Bibelvers der Woche 29/2024

Und es ist kund geworden allen, die zu Jerusalem wohnen, also dass dieser Acker genannt wird auf ihrer Sprache: Hakeldama (das ist: ein Blutacker)
Apg 1,19

Hier ist ein Link für den Kontext des Verses, zur Lutherbibel 1984.

Von einem Acker und einem Menschen

What’s in a name? Das fragt Julia ihren Romeo, und sie meint damit, dass Namen ohne Belang seien — Romeo ist ein Montague, sie eine Capulet, und die damit verbundene Tragödie sei nur Einbildung, sagt sie — ein soziales Konstrukt, würde man auf neudeutsch sagen. Am Ende aber liegt sie tot neben ihrem Geliebten. 

Unser Vers handelt vom Namen eines Ackers. Er heißt Blutacker, sagt Petrus, weil Judas den Acker gekauft habe und den Jünger dort sein seit ewiger Zeit vorherbestimmtes Schicksal ereilte. Judas stürzte und barst entzwei, und seine Eingeweide quollen aus dem Leib, erzählt Petrus. Er zitiert dabei einen Psalm, den er als Prophezeiung sieht. Jesus war zum Himmel aufgefahren, und nun muss der Platz neu besetzt werden, den Judas freigemacht hat. Die Welt dreht sich weiter, die Apostelgeschichte beginnt.

Das ist aber nicht die Geschichte, die wir aus der Erzählung von Matthäus kennen. Der Evangelist schreibt, der Blutacker heiße so, weil er mit Blutgeld bezahlt sei. In seiner Version bringt Judas den Priestern die dreissig Silberlinge zurück, die er für den Verrat an Jesus erhalten hat,. Seine Tat reut ihn tief. Die Priester aber wollen das Geld nicht und sagen ihm, er solle allein klarkommen. Judas wirft das Geld in die Tempelkasse, geht und erhängt sich. Die dreissig Silberlinge seien Blutgeld, sagen die Priester, es dürfe nicht im Tempel bleiben. Und sie kaufen von dem Geld einem Töpferacker, der als Begräbnisort für namen- und mittellose Fremde dienen soll und fortan Blutacker genannt wird.

Zwei sehr unterschiedliche Geschichten, von einem Acker und einem Menschen. Schaut man genauer hin, werden die Unterschiede sehr bedeutsam. 

Was treibt den Verrat? Bei Matthäus ist es Geldgier. Petrus hingegen sagt, die Tat geschah, weil sie geschehen musste. Sie lag im Plan Gottes. Alles war vorherbestimmt, der Verrat des Judas wie auch sein Tod. Für Petrus war der Verräter Judas ein Instrument Gottes und seiner Bestimmung für die Menschen, ein Rad in der Erlösungsmaschine.

Ich habe vor einiger Zeit über die eigentümliche Rolle Judas‘ geschrieben, siehe die BDW 21/2020 und 37/2023. Er tut, was geschehen muss und saugt dabei alle Schuld auf wie ein Staubsauger. Judas stirbt fast gleichzeitig mit Jesus in tiefer Nacht, als sein dunkler Bruder. In der Gründonnerstagsnacht dieses Jahres hatte ich ein Gespräch darüber, und mein Gegenüber machte mich auf die Apostelgeschichte aufmerksam, auf den Text, aus dem wir jetzt gezogen haben.

Ja, was ist in einem Namen? Welche der beiden Geschichten zum Acker ist richtig? Im buchstäblichen Sinne vielleicht keine. ‚Dam‘ heißt Blut, und ‚adom‘ bedeutet rot, lautlich und ethymologisch sehr nah. Es war ein Töpferacker, und seiner Farbe wegen mag er schon immer so geheissen haben. Aber hinter dem Namen steckt eben diese andere Frage — was um aller Welt hat dieser Verrat zu bedeuten? Wenn Petrus recht hat, steht Judas in der Heilsgeschichte in gewisser Weise neben Johannes.

Der Blutacker liegt im Gehinnomtal südlich Jerusalems und gehört seit dem 16. Jahrhundert der armenischen Kirche. Sie nutzte den Ort bis ins 19. Jahrhundert als Begräbnisort für Fremde. Heute steht dort ein Kloster.

Gott segne uns in dieser Woche! 
Ulf von Kalckreuth 

Bibelvers der Woche 04/2024

Es ist kein Gott wie der Gott Jesuruns. Der im Himmel sitzt, der sei deine Hilfe, und des Herrlichkeit in Wolken ist.
Dtn 33,26

Hier ist ein Link für den Kontext des Verses, zur Lutherbibel 1984.

Wenn nichts bleibt als ein Segen…

Ein Segensspruch. Mose weiss, dass er sterben muss. Nachdem er Josua als seinen Nachfolger in der militärischen und politischen Führung eingesetzt hat — dazu hatten wir vor wenigen Wochen den BdW 50/2023 gezogen — und mit dem „Lied des Mose“ den Israeliten sein geistliches Testament übergeben hat, ist es nun Zeit, Abschied zu nehmen. Die Söhne Jakobs sind zu Stämmen eines Volks geworden. Und genau wie Jakob am Ende des Buchs Genesis sterbend seine Söhne segnet, ist es nun an Mose, die Stämme Israels zu segnen, jeden einzeln, Stamm für Stamm. Der Segen, den wir gezogen haben, lautet im Ganzen wie folgt (Lutherbibel 1984, Dtn 33,26f):

Es ist kein Gott wie der Gott Jeschuruns, der am Himmel daherfährt dir zur Hilfe und in seiner Hoheit auf den Wolken. Zuflucht ist bei dem alten Gott und unter den ewigen Armen. Er hat vor dir her deinen Feind vertrieben und geboten: Vertilge! 

Wer aber ist Jeschurun, dem dieser Segen gilt? Hier ist der Eintrag im Bibellexikon. Der Name tritt im Alten Testament nur viermal auf. In dreien dieser Fälle verweist er auf das Volk Israel als Ganzes. Hier aber, an dieser Stelle, würde man eigentlich den Namen eines Stammes erwarten. Aber keiner der Söhne Jakobs heißt Jeschurun. Es gibt die Vermutung, dass hier vielleicht ein Segen für eine nicht ursprünglich israelitische Bevölkerungsgruppe eingefügt wurde.

Es ist spannend, die Segnungen am Ende des ersten und des fünften Buchs Mose zu vergleichen, Gen 49 vs. Dtn 33. Es sind im fast dieselben Namen und es ist derselbe Duktus, oft geheimnisvoll und mit Bezügen, die wir nicht mehr verstehen. Manche Segenssprüche in den beiden Texten entsprechen einander, wie die für Asser und Sebulon, andere sind sehr unterschiedlich, am auffälligsten die Sprüche für Levi. Einige Stämme werden von Mose sehr kursorisch behandelt, als seien sie nurmehr eine ferne Erinnerung. Simeon taucht in Moses Abschied gar nicht mehr auf. Der Stamm scheint nur vorübergehende Existenz besessen zu haben, siehe die etwas schwermütige Betrachtung zu BdW 51/2020

Kann es sein, dass der Segen für Jeschurun ursprünglich dem Stamm Simeon galt und nun in der Bibel fortlebt als Segen für Gottes Volk als Ganzes? Was für eine Vorstellung: wenn von Menschen am Ende nichts bleibt als — ein Segen? 

Und der Gott, der im Himmel sitzt, sei unsere Hilfe!
Ulf von Kalckreuth

Bibelvers der Woche 33/2023

Und Jakob fragte ihn und sprach: Sage doch, wie heißest du? Er aber sprach: Warum fragst du, wie ich heiße? Und er segnete ihn daselbst.
Gen 32,20

Hier ist ein Link für den Kontext des Verses, zur Lutherbibel 1984.

Abgrund

Eine dunkle Geschichte. Man könnte ein Buch dazu schreiben… Jakob kämpft mit Gott. Und behält die Oberhand. Wie kann das sein, wie kann er es überleben, wenn schon der Anblick Gottes tötet?

Für Jakob soll sich alles entscheiden. Sein ganzes Leben hat er gekämpft. — mit Esau um die Anerkennung des Vaters, mit Laban, seinem Onkel und Schwiegervater, um Herden, um Kinder, um Anerkennung. Was er gewonnen hat, will er nach Hause bringen, die Herden, die beiden Frauen und ihre Mägde, Mütter seiner Kinder, und die Söhne, aus denen ein Volk werden soll. Und nun steht ihm die Begegnung mit dem Bruder bevor. Der ist mächtig und kann gewalttätig sein, und Grund dazu hätte er allemal.

Jakob hat Angst. Er bleibt nachts allein am Fluß, dem Jabbok. Dort greift jemand ihn an, stumm und bestimmt. Wer? 

Die beiden Gegner sind verräterisch gleichwertig. Sie kämpfen viele Stunden, die ganze Nacht, ohne Entscheidung. Schließlich fügt Jakobs Gegner diesem eine schwere Verletzung zu, und gleichzeitig — gleichzeitig! — gewinnt Jakob die Oberhand. 

Der Angreifer trägt dämonische Züge. Er will fort, weil die Sonne aufgeht. Aber Jakob lässt ihn nicht gehen. Er verlangt zwei Dinge: den Namen seines Gegners und dessen Segen. Das Wissen um den Namen eines anderen verleiht Macht, und der Unbekannte lehnt ab. Die Forderung  nach dem Segen hingegen ist absurd, nach einem viele Stunden lang auf Leben und Tod geführten Kampf. Doch ja: der Fremde segnet Jakob. Und er gibt ihm einen neuen Namen: Israel — „der mit Gott kämpft“, so jedenfalls kann man diesen Namen lesen. Es wird der Name eines Volks.

Hier wird die Bibel deutlich: Der geheimnisvolle Gegner ist Gott oder ein Werkzeug Gottes. Mir will scheinen, dass Jakob ebenso auch mit sich selbst kämpft. Ein Widerspruch ist das nicht — wo wollen wir den mächtigen und unbekannten Gott finden, wenn nicht im Dunkel der Nacht in uns? 

Mich erinnert die Geschichte an den Kampf Ahabs mit dem weissen Wal in Melvilles ‚Moby Dick‘, dem „großen weissen Gott“, wie es an einer Stelle heißt. Ahab kämpft ebenso mit dem Abgrund in sich selbst wie mit der abgründigen Gottheit. Aber statt der gegenseitigen Vernichtung steht bei Jakobs Kampf am Jabbok am Ende ein Segen.

Ich wünsche uns eine gesegnete Woche!
Ulf von Kalckreuth 

Bibelvers der Woche 11/2021

Seine Augen sind wie eine Feuerflamme, und auf seinem Haupt viele Kronen; und er hatte einen Namen geschrieben, den niemand wusste denn er selbst.
Off 19,12

Hier ist ein Link für den Kontext des Verses, zur Lutherbibel 1984.

Namen

Die Offenbarung des Johannes beschreibt den Untergang der alten Welt und die Heraufkunft einer neuen. In Kapitel 19 hat der Endkampf den Höhepunkt erreicht. Die Hure Babylon, sie steht für das römische Weltreich, ist untergegangen. Nun tritt Christus selbst auf. Er führt seine Heiligen und Engel in den Kampf gegen „das Tier“, den Antichrist. Jener führt ein mächtiges Bündnis der Könige der Welt, er steht vielleicht für die Macht der Welt an sich. Vor ziemlich genau einem Jahr, in Woche 13 /2020, hatten wir einen Vers aus demselben Kapitel gezogen.

Vor der Entscheidungsschlacht steht die Vorstellung des Protagonisten. Wir hatten ihn kennengelernt als Heiler, Prediger, Lehrer, Prophet und leidender Gottesknecht. In diesem Abschnitt aber ist er Kämpfer, Führer, König — ganz Messias. Er richtet und kämpft mit Gerechtigkeit, so heißt es. Im Endkampf von Gut und Böse ist von Liebe, Mitleid, Erbarmen und Gnade keine Rede. Hier ist der ganze Abschnitt: 

Und ich sah den Himmel aufgetan; und siehe, ein weißes Pferd. Und der darauf saß, hieß: Treu und Wahrhaftig, und er richtet und kämpft mit Gerechtigkeit. Und seine Augen sind wie eine Feuerflamme, und auf seinem Haupt sind viele Kronen; und er trug einen Namen geschrieben, den niemand kannte als er selbst. Und er war angetan mit einem Gewand, das in Blut getaucht war, und sein Name ist: Das Wort Gottes. Und ihm folgten die Heere im Himmel auf weißen Pferden, angetan mit weißer, reiner Seide. Und aus seinem Munde ging ein scharfes Schwert, dass er damit die Völker schlage; und er wird sie regieren mit eisernem Stabe; und er tritt die Kelter, voll vom Wein des grimmigen Zornes Gottes, des Allmächtigen, und trägt einen Namen geschrieben auf seinem Gewand und auf seiner Hüfte: König aller Könige und Herr aller Herren. (Off 19, 11-16)

Dem Christus werden Namen beigegeben. Nach alter Tradition offenbaren Namen die Eigenschaften des Bezeichneten. Sie stehen für seine Identität, und machen ihn in gewisser Weise verfügbar. Die Nennung steht in Entsprechung, aber auch in gewissem Kontrast zu Jes 9,5: „Denn uns ist ein Kind geboren, ein Sohn ist uns gegeben, und die Herrschaft ist auf seiner Schulter; und er heißt Wunder-Rat, Gott-Held, Ewig-Vater, Friede-Fürst“. 

Die hier genannten Namen sind „Treu und Wahrhaftig“, „Wort Gottes“ und „König aller Könige, Herr aller Herren“. Im gezogenen Vers ist darüber hinaus von einem vierten Namen die Rede. Er wird nicht genannt, weil er nicht genannt werden kann, weil niemand ihn weiß denn er selbst. 

Gott hat viele Namen in der Bibel. Als er sich offenbaren, nahbar machen will, stellt er sich Mose mit seinem Eigennamen vor. Wir haben diesen Namen teilweise vergessen: Die Konsonanten kennen wir noch, nicht mehr die Vokale. Das setzt der Verfügbarkeit Grenzen. Mit der Gestalt des Christus ist es vergleichbar. Wir sind mit ihr vertraut — dafür stehen die bekannten Namen. Aber Wesentliches an ihr bleibt unverfügbar, bleibt ein Geheimnis.

Die Bilder des Abschnitts sind in mancherlei Hinsicht erschreckend. Aber ich denke an den Reiter auf dem weissen Pferd, dem die Heere des Himmels folgen, sie alle angetan mit weisser Seide, und ich empfinde in eigentümlicher Weise Trost dabei. Oh when the saints go marching in… Vielleicht kommt es am Ende auf das an, was wir nicht wissen.

Gottes Segen sei mit uns in dieser Woche und immer
Ulf von Kalckreuth

Bibelvers der Woche 51/2020

…, Ziklag, Beth-Markaboth, Hazar-Susa,…
Jos 19,5

Hier ist ein Link für den Kontext des Verses, zur Lutherbibel 1984.

Uns bleiben nur nackte Namen

Drei Namen nur. Angespülte Fragmente eines uralten Heilsversprechens. Erinnern Sie sich an den Vers der Woche 43/2020, vor zwei Monaten? Der Herr gebot Josua, das eroberte Land gemeinsam mit dem noch nicht eroberten Land per Losverfahren an die Stämme Israels auszuteilen. Im Vers dieser Woche werden nun Ortschaften benannt, die an den Stamm Simeon gehen sollen. Vor fast genau zwei Jahren, in Woche 50/2018, hatten wir schon einmal einen Vers aus dem selben Abschnitt, der gleichfalls eine Aufzählung von Orten beinhaltete; sie waren für den Stamm Naphtali bestimmt. 

Ich habe eine Entdeckung gemacht. Ziklag wird auch unter den Städten genannt, die in Jos 15,20ff dem Stamm Juda zugeteilt werden. Die Schrift „erklärt“ diese und andere Doppelungen: Das Land des Stamms Simeon liege inmitten der Lande der Judäer (Jos 19,1) — es sei aus dem Erbteil der Judäer genommen, weil diese nicht zahlreich genug waren, ihren Anteil auszufüllen (Jos 19,9). Das klingt ganz nach einer vorübergehenden Lösung. Ein Blick auf die Karte zeigt, worum es geht. Simeon ist eine relativ kleine und wüstenhafte Enklave inmitten des Gebiets von Juda. Vielleicht wurde Simeon bei der Expansion Judas umschlossen, vielleicht waren die Bewohner an das Leben in der Wüste in einer Weise angepasst, die sie von den Judäern trennte? Unten ist ein Bild aus Mamshit, eine Stadt der Nabatäer in dem Gebiet von Simeon, mehr als tausend Jahre später. 

Mamshit, April 2017 Ulf von kalckreuth
Mamshit, April 2017, Ulf von Kalckreuth

Der Stamm Simeon hat etwas eigentümlich ephemeres: Bei der vermutlich ältesten Auflistung der Stämme Israels, im Lied der Deborah, ist Simeon nicht vertreten, auch beim Segen des Mose wird der Stamm nicht genannt. In den späteren Schriften der Prophetenzeit fehlt er wiederum: Simeon wird daher gemeinhin unter die verschwundenen zehn Stämme gerechnet. Die Existenz des Königreichs Juda, in dessen Gebiet Simeon lag, ging aber erst mit der Invasion der Babylonier zu Ende. Simeon muss also irgendwann in Juda aufgegangen sein. Die Bevölkerungsgruppe hatte den Status eines Stammes Israels wohl nicht immer und behielt ihn nicht dauerhaft. 

„Die Rose von einst steht nur noch als Name, uns bleiben nur nackte Namen“. So endet Der Name der Rose von Umberto Eco. In der Offenbarung des Johannes, am Ende des Neuen Testaments, wird Simeon wieder genannt als einer der zwölf Stämme, die das Reich Gottes erben werden. Und der Vorname Simon ist im jüdischen und im christlichen Kontext unvergessen und wichtig. Was bedeutet das für das große Versprechen, die Verteilung von Land an die Stämme? 

Die Botschaft der Verheissung selbst ist ewig, nicht die Realität der Zuordnung. Verheissung auf ihren Kern reduziert. Unser Vers verbindet die Namen von Ortschaften, die heute zumeist längst verfallen sind, auf ewig mit dem Namen eines Stammes, den es nicht sehr lange gab.

Wenn man dazu bereit ist, kann man hinter den kargen Namen unseres Verses eine weihnachtliche Botschaft finden. Wir haben in Woche 43/2020 gesehen, dass die Verteilung des Heiligen Lands im Wesenskern ein Versprechen ist, mit überzeitlichem Charakter. Es bezieht seine Realität daraus, dass Menschen ihm glauben und folgen. Das gilt auch für das große Heilsversprechen, für welches das Weihnachtsfest steht. Dies Versprechen selbst ist ja eigentümlich unbestimmt. Könnten Sie es mit Alltagsvokabular benennen? Aber es ist wie ein Placebo mit kosmischer, realitätserschütternder Kraft — wahr wird es, wenn und soweit wir ihm folgen. Da sind Jesus und das Neue Testament sehr deutlich. Wer die Verheissung annimmt, sieht sie in Erfüllung gehen. In je eigener Weise, vielleicht sieht jeder etwas anderes. 

O come, o come, Immanuel… 

Ich wünsche uns allen eine gesegnete dritte Adventswoche, und
חג חנוכה שמח
Ulf von Kalckreuth

Bibelvers der Woche 29/2020

Denn als Gott der HErr gemacht hatte von der Erde allerlei Tiere auf dem Felde und allerlei Vögel unter dem Himmel, brachte er sie zu dem Menschen, dass er sähe, wie er sie nennte; denn wie der Mensch allerlei lebendige Tiere nennen würde, so sollten sie heißen.
Gen 2,19

Hier ist ein Link für den Kontext des Verses, zur Lutherbibel 2017.

Namen

Der Vers bringt uns zurück an den Anfang. Die Welt taucht auf aus ihrem Urgrund und ihre Konturen, die Unterscheidungen, werden eingezogen. Die Schöpfung wird zweimal erzählt. Die „erste“, jüngere Schöpfungsgeschichte berichtet einen geordneten kosmologischen Vorgang: Durch sein Wort schafft Gott Licht, Himmel, Meer, Pflanzen, Sterne, Mond und Sonne, Fische und Vögel, die Tiere des Feldes und schließlich Menschen, als Mann und Frau. Der zweite Schöpfungsbericht, der ältere, setzt eine Welt bereits voraus. Er berichtet von der Schöpfung erst des Mannes, dann der Tiere und schließlich der Frau. Adam wird nicht durch das Wort erschaffen, sondern in Gottes Händen aus Lehm geformt und durch seinen Atem belebt. 

Im älteren Bericht dient das Wort der Kommunikation mit dem Menschen. Gott schafft sich ein Gegenüber und setzt es in den Garten Eden. Jetzt wird gesprochen, vorher nicht: Gott bestimmt dem Menschen Grenzen für sein Tun. Dann will er dem Menschen ein Gegenüber schaffen, so wie er sich selbst ein Gegenüber geschaffen hat. Es geschieht das, wovon der gezogene Vers spricht: Gott schafft Tiere und bringt sie dem Menschen in den Garten Eden, um zu sehen, wie er sie nennen werde, denn so sollten sie fortan heißen. Dabei ist Gott passiv: er zeigt sie dem Menschen und hört zu, wie dieser Worte für die neuen Mitgeschöpfe seiner Welt findet.

Ein erstaunliches Bild. Der Mensch ist hier Partner im Schöpfungsvorgang, beinahe gleichberechtigt. Der Schöpfungsakt ist erst abgeschlossen, wenn das Geschöpf nicht nur physisch, sondern auch geistig in der Welt verankert ist, und diesen zweiten Teil führt — in Gottes Auftrag — der Mensch aus. 

Namen haben im alten Orient eine große Bedeutung. Durch Namensgebung wird ein Mensch ansprechbar und auch empfänglich für Fluch und Segen. Den Namen eines Menschen zu kennen, bedeutet ein gewisses Maß an Macht. Den Namen geben zu können, ist große, beinahe uneingeschränkte Macht. Der Name steht für den Wesenskern eines Menschen und seinen Platz in der Welt, und er definiert beides. Das Recht zur Namensgebung liegt bei den Eltern — das Buch Genesis berichtet von Namensgebung durch Mütter wie auch durch Väter — und sonst nur bei Königen und bei Gott. Gott und Könige können Namen ändern und den Menschen und seine Beziehung zur Welt dadurch gewissermaßen neu schaffen.

Namensgebung ist Unterscheidung, die Schaffung von Kategorien, die Möglichkeit, zu beschreiben, zu verstehen, zu planen. Der Vers spricht davon, dass wir einen eigenständigen, geistigen Schöpfungsauftrag haben. Das wir ihn, wenn er gelingen soll, als Partner Gottes, in seinem Auftrag ausführen sollen. Dass diese Schöpfung Leben schafft, belebt. 

Vielleicht weiss der Vers davon, was ein junger oder auch ein älterer Mensch mit seinem Leben anfangen kann. Ich will es gar nicht ausbuchstabieren. Es ein großes, schönes, ungeheuer archaisches Bild: Gott bringt dem Menschen seine Tiere und lauscht, wie er sie nennen werde!

Ich wünsche uns eine Woche, in der wir Mitschöpfer sein können,
Ulf von Kalckreuth

Bibelvers der Woche 18/2020

Die Kinder des Weibes Hodijas, der Schwester Nahams, waren: der Vater Kegilas, der Garmiter, und Esthemoa, der Maachathiter.
1 Chr 4,19

Hier ist ein Link zum Kontext in der Lutherbibel 2017.

Menschen, ihre Großfamilien und ihre Orte

Das Buch Chronik gibt den Inhalt von Teilen Samuels und der beiden Königsbücher aus einer alternativen, stark auf den Tempel und das Südreich bezogenen Sicht wieder. Am Anfang des ersten Chronikbuchs steht die „genealogische Vorhalle“. Hier werden, Stamm für Stamm, die Beziehungen zwischen den wichtigen Sippen, Siedlungsgebieten und Städten erörtert. Dabei werden Städte und Landschaften wie Menschen behandelt: sie werden mit ihren Gründern identifiziert und sind in nachvollziehbar Weise verwandt miteinander; es lassen sich Verhältnisse von Über- und Unterordnung feststellen und begründen. Das gleiche Prinzip finden wir im Buch Genesis. Israel ist der Name eines Mannes, nicht nur eines Volks, Juda ebenso. Reihenweise werden Völker, Stämme, Städte auf einzelne lebende Menschen zurückgeführt.

Der gezogene Vers stammt aus einem von mehreren Abschnitten, in denen die Familien, Städte und Landschaften Judas behandelt werden. Den genauen Wortlaut des gezogenen Verses verstehe ich leider im einzelnen nicht, trotz großer Mühewaltung. Hodija wird vorher und nachher nirgends sonst erwähnt, auch Naham nicht, es ist nicht klar, wie die beiden Männer im Stamm Juda überhaupt verankert sind. Und bei Kegila (Keïla) und Esthemoa kann es sich um Menschen handeln oder auch um die Städte gleichen Namens: das alte Hebräisch gebraucht für Stammvater / Gründer nämlich das Wort für einen biologischen Vater, אב. Die Zuschreibungen „Garmiter“ und „Maachatiter“ können sich auf die Herkunft eines Menschen beziehen oder auf die Zuordnung zu einer Sippe oder einem Volk. 

Mit diesen Ambivalenzen im Originaltext sind die mir zugänglichen Bibelübersetzungen sehr unterschiedlich umgegangen. Ich will hier nur die Lösung der katholischen Einheitsübersetzung erwähnen. Dort geht man davon aus, dass das Wort Hodija gar nicht der Name eines Mannes ist, sondern das Resultat eines Übertragungsfehlers: am Anfang des Worts ist der Buchstabe Jod verloren gegangen. Dann nämlich heißt es jehudiah — von Juda –, und man erhält als Konjektur eine Lösung, die zum Text vorher gut passt: ein Mann namens Mered hatte zwei Frauen, eine ägyptische Frau, die Tochter des Pharao, und eine Frau aus Juda. Die judäische Frau war Schwester von Naham, des Gründers der Städte Kegila und Esthemoa.  

Vielleicht ist die Ambivalenz gerade der Schlüssel zu dem, was der sonderbare Vers uns heute sagen kann. Menschen leben in Landschaften und Städten, und die Landschaften und Städte sind durch Menschen geprägt, und sind in der Geschichte miteinander und mit ihren Bewohnern untrennbar verbunden. Die Bibel behandelt in einer heute politisch inkorrekt wirkenden Weise geographische Einheiten konsequent wie Menschen. 

Menschen, ihre Großfamilien und ihre Orte. Die Kalckreuths pflegen eine Familiengeschichte. Sie wird auf der Grundlage einer großen Arbeit aus dem Ende des neunzehnten Jahrhundert fortgeführt. Vor einigen Wochen erreichte mich eine Anfrage eines Mannes aus den Niederlanden, der seine Familie erforscht und dabei auf eine geborene Kalckreuth gestoßen ist. Ihr Name, Barbara Dorothea, taucht in unserer Familiengeschichte nicht weniger als viermal auf, immer im Umfeld desselben Guts. Zwei der Einträge beziehen sich vermutlich auf dieselbe Person, die anderen beiden aber lebten nicht zur gleichen Zeit. Hier gibt es eine überzeitliche Beziehung zwischen einem Ort und mehreren Menschen gleichen Namens. Es wäre schön, mehr über das Gut und die Familien zu wissen, deren Leben um den Ort kreiste. Der holländische Ahnenforscher war jedenfalls sehr erfreut über das, was er aus unserer Familiengeschichte erfuhr, und gemeinsam konnten wir die Gesuchte identifizieren.

Menschen, ihre Großfamilien und ihre Orte sind die grundlegenden Einheiten, aus denen die biblische Welt sich zusammensetzt. In der siebenten Woche der Kontaktbeschränkungen sind Bildschirme das wichtigste, beinahe einziges Interface zur Wirklichkeit geworden. Über Bildschirme haben wir Kontakt zu anderen Menschen, die ihre Welt ihrerseits ganz genauso erleben, und es gilt gleich, ob sie in Frankfurt, Jerusalem, London oder Paris leben. Das wird Folgen haben. Es tut gut, sich daran zu erinnern: Die Welt setzt sich aus Menschen zusammen, aus ihren Familien und aus Orten, in denen sie interagieren — miteinander und gegeneinander. Corona löst diesen Zusammenhang in unseren Köpfen nachhaltig auf. Vielleicht ist dies die eigentliche Krankheit.

Ich wünsche uns eine Woche mit so viel Realität in den Köpfen wie möglich: Menschen, ihre Familien und ihre Orte. Gott sei mit uns,
Ulf von Kalckreuth

Bibelvers der Woche 47/2019

Ihr werdet aber über den Jordan gehen und in dem Lande wohnen, das euch der HErr, euer Gott, wird zum Erbe austeilen, und er wird euch Ruhe geben von allen euren Feinden um euch her, und ihr werdet sicher wohnen.
Dtn 12,10

Hier ist ein Link für den Kontext des Verses, zur Lutherbibel 2017.

Licht und Schatten

Das ist die Klammer um die ganze Torah, alle fünf Bücher, das große Versprechen: Ich führe euch heraus aus der Sklaverei, ich habe euch erwählt und nenne euch keinen Grund dafür, ihr müsst mir treu sein, dann gebe ich euch ein großes, reiches Land, das eure Heimstatt sei, und ihr werdet frei sein von Feinden und Bedrohung.

Das ganze fünfte Buch Mose spielt eine logische Sekunde, bevor das Versprechen wahr zu werden beginnt. Die Israeliten brechen aus der Wüste hervor, sie haben den Jordan erreicht und stehen nun bereit, ihn zu überschreiten, das Land einzunehmen. Mose darf diesen letzten Schritt nicht mehr mitgehen, er stirbt vorher, das weiß er, aber jetzt, am Ufer des Flusses, fasst er in einer langen Rede die ganze bisherige Heilsgeschichte zusammen, blickt nach vorn und rekapituliert und interpretiert die Gebote, die das Volk empfangen hat.

***

Unser Vers benennt das große Versprechen in einem besonderen Kontext. Zu einer Zeit, die noch nicht bekannt ist, an einem Ort, den Gott noch nicht benannt hat, soll das ganze Opferwesen der israelitischen Stämme zentralisiert werden. Im gezogenen Abschnitt wird also, noch bevor die Stämme die Stadt überhaupt kennen, der Anspruch des Tempels in Jerusalem begründet, einzige legitime Opferstätte und Ort der Anbetung zu sein, ja Wohnstätte Gottes. Das wirkt sehr ungleichzeitig: Als Mose spricht, ist Israel ein Volk „ohne festen Wohnsitz“ und eine einzige Anbetungsstätte für ihren körperlosen und unsichtbaren Gott, der stets mit seinem Volk zieht, ist eine absurde Vorstellung. Der Text beugt dem Einwand vor: jetzt tut ihr noch, was ihr wollt (V 8), aber bald werdet ihr ein festes und sicheres Land haben (unser Vers), dann könnt und sollt ihr anders verfahren.

Eine erhebliche Einschränkung. Der Text zeigt, dass immer, wenn die Israeliten Rind oder Schaf schlachteten und aßen, sie Teile davon dem Herrn opferten, beinahe so, wie wir heute ein Tischgebet sprechen. Das Opfer und die Anrufung des Herrn mit seinem Namen war der Kern des Austauschs eines jeden Israeliten mit Gott. Sie haben mit Gott gegessen und gesprochen.

Die Monopolisierung von Opfer und Gottesdienst im Tempel geschah spät in der Geschichte der Königreiche. Das große Nordreich war schon untergegangen, als die Könige des kleineren Juda, namentlich Hiskia und Josia, das Opfer und das religiöse Steuerwesen auf Jerusalem konzentrierten. Nur in Jerusalem durfte noch geopfert werden, nur die Priester dort durften den Zehnten empfangen und all die freiwilligen und mandatorischen Gaben. Noch später durfte auch der Name des Herrn nur an diesem Ort ausgesprochen werden, nur zu einer Zeit, Jom-Kippur, nur von einem Menschen, dem Hohepriester.

Die Konzentration auf Jerusalem war verbunden mit einer Einhegung von Wildwuchs und hatte damit große Bedeutung für die Durchsetzung des Monotheismus. Auf „den Höhen“ wurde nämlich durchaus nicht nur dem Herrn geopfert. Die Kehrseite ist, dass der Gottesdienst sehr verletzlich wurde. Ökonomen würden von systemischen Risiken sprechen. Der Tempel wurde zweimal zerstört, und nach dem zweiten Mal konnte er nicht mehr wiederaufgebaut werden. Für das Judentum eine existenzielle Krise. Sie konnte überwunden werden, aber die Riten, die sich in einem Jahrtausend herausgebildet hatten und nur im Tempel vollzogen werden durften, hatten keinen Ort mehr, ein großer Teil der 613 Ge- und Verbote, die jüdische Gelehrte aus der Torah destillieren, läuft seither leer.

Auch die Christen sind getroffen. Die Aussprache des Eigennamen Gottes ging verloren, als es nach der Zerstörung des Tempels niemanden mehr gab, der ihn legitimiert rufen durfte. Wir kennen noch die Konsonanten, J H W H, und hinsichtlich der Vokalisierung gibt es eine Anzahl mehr oder weniger begründeter Theorien. Aber kann man im Gottesdienst nach vorn treten oder auf einen Berg steigen und dort, in Verzweiflung, Hoffnung, Freude oder Triumph, den Namen Gottes, des Herrn, laut ausrufen? Gott ist nicht nur körperlos und unsichtbar, auch sein Name entzieht sich uns wieder. Und dabei misst die Bibel Namen (Gottes und der Menschen) große Bedeutung zu. 

***

So wirft unser Vers ein helles Licht auf die Zukunft und auch einen Schatten. Ich wünsche uns eine Woche, in der wir Ruhe haben vor unseren Feinden und sicher wohnen,
Ulf

Bibelvers der Woche 33/2018

Joas aber sprach zu allen, die bei ihm standen: Wollt ihr um Baal hadern? Wollt ihr ihm helfen? Wer um ihn hadert, der soll dieses Morgens sterben. Ist er Gott, so rechte er um sich selbst, dass sein Altar zerbrochen ist.
Ri 6,31

Was ist Wahrheit?

Hier ist der Link für den Kontext des Verses, zur Lutherbibel 2017. Der folgende Vers 32 gehört untrennbar dazu, daher sei er hier angefügt: 

Von dem Tag an nannte man Gideon Jerubbaal, das heißt „Baal streite mit ihm“, weil er seinen Altar niedergerissen hat.

Wenn man lange genug auf einen Vers blickt, geraten manchmal Kategorien ins Wanken. Das Richterbuch erzählt von einer Zeit großer Unbestimmtheit. Das Gelobte Land ist erobert — oder vielleicht doch nicht? Liest man die ersten Seiten des Richterbuchs, so hat es eher den Anschein, als bewohnten die Israeliten in Kanaan einzelne Geländetaschen, und sind ihren jeweiligen Nachbarn mal überlegen, mal unterlegen, mal im Frieden. Das „Volk“ Israels besteht aus zwölf Stämmen, die kaum kooperieren, manchmal sogar Krieg gegeneinander führen und außer ihrem Gott wenig gemein haben. Und oft noch nicht einmal diesen: die Kulte der Kanaaniter um Ba’al und Astarte sind allgegenwärtig und sehr attraktiv für die Stämme. Und warum auch nicht? Die Idee von Gott, seine „Person“, unterscheidet sich noch nicht sehr von der anderer Götter in Kanaan. Aber auch in dieser frühen Zeit ist bereits das Bilderverbot ein hartes Unterscheidungsmerkmal.

Der Abschnitt, in dem der Vers steht, handelt von Gideon, dem Sohn des Joas. Für ihn gibt es in zwei Erzählkreisen zwei Namen. Als junger Mann zerschlägt er die Altare Baals, die seinem Vater gehören, und zerhackt die Statue der Astarte. Er nimmt das Holz der Statue, um dem Gott Israels ein Opfer zu bringen. In diesem Erzählkreis heißt er Gideon, der gezogene Vers steht an seinem Ende. In der folgenden Erzählung schlägt er vernichtend die Midianiter, welche die Israeliten hart bedrücken. Hier heißt er an mehreren Stellen „Jerubbaal“. Der Name lässt aufhorchen. Er bedeutet „Baal streitet“. Es ist ein „theophorischer“ Name, wie Jisra’el (Gott kämpft) und Jisma‘el (Gott hört). Im zweiten Teil dieser Namen steht „El“, eines der Namen Gottes, der erste Teil ist das Imperfekt eines Verbs in der 3. Person Sg. Ähnlich gebildet ist auch Johannes („Gott ist gnädig“), wobei dort die Kurzform „Ja“ des Gottesnamens in der ersten Silbe steht. 

Der Name „Jerubbaal“ bezieht sich deutlich hörbar nicht auf den Gott Israels, sondern auf Baal! Der Kämpfer gegen Baal trägt also einen Namen, der ihn unter den Schutz Baals stellt. Die Verse 31 und 32 adressieren dieses Problem und machen zwei Festlegungen. Zum einen wird der Name politisch korrekt gedeutet — Jerubbaal heißt nicht einfach „Baal streitet“, sondern der Name bedeutet „Baal soll nur streiten (wenn er kann)“. Grammatisch ist das denkbar, das hebräische Imperfekt gibt das her, und mit dieser Interpretation wäre es ein Spottname auf Baal — allerdings einer mit einem enormen Potential für Missverständnisse. Weiterhin stellen die beiden Verse fest, dass Gideon den Namen Jerubbaal als Zweitnamen erhält, wie Jakob den Namen Jisra‘el. Die mit diesen beiden Namen bezeichneten Personen sind also in Wahrheit eine einzige.

Und wenn die Verse nicht im Buch stünden? Dann gäbe es einerseits Jerubbaal, einen genialen und furchtlosen, dem Baal zugewandten israelitischen Heerführer, der die Midianiter vernichtend schlägt und dessen Sippe ins Unglück gerät, weil er Gold aus der Beute einschmelzen lässt, um ein Standbild zu erstellen und zu verehren — sowie andererseits Gideon, einen zornigen jungen Anhänger des Gottes Israels, der sich im Kampf gegen den Baalskult gegen den eigenen Vater wendet, von diesem schließlich aber vor der aufgebrachten Menge gerettet werden muss. 

Sehr unbestimmte Zeiten waren das! 

Für diese Woche wünsche ich uns Klarheit in den Kategorien. Wir selbst müssen sie schaffen, die Welt schenkt sie uns nicht…
Ulf von Kalckreuth

Bibelvers der Woche 18/2018

Jasub, daher das Geschlecht der Jasubiter kommt; Simron, daher das Geschlecht der Simroniter kommt.
Num 26,24

Hier ist ein Link für den Kontext des Verses, zur Lutherbibel 2017.

Dieser Vers ist spröde, wenn er allein steht — so spröde, dass ich der plötzlichen Versuchung nachgab, eine neue Zufallsziehung zu generieren und erst später wieder hineinzuschauen. Aber irgendetwas funktionierte nicht, und als ich nachschaute, war die alte Ziehung noch intakt. Und das ist auch gut so. Zum einen ist es gänzlich gegen die Regeln, einen inkommoden Vers einfach wieder zurückzulegen. Das sollen wir ja mit unserem Leben auch nicht tun. Und zweitens war mir mittlerweile eingefallen, warum der Vers wichtig sein könnte.

Num 26 handelt vom Ende der Wüstenwanderung der Israeliten. Die Stämme haben sich am Ostufer des Jordan versammelt, gegenüber von Jericho, und sind bereit, in das Heilige Land einzufallen. Eine gewaltige Zahl von Menschen: Mose zählt 601.730 Männer über zwanzig Jahren, die Land einnehmen dürfen, zuzüglich 23.000 männliche Angehörige des Stammes Levi, die kein Land bekommen. Dazu kommt eine mindestens ebenso hohe Zahl von Frauen und Mädchen. Die Volkszählung ist der Spiegel jener Zählung, die Mose recht bald nach dem Auszug aus Ägypten gemacht hatte. Weil die Israeliten zum entscheidenden Zeitpunkt mutlos wurden, waren sie dazu bestimmt, vierzig Jahre lang in der Wüste zu wandern, so lange, bis alle ursprünglichen Auswanderer gestorben waren außer zweien, die sich als treu erwiesen hatten,. Und nun war es so weit. Das Volk vergewissert sich seiner selbst — nach Zahl, nach Stämmen, nach Geschlechtern und nach Sippen. Die Geschlechter als Teile der Stämme werden einzeln aufgezählt. 

Und hier liegt eine interessante Botschaft: die hebräische Bibel führt alles — die Menschheit, die Rassen (Sem, Ham, Japhet), Völker (Jakob/Israel, Lot, Jismael, uva.) und Geschlechter jeweils auf Individuen, einzelne Männer und Frauen, zurück. Und große Kollektive werden regelmäßig mit Personennamen benannt. Das hat mit dem modernen Individualismus, für den das Individuum alles ist und das Kollektiv nichts, ebenso wenig zu tun wie mit den modernen kollektivistischen Anschauungen, für die das Gegenteil gilt. Die Idee ist vielmehr, dass das Schicksal von Kollektiven über Individuen vermittelt ist, und zwar über sehr lange Zeiträume hinweg.

Die Stammväter der zwölf Stämme, die nun nach Palästina einfallen, waren vierhundert Jahr vorher dort ausgezogen, in Gestalt von zwölf lebenden Individuen, und die Verdienste und Fehler, die sie mit sich brachten, wirkten fort. Der gezogene Vers steht konkret in einer Reihung, in welcher die Untergruppen des Stammes Issachar aufgezählt werden — wiederum als Söhne je eines bestimmten Mannes.

Sachlich ist das nicht haltbar. Völker bilden sich nicht durch Projektion, durch Hochskalierung einzelner Individuen in die Hundertausende, sondern eher durch Zu- und Abwanderung und Vermischung und Akkulturation. Aber es kann ein starkes Bild sein für die Verantwortung, die wir alle für die Zukunft tragen. Die Zukunft ist durch die Gegenwart vermittelt, ihr Keim sind unsere Handlungen und dasjenige, was wir unseren Kindern weitergeben. Und dies ist eine Kernbotschaft der hebräischen Bibel. 

Ich wünsche uns einen schönen Maifeiertag,
Ulf von Kalckreuth