchen. Einer der Brüder aber, Simeon, muss als Pfand und Geisel in Ägypten bleiben, weil die Brüder im Verdacht stehen, Spione zu sein. In Wahrheit will Joseph die Brüder zur Rückkehr zwingen, mit dem jüngsten der Söhne Israels, Benjamin, der nicht nur denselben Vater, sondern auch dieselbe Mutter hat wie Joseph.

Wie gesagt, komplex. Die Brüder kehren nach Hause zurück und auf dem Weg durchfährt sie ein Schrecken: sie finden das Geld, das sie für das Brot bezahlt haben, vollständig in ihrem Gepäck wieder. Eigentlich könnte es eine gute Nachricht sein, wenn man mehr Geld hat als erwartet. Aber die Brüder fürchten eine Falle — jemand könnte ihnen unterstellen, das Geld gestohlen zu haben. So bleiben sie lange mutlos bei ihrem Vater in Palästina, ohne Simeon auszulösen, aus Angst vor dem seltsamen, mächtigen Mann in Ägypten.

Schließlich gehen sie doch dorthin zurück, der Hunger ist stärker. Aber da ist das überschüssige Geld, und nun auch die Scham, den Bruder zurückgelassen zu haben. Sie bringen das Geld zurück, und weiteres dazu, um neues Brot zu kaufen, und rechtfertigen sich ausführlich vor dem ägyptischen Verwalter — das ist der gezogene Vers. Schuldenfrei seien sie und unschuldig! Der Verwalter zeigt sich großzügig und sagt: Alles ist gut, alles ist bezahlt, der Überschuss ist ein Geschenk des Gottes eures Vaters.

In Wahrheit war es Joseph, der das Geld zurücklegen ließ — weil er für die Rettung seiner Brüder und des alten Vaters kein Geld nehmen konnte, zum anderen auch, um Schuld zu erzeugen. Die heimliche Gabe greift auch vor auf das Ende der zweiten Begegnung; da bekommen die Brüder einen wertvollen Becher zugesteckt, und dieses Mal werden sie wirklich des Diebstahls bezichtigt.

Kaufleute rechnen genau: Bestände müssen erklärbar sein, ein Zuviel ist ebenso schlimm wie ein Zuwenig. Als ich bei der Bank von England arbeitete, erzählte mir ein älterer Kollege, wie vor Jahrzehnten viele Monate lang einem kleinen Überschuss nachgespürt wurde. Die gewaltige Bilanz der Bank von England war nicht in Soll und Haben ausgeglichen, die Summe der Aktivseite war um einige Penny länger als die der Passivseite. Die Aufregung war nicht grundlos: Wenn in einem Buchungssystem einige Penny unerklärt auftauchen oder verschwinden, kann das morgen auch mit Hunderttausenden oder Millionen von Pfund geschehen. In der Josephsgeschichte wissen die Brüder genau, dass sich Geld nicht von selbst in den Säcken ihrer Esel materialisiert — hier geschah etwas, das sie nicht verstanden und das stärker war als sie. Dass der Verwalter den Gott ihres Vaters erwähnt, macht die Sache nicht leichter, auch vor diesem fühlten sie sich nämlich schuldig.

Die Geschichte erzählt von einer Schuldspirale, die sich immer weiter dreht, sich den Brüdern wie ein Korkenzieher ins Fleisch bohrt. Bis einer der elf bereit ist, sich für einen anderen zu opfern. Juda will den zu Unrecht beschuldigten Benjamin auslösen. Da endlich kann Joseph verzeihen, und aus dem Beziehungsgeflecht der Brüder verschwindet die Schuld, die dunkle Energie. Sie wird gestrichen! Ganz einfach, und doch so schwer. Schwer ist es, Verzeihung auszusprechen, und fast ebenso schwer, sie anzunehmen, damit umzugehen, dass der andere verzeiht. Bedeutet es doch eine Anerkenntnis der Schuld, die gestrichen werden soll. Statt immer weiter „recht“ zu haben.

Ich glaube, man muß einander sehr lieben dafür. Und so ist es auch zwischen uns und Gott.

Der Herr sei und bleibe uns gnädig. Ich wünsche uns allen ein frohes Pfingstfest!
Ulf von Kalckreuth

Bibelvers der Woche 18/2021

Den Gottlosen wird das Unglück töten; und die den Gerechten hassen, werden Schuld haben.
Ps 34,22

Hier ist ein Link für den Kontext des Verses, zur Lutherbibel 2017.

Rezepte fürs Glück

Damit muss man leben, wenn man zufällig zieht. Der Vers droht demjenigen schlimmes Unheil an, der dem ‚richtigen‘ Weg nicht folgt und er passt damit gut zu einer verbreiteten Erwartungshaltung der Bibel gegenüber. Auch in Kirchenkreisen spricht man gern von der ‚Drohbotschaft‘ als traurigem Gegensatz zur ‚Frohbotschaft‘. Ein schrecklicher Kalauer übrigens, den meine Rechtschreibhilfe nicht verzeiht. 

Man mag es kaum glauben, aber unser Vers hat tatsächlich eine frohe Botschaft. Der zweite Teil von Psalm 34 ist ein Lehrgedicht, wie es auch im Buch der Sprüche stehen könnte. Es geht um Rezepte fürs Glück. Die Einstiegsfrage lautet: „Wer ist’s, der Leben begehrt und gerne gute Tage hätte?“ Der Autor des Psalms zählt Wege auf: Wahrhaftigkeit, gute Werke und die Suche nach Frieden, und verweist dann ausführlich auf Gottes umfassende Sorge, die er den Seinen widmet (18-23):

Wenn die Gerechten schreien, so hört der Herr
und errettet sie aus all ihrer Not.
Der Herr ist nahe denen, die zerbrochenen Herzens sind,
und hilft denen, die ein zerschlagenes Gemüt haben.
Der Gerechte muss viel leiden,
aber aus alledem hilft ihm der Herr.
Er bewahrt ihm alle seine Gebeine,
dass nicht eines von ihnen zerbrochen wird.
Den Frevler wird das Unglück töten,
und die den Gerechten hassen, fallen in Schuld.
Der Herr erlöst das Leben seiner Knechte,
und alle, die auf ihn trauen, werden frei von Schuld.

Wie in den Spruchsammlungen üblich (siehe den Kommentar zum BdW 50/2020), wird die Botschaft rhetorisch als Gegensatzpaar formuliert. Positiv gewendet sagt unser Vers: Wer den Herrn liebt und ihm folgt, dessen Leben gelingt und er wird frei von Schuld.

Im Kern ist das eine empirische Aussage, wie sie für die Weisheitsliteratur typisch ist. Aber trifft sie denn zu? Es gibt in den Sozialwissenschaften eine gewachsene Literatur über die Determinanten der Lebenszufriedenheit, und in vielen Untersuchungen zeigt sich ein positiver Effekt von Religiosität. Ein großer Teil des Einflusses ist nicht direkt, sondern vermittelt über andere Größen wie gesundheitsbewusstem Verhalten, Familienleben, Altruismus. Hier (Link) ist eine neue Studie zu Deutschland, die mir methodisch gut gefällt, ich kenne einen der Autoren und sie stammt aus dem Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung (DIW), das über den Verdacht der Kirchennähe erhaben ist. Kirchgang oder Religiosität an sich fördert das Glück nicht so sehr wie die Dinge, die damit korreliert sind. Religiosität ist ein lebenspraktisches Muster, die Autoren sprechen von einem Rezept. Es würde mich übrigens nicht wundern, wenn Wahrhaftigkeit, gute Werke und die Suche nach Frieden in diesem Rezept eine wichtige Rolle spielten, leider sagt die Studie dazu nichts.

Unser Vers gibt der Schuld eine besondere Rolle für das Lebensglück — genauer gesagt: ihrer Abwesenheit. Die Seinen befreit der Herr von Schuld. Das ist im Christentum zentral. Aber warum sollte Gott das eigentlich tun? Regelbruch ist Regelbruch, und wenn Gott Regeln aufstellt und die Einhaltung verlangt, warum verzeiht er den Bruch? 

Schwierige Frage. Ich habe in der vergangenen Woche in einem Lied eine Antwort gefunden. Nicht in einem alten Choral diesmal, sondern in einem neuen Anbetungslied, Ever be von Bethel Music. Darin heisst es:

You’re making me like you, 
Clothing me in white,
Bringing beauty from ashes. 
For you will have your bride
Free of all her guilt and rid of all her shame
And known by her true name 
and it’s why I sing:
Your praise will ever be on my lips, ever be on my lips

Das Lied nimmt das Bild vom Volk Gottes als Braut auf, der Gott in herzlicher Liebe zugetan ist. Und dann ist es ganz natürlich, eigentlich selbstverständlich: Gott kann uns nicht erstickt in Schuld wollen, er will uns, seine Braut, frei und schön. Hier ist ein Link zum Lied,

Ich wünsche uns allen eine glückliche Woche!
Ulf von Kalckreuth

P.S. In dieser Woche erreichte mich die Email einer Freundin. Sie hat einen Blog begonnen, Tee mit Gott, worin sie den jeweiligen Wochenspruch mit einer kleinen Andacht versieht. Die Wochensprüche der evangelischen Kirchen in Deutschland werden nicht zufällig gezogen, sie sind eine kreisförmige und im Kirchenjahr sich wiederholende Bewegung durch die Bibel im Licht des Glaubens. Bei Desirées Blog geht es also nicht in der selben Weise wie hier um eine offene Entdeckungsreise durch die Bibel; sie legt statt dessen den Schwerpunkt auf das innere Erleben. Ich wünsche Desirée alles Gute auf der Fahrt und bin gern dabei!

Bibelvers der Woche 15/2021

Laban antwortete und sprach zu Jakob: Die Töchter sind meine Töchter, und die Kinder sind meine Kinder, und die Herden sind meine Herden, und alles, was du siehst, ist mein. Was kann ich meinen Töchtern heute oder ihren Kindern tun, die sie geboren haben?
Gen 31,43

Hier ist ein Link für den Kontext des Verses, zur Lutherbibel 1984.

Die Macht der Perspektive

In dieser Woche bin ich in der Nutzung meiner Augen ein wenig eingeschränkt, soll nicht lesen und auch möglichst wenig schreiben… Wie schön ist es da, dass ich vor fast drei Jahren Gen 31,42 gezogen habe, der dem Vers dieser Woche unmittelbar vorangeht. In jenem Vers erfährt eine lange schwelende Konfliktsituation ihre letzte Zuspitzung. Ein Gewaltausbruch scheint zwingend. In dem für diese Woche gezogenen Folgevers verwandelt einer der Antagonisten die Situation tiefgreifend. Hier gibt es Näheres zu dieser faszinierenden Szene und einen Kommentar.

Es ist wie ein Wunder: Laban erhält seinen Anspruch aufrecht, und dies durchaus mit gewissem Recht. Dies alles ist seins. Aber statt sich mit diesem Anspruch weiter gegen seinen Schwiegersohn zu wenden, fragt er plötzlich, wie er seinen Töchtern und deren Nachkommen am besten dienen kann. Die Antwort ist klar — sicher nicht, indem er den Schwiegersohn umbringt. Er bietet diesem statt dessen ein Bündnis an. Und den beiden Skorpionen in einer Flasche, Laban und Jakob, gelingt eine friedliche Trennung. 

Das ist mehr als Zauberei. Zauberei ist nämlich unmöglich, Perspektivwechsel nicht! 

Der Herr sei mit uns in dieser Woche!
Ulf von Kalckreuth

Bibelvers der Woche 13/2021

So kehret nun wieder, ihr abtrünnigen Kinder, so will ich euch heilen von eurem Ungehorsam. Siehe wir kommen zu dir; denn du bist der HErr, unser Gott.
Jer 3,22

Hier ist ein Link für den Kontext des Verses, zur Lutherbibel 1984.

Ruf ohne Antwort

Früh im Buch Jeremia spricht Gott zu seinen beiden Völkern, Israel und Juda. Israel, das Nordreich mit Hauptstadt Samaria, war reichlich 100 Jahre zuvor von den Assyrern in seiner staatlichen Existenz ausgelöscht worden. Viele Menschen waren deportiert worden, umgekehrt hatten die Assyrer auf dem Gebiet des Nordreichs fremde Völker angesiedelt, deren Nachkommen nun neben den Nachkommen der Hebräer lebten. Juda, dem Südreich mit Hauptstadt Jerusalem, steht ein ähnliches Schicksal durch die Babylonier kurz bevor. Das ganze Buch handelt davon, die ersten Kapitel stehen im Zeichen einer Warnung.

Gott will Israel verzeihen und ruft sein Volk. Die Abschnitte enthalten eine vorweggenommene Vision von der Rückkehr aus dem Exil. Wo sie auch sind, sollen sie kommen und sich in Jerusalem versammeln und dort gemeinsam mit Juda Leuchtturm aller Völker sein. Wer eine frohe Botschaft sucht, kann sie hier finden — noch 100 Jahre nach dem Untergang gedenkt der Herr seines Bundes und seines Volks. 

Im ersten Satz ruft Gott sein Volk, es möge zurückkommen. Im zweiten Satz imaginiert er die Antwort: ein freudiges Ja, verbunden mit tiefer Reue. In der Übersetzung von 2017 lautet der Text im Zusammenhang der folgenden beiden Verse:

Kehrt zurück, ihr abtrünnigen Kinder, so will ich euch heilen von eurem Ungehorsam. »Siehe, wir kommen zu dir; denn du bist der Herr, unser Gott. Wahrlich, es ist ja nichts als Betrug mit den Hügeln und mit dem Lärm auf den Bergen. Wahrlich, es hat Israel keine andere Hilfe als am Herrn, unserm Gott. Der schändliche Baal hat gefressen, was unsere Väter erworben hatten, von unsrer Jugend an, ihre Schafe und Rinder, Söhne und Töchter. So müssen wir uns betten in unsere Schande, und unsre Schmach soll uns bedecken. Den wir haben gesündigt wider den Herrn, unsern Gott, wir und unsere Väter, von unsrer Jugend an bis auf den heutigen Tag, und haben nicht gehorcht der Stimme des Herrn, unseres Gottes.«

Die in der neuen Übersetzung hinzugefügten Anführungszeichen erhellen den Text und verdunkeln ihn zugleich. Sie trennen sauber zwei Ebenen: das Rufen Gottes und die imaginierte Antwort seines Volks. Eigentlich ist beides eines: Gott ruft, weil er diese Antwort erhofft. Wie ein Vater, der nach seinem Kind ruft. 

Der Vers ist tragisch. Die Antwort kommt nicht. Es kommt gar keine Antwort. Vielleicht ist auch niemand mehr da, der antworten könnte. Gott, der Herr der Welt, zeigt sich hier hilflos und verletzlich. Er, dessen Wort die Wirklichkeit schöpft, spricht, und was er sagt, kommt leer zurück. Ich muß an König Lear denken, wie er auf der Heide im Sturm seine Töchter ruft — und Jeremia ist Zeuge, als hilfloser Narr.

Der Herr geleite uns durch diese Karwoche!
Ulf von Kalckreuth

Bibelvers der Woche 05/2021

Aber ehe sie sich legten, kamen die Leute der Stadt Sodom und umgaben das ganze Haus, jung und alt, das ganze Volk aus allen Enden,…
Gen 19,4

Hier ist ein Link für den Kontext des Verses, zur Lutherbibel 2017.

Straft Gott?

Im Buch Genesis stehen viele der schönsten und einige der furchtbarsten Geschichten in der Bibel, zu letzteren gehört die Vernichtung von Sodom. Ihre grobe Struktur ist ganz ähnlich der Sintflutgeschichte. Gott hört von den unseligen Taten und dem sündigen Leben der Einwohner dieser Stadt und will sie als Kollektiv vernichten. Er spricht mit Abraham davon, und dieser wendet ein, es könnte doch auch Gerechte unter den Bewohnern geben. Sicher denkt er dabei auch an seinen Bruder Lot, der in Sodom lebt, seitdem er sich von Abraham getrennt hat. Und Abraham handelt regelrecht mit Gott darum, wieviele Gerechte die Vernichtung der ganzen Stadt zu einem Unrecht machen würden — siehe den Bibelvers der Woche 40/2019. Gott verspricht, sich die Stadt und ihre Einwohner anzusehen, aus der Mikroperspektive. Zwei Engel Gottes besuchen die Stadt, Lot lädt sie ein, bei ihm zu speisen und zu nächtigen. 

An dieser Stelle steht der Vers. Hier soll ein Exempel statuiert werden, auch für den Leser. Deshalb macht die Bibel den Fall ganz klar: Die Einwohner der Stadt, ALLE ohne Ausnahme, versammeln sich um Lots Haus, um schreckliches Unrecht zu begehen: gemeinschaftlich wollen sie die beiden Engel des Herrn vergewaltigen. Dabei wird ganz irdisch das Gastrecht verletzt, mit einer sexuellen Aberration, welche die Bibel zutiefst verabscheut. Die Engel aber stehen stellvertretend für Gott selbst, daher ist das Vergehen nicht mehr zu steigern.

Obwohl Lot über das Wesen seiner Gäste im Unklaren bleibt, tut er alles — wirklich alles — das Gastrecht zu verteidigen, sein Schutzversprechen einzulösen. Er bietet der Meute als Ersatz seine beiden Töchter an, und macht sich dabei selbst schuldig. Die Städter wollen statt dessen über ihn, den Fremden herfallen, da ziehen die Engel ihn ins Haus und schlagen die Anwohner mit Blindheit. Im Schutz der Dunkelheit flieht die Familie: die Engel führen Lot, sein Weib und die beiden Töchter aus Sodom, bevor sie die Stadt mit Feuer und Schwefel vernichten, und später auch die umliegenden Siedlungen.

Der Vergewaltigungsversuch, von einer ganzen Stadt getragen, ist an sich vollkommen unplausibel. Die Geschichte hat Lehrcharakter und will nicht wörtlich verstanden werden. Die Aussage ist: Gott straft, wenn es zu viel wird, und er straft auch kollektiv. Dabei ist er gnädig, sieht auf das Verdienst und er gibt auch zweite und dritte Chancen, aber es gibt einen Punkt, an dem alles zu spät ist. Das ist im Vers der letzten Woche übrigens auch die Aussage des zweite Teils, über den ich nicht so viel gesprochen habe. Diese Aussage zieht sich nicht nur durch das Alte Testament — in einer großen Zahl apokalyptischer Bilder wird das Gericht auch im Neuen Testament ausbuchstabiert. 

Das Gericht ist unmodern geworden. Evangelische Theologen halten heute meist dafür, dass Gott sich aus der Geschichte herausgezogen habe und uns Menschen die Verantwortung dafür überlasse. Wie man früher hinter jedem Übel eine Sünde gesehen hat, die damit ihrer gerechte Strafe zugeführt wird, sieht man heute gern gesellschaftliche Missstände aller Art, nicht aber Gottes Wirken. 

Die Aussage der Bibel ist klar eine andere: Gott sieht, was geschieht und reagiert darauf. Geschichte entsteht in einem Wechselspiel der Aktionen Gottes und der Menschen. Auch die Bibel betont eine Verantwortung des Menschen, aber nicht direkt einer abstrakten Schöpfung oder „der“ Menschheit gegenüber, sondern konkret vor Gott. Diese Überzeugung hat sich in den beiden Katastrophen der Geschichte Israels gebildet, der Vernichtung erst des Nordreichs, und dann des Südreichs. Sie durchtränkt alle Fasern der jüdischen Bibel, deren Texte während und nach dem Exil kompiliert und redigiert wurden. Die Vernichtung Jerusalems und des Tempels durch die Römer hat die Sicht bestätigt, auch für die sich bildende christliche Kirche. 

Was ist wahr? Offen gestanden, ich weiss es nicht. Warum eigentlich sollte Gott permanent die Verletzungen seiner Gebote verfolgen? Tut er das wirklich? Das fragen oft auch die Psalmen. Sie fragen, weil das Gegenteil Unrecht wäre. Wenn Putin nun für seine Taten einfach ein gutes Leben hätte, in einem riesigen, königlichen Palast am Schwarzen Meer, dazu blendende Gesundheit und schöne Frauen? Werden nur manche Menschen bestraft, nicht aber alle? 

Uns muss klar sein, dass der christliche Glaubenskern — von der Gnade, die der Tod des Sohns für die erwirkt, die die Gnade annehmen — ausgesprochen sinnfrei ist, wenn es nichts gibt, das diese Gnade wichtig und not-wendig machte. Das Christentum ist eine Antwort auf die Vorstellung vom strafenden Gott. Die sozialdemokratische Vision Gottes verträgt sich nicht mit dem Bild des sterbenden Christus, er muß einen schrecklichen Fehler gemacht haben, er hat offenbar etwas ganz  Wichtiges nicht verstanden.

Noch einmal, wie ich hier sitze und schreibe, weiss ich es nicht. Zieht Gott uns zur Verantwortung? Um es an einem konkreten Beispiel festzumachen: ist Corona Ausdruck einer überzogenen Globalisierung und Interaktionsdichte, ganz hydraulisch sozusagen, oder steckt eine Botschaft darin? Eine Aufforderung? Lassen Sie uns mit dieser Frage in die nächste Woche gehen, ich glaube, die Antwort ist wichtig, auch wenn sie nur vorläufig, partiell und persönlich ist. 

Vielleicht hilft der folgende Test: ich selbst habe durchaus das Gefühl, ein Gegenüber zu haben, wenn ich über Corona nachdenke.

Gottes Segen sei mit uns in dieser Woche!
Ulf von Kalckreuth

Bibelvers der Woche 04/2021

Wer an den Sohn glaubt, der hat das ewige Leben. Wer dem Sohn nicht glaubt, der wird das Leben nicht sehen, sondern der Zorn Gottes bleibt über ihm.
Joh 3,36

Hier ist ein Link für den Kontext des Verses, zur Lutherbibel 2017.

Nur Gott weiß, wie…!

Aus Joh 3 haben wir schon in der letzten Woche gezogen. Das ist bemerkenswert. Laut Wikipedia hat die christliche Bibel (ohne die Apokryphen) 1189 Kapitel in 66 Büchern. Die Wahrscheinlichkeit, dass man zweimal hintereinander aus demselben Kapitel zieht, beträgt also — wenn alle gleich lang wären — rund 1/1200.  So etwas geschieht im Durchschnitt alle 23 Jahre.

Auch inhaltlich schließt der gezogene Vers eng an den der letzten Woche an, obwohl der Kontext ein ganz anderer ist. Der Vers wird gesprochen von Johannes dem Täufer. Dieser äußert sich hier ein letztes Mal zu Jesus. Jesus gewinnt Jünger, mehr als Johannes, und diese Jünger taufen viele Menschen. Die Jünger des Johannes wenden sich besorgt an ihren Meister. Was ist davon zu halten? Johannes betont noch einmal, dass er selbst nicht der Christus ist, sondern dass er den Christus verkündet. Der vom Himmel kommt, so sagt er, ist über allen. Der Sohn sagt, was er gesehen hat, und sein Zeugnis nimmt auf Erden niemand an. Wer es doch annimmt, der besiegelt die Wahrhaftigkeit Gottes, eine Entsprechung zu Joh 1,11f. Dann schließt Johannes seine Worte mit dem gezogenen Vers. 

Ganz wie in der letzten Woche: der Mensch erzeugt seine Realität selbst durch die Glaubensentscheidung. Das Licht kommt in die Welt und an ihm schieden sich die Geister. Gott schafft in Christus einen Weg aus der Verstrickung in Schuld. Wer den Weg geht, ist frei, wer ihn nicht geht, bleibt unter dem Zorn des Herrn. So einfach. Und so schwierig.

Denn was ist aus dem Gesetz geworden? Hat es sich aufgelöst? Genügt es, an den Christus zu glauben und alles ist gut?

Der Vers ist hier, in der Lutherbibel 1912, mißverständlich übersetzt. Das Wort „glaubt“ taucht zweimal auf. Beim ersten Mal steht im griechischen Original pisteuein, das bedeutet ‚glauben‘ im Sinne von ‚vertrauen‘, es steht für eine Haltung, nicht für Meinung. Bei der zweiten Nennung steht apeithon, ’nicht gehorsam sein‘, und so gibt es auch die Einheitsübersetzung wieder, ebenso wie die Lutherbibel 2017. Es geht also darum, Jesus zu folgen, seine Lehre ernst zu nehmen und den Versuch zu machen, sie im eigenen Leben umzusetzen. Jesus fordert Nachfolge, auch wenn das heute politisch unkorrekt klingt, siehe auch Joh 8,51.

Jesus hat eine hohe Affinität zum mosaischen Gesetz. Dabei destilliert er die Essenz, und die Essenz ist ihm wichtiger als der Wortlaut. Er ruft dazu auf, in eigenen Leben Platz zu schaffen, den Bedürftigen zu geben, er fasst das Gesetz im Liebesgebot zusammen: Gott zu lieben über alles und den Nächsten wie sich selbst. Das ist nicht jedermanns Sache. 

Nun tauschen aber die Jünger Jesu nicht einfach einen Kodex gegen einen anderen, in mancher Hinsicht schwierigeren. Der Vers spricht die rauhe Sprache des Täufers, aber sein Kern ist die Heilszusage:, die Frohe Botschaft: Wenn du es ernst meinst und Jesus folgst, so wirst du versuchen, seinen Weg zu gehen. Dabei wirst du immer wieder scheitern und in die Irre gehen. Kläglich gar oder lächerlich. Aber Gottes Gnade macht, dass du doch dein Ziel erreichst. Nur Gott weiß, wie…!

Ja. Diese Gnade des Herrn sei mit uns in dieser Woche!
Ulf von Kalckreuth

Bibelvers der Woche 36/2018

Und er suchte und hob am Ältesten an bis auf den Jüngsten; da fand sich der Becher in Benjamins Sack.
Gen 44,12

Und hier ist ein Link für den Kontext, zur Lutherbibel 2017

Vergeben

Den „Bibelvers der Woche“ gibt es nun seit etwa anderthalb Jahren. Anfangs standen die zufällig gezogenen Verse gänzlich zusammenhanglos nebeneinander. Nun scheinen sie gelegentlich miteinander zu sprechen. Ein Beispiel gab es in der vergangenen Woche, ein anderes waren die beiden Verse aus unterschiedlichen Paulusbriefen, die mit derselben Reise nach Jerusalem zu tun hatten. Und der heute gezogene Vers „spricht“ direkt mit dem Vers aus Woche 26/2018, Ende Juni, aus der Jakobsgeschichte: Laban und Jakob stehen sich in einem dramatischen Finale gegenüber — Laban hat Jakobs Zelt nach Diebesgut durchsucht und nichts gefunden.

Der für heute gezogene Vers ist aus der Josefsgeschichte. Diese erstreckt sich über 10 Kapitel, für Thomas Mann bot sie Stoff für einen vierbändigen Roman. Josef ist Wahrträumer, er versteht sich aber auch auf die Deutung der Träume anderer. Mit dem Bewusstsein der eigenen Herausgehobenheit und weil sein Vater Jakob ihm besonders zugeneigt ist, erregt er den Neid seiner Brüder. Sie werfen ihn in eine Zisterne und verkaufen ihn als Sklaven nach Ägypten. Seine Kunst als Traumdeuter bringt ihn nach einiger Zeit vor den Pharao. Josef deutet dessen Traum (sieben Kühe, sieben Ähren…) und bekommt den Auftrag, die Folgen der kommenden Hungersnot zu lindern. Damit wird er in Ägypten zum mächtigen Vizekönig.

Die Hungersnot führt seine Brüder aus Kanaan nach Ägypten. Sie wollen dort von dem unter Josef eingelagerten Getreide kaufen. Josef gibt sich nicht zu erkennen und schickt die Brüder mit Getreide wieder nach Haus, behält aber Simeon als Geisel. Er verlangt, dass bei der zweiten Reise auch Benjamin mitkomme. Dieser ist der Lieblingssohn des Vaters, wie Josef selbst ein Sohn Jakobs mit Rahel, der Liebe seines Lebens. Auch beim zweiten Mal erhalten die Brüder Getreide, aber wieder werden sie nach Hause geschickt. 

Im Sack von Benjamin lässt Josef einen silbernen Becher verstecken. Als die Brüder sich mit ihren Eseln auf den Rückweg gemacht hatten, schickt Josef seinen Majordomus hinter ihnen her und lässt sie bezichtigen: ein silberner Becher fehlt! Die Brüder schwören, dass derjenige sterben soll, bei dem er gefunden werde, und alle anderen sollen Josefs Sklaven sein. Der Haushälter sagt, es genüge, wenn derjenige Sklave wird, der den Becher genommen hat, die anderen sind frei. Nun kommt der gezogene Vers: der Becher wird bei Benjamin gefunden!

Wie bei Jakob und Laban ist die Suche nach Diebesgut hier Ausdruck und gleichzeitig Wendepunkt einer völligen Zerrüttung. Beide Male schwören die Beschuldigten, dass derjenige sterben soll, bei dem das Diebesgut gefunden wird. Es gibt auch sprechende Unterschiede: Bei Jakob wurde tatsächlich gestohlen, aber nichts gefunden. Bei Josef hingegen wurde nichts gestohlen, aber es wird etwas gefunden. Vorher verzichtet klug der Majordomus darauf, das tödliche Gelübde der Brüder anzunehmen: die Strafe könnte nicht umgesetzt werden.  

Den Brüdern müssen die Ohren geklungen haben, als der Majordomus ihre Habe durchsuchte. Sie alle (und Josef) waren ja dabei, als Laban seinerzeit Jakobs Zelt durchforsten ließ. Und nun müssen sie gedemütigt mit ihren Eseln dem Haushälter zurück in die Stadt folgen, zu dem fremden Machthaber und seinem Gerichtsspruch. Bei der dritten Begegnung in Josefs Palast bittet Juda, dass er selbst anstelle von Benjamin Sklave sein möge. Es wäre sonst zu viel für den Vater. Josef ist zu Tränen gerührt und gibt sich den Brüdern zu erkennen.

Warum nicht gleich? Warum das „retardierende Moment“, mit den zwei Reisen, dem untergeschobenen Becher und der Durchsuchung? Dramaturgisch wird hier ein bereits eingeführtes Motiv genutzt und variiert, wie in Filmen, bei denen einem bestimmten Motiv (Liebe, Kampf, Mord) je eigene musikalische Themen zugeordnet sind. In der Erzählung kann Josef damit seine bereits beträchtliche Überlegenheit noch steigern: er hat die wirtschaftliche Macht, er hat die physische Macht, und der „Diebstahl“ gibt ihm nun auch die moralische Macht, verbunden mit einer Richterrolle. Vergebung setzt voraus, dass man auch anders verfahren kann — aus einer Position der Unterdrückung heraus ist sie nicht möglich. Vielleicht will er sehen, wie die Brüder mit Benjamin verfahren. Dessen Rolle in der Brüderschar ist der von Josef recht ähnlich. Vielleicht aber kennt Josef selbst noch nicht das Ende, als er den Becher verstecken lässt.

Unter Tränen interpretiert Josef das Geschehene als eine Fügung Gottes. Die Brüder sollen sich über ihren Anschlag nicht grämen: zu dem brutalen Zerwürfnis sei es gekommen, damit Josef in Ägypten die Möglichkeit habe, die Folgen der schrecklichen Hungersnot von der Familie in Kanaan abzuwenden. Mit dieser Figur räumt er die Schuld aus der Welt. Welch eine Selbstverleugnung! Josef braucht alle Kraft, derer er habhaft werden kann, um den Abgrund zu überwinden — den zwischen ihm und den Brüdern ebenso wie den Abgrund in sich selbst.

Sich gegenseitig zu durchsuchen, zu filzen, ist die Spitze des Misstrauens. Danach kann eigentlich nichts mehr kommen. Aber in beiden Geschichten steht die entwürdigende Durchsuchung unmittelbar vor einem Akt der radikalen Vergebung durch Verzicht, einseitigem Verzicht. 

Wir beten „…wie auch wir vergeben unseren Schuldigern“. Was genau meinen wir damit? Was ist hier gefordert, und was können wir geben? 

Ich wünsche jedem von uns, dass er oder sie in naher Zukunft einem Schuldiger vergeben kann — vielleicht in dieser Woche?
Ulf von Kalckreuth