Bibelvers der Woche 52/2024

Wo aber ihr Mann ihr wehrt des Tages, wenn er’s hört, so ist ihr Gelübde los, das sie auf sich hat, und das Verbündnis, das ihr aus den Lippen entfahren ist über ihre Seele; und der HErr wird ihr gnädig sein.
Num 30,9

Hier ist ein Link für den Kontext des Verses, zur Lutherbibel 1984.

Was man versprochen hat…

… muß man halten. Aber Prinzipien offenbaren ihr Wesen in Grenzfällen. 

Im Alten Orient hatte der Ehemann Rechte, die in mancher Hinsicht eigentumsähnlichen Charakter hatten. Die Ehefrau war keine Sklavin, sie war aber mitnichten frei. Wie geht die Torah mit den religiösen Bindungen um, die die Frau eingehen will? 

Gelübde erachtet die Torah als heilig, sie sind zu befolgen. Das steht vor der Klammer und im gezogenen Abschnitt gleich zu Beginn (V3):

Wenn jemand dem HERRN ein Gelübde tut oder einen Eid schwört, dass er sich zu etwas verpflichten will, so soll er sein Wort nicht brechen, sondern alles tun, wie es über seine Lippen gegangen ist.

Das gilt auch für das Gelübde einer Frau — im Prinzip. Im Vers geht es um den Fall, dass eine Frau vor der Eheschließung ein Gelübde ablegt, von dem der Bräutigam nichts weiss. Die Frau könnte vor der Eheschließung etwa gelobt haben, unbefleckt und kinderlos ihr Leben Gott zu weihen. 

Ein Blick ins BGB lohnt. Eine „Dienstbarkeit'“ ist im Sachenrecht ein dingliches Nutzungsrecht an einer fremden Sache. Steht etwa jemand anderem als dem Eigentümer eines Felds ein Teil der Ernte zu, ist das ebenso eine Dienstbarkeit wie ein Wegerecht, das dem Nachbar das Recht einräumt, das Feld zu durchqueren. Bei Grundstücken müssen Dienstbarkeiten ins Grundbuch eingetragen werden. Dies schafft Rechtssicherheit, und ein möglicher Käufer kann Kenntnis erhalten. Kauft er dennoch, betrifft die Dienstbarkeit ihn genauso wie den früheren Eigentümer.

Für Menschen gibt es keine Grundbücher. Der Mann hat eine Frau geheiratet, die vorher ein Gelübde abgelegt hat. Nach der Eheschließung steht sein Recht gegen das Recht Gottes. Die Torah wählt eine Lösung, die das Recht Gottes bekräftigt, ohne das Recht des Mannes aufzuheben. An dem Tag, an dem er Kenntnis von dem Gelübde erlangt, kann der Mann sich dagegen verwahren. In diesem Fall hat es weiter keine bindende Wirkung und Gott wird der Frau gnädig sein. Legt er sein Veto aber nicht noch am selben Tag ein, so ist das Gelübde gültig und bindend — für beide. 

Wird sie aber eines Mannes Frau und liegt noch ein Gelübde auf ihr oder hat sie unbedacht etwas versprochen, durch das sie sich gebunden hat, und ihr Mann hört es und schweigt dazu an demselben Tage, so gilt ihr Gelübde und ihre Verpflichtung, die sie sich auferlegt hat (V7+8).

Die Frau kann sich Gott gegenüber durchaus verpflichten, auch wenn dies die Interessen des Mannes empfindlich tangiert. Hätte sie Kinderlosigkeit gelobt und der Mann legte nicht bis zum Sonnenuntergang desselben Tags Einspruch ein — das Gelübde wäre Gesetz. Genauso geregelt sind Gelöbnisse, die eine Frau in einer bereits bestehenden Ehe ablegt und solche, die eine unverheiratete Frau im Hause ihres Vaters tätigt. 

Die Einschränkung, die unser Vers macht, ist asymmetrisch, der Frau steht kein vergleichbares Vetorecht zu. Aber mehr als eine Notbremse ist das Einspruchsrecht des Mannes nicht. Was wäre darauf die feministische Sicht? Manifestiert sich hier das orientalische Patriarchat besonders deutlich? Die Frau ist Objekt und die beiden Männer, Patriarch und Vatergott, grenzen ihre Sphären ab? Oder scheinen gerade hier die Grenzen des Patriarchats auf? Welchen Stellenwert hat die Freiheit, sich zu binden? Sollte es Gelübde vielleicht gar nicht geben, weil sie die Selbstbestimmung der Frau einschränken? Oder ist Freiheit nicht gerade auch die Freiheit, seine Pflichten selbst zu wählen?

Ich wünsche uns allen einen gesegneten vierten Advent und ein frohes Weihnachtsfest in Gottes reichem Segen! 
Ulf von Kalckreuth

Bibelvers der Woche 31/2020

Ein Weib ist gebunden durch das Gesetz, solange ihr Mann lebt; so aber ihr Mann entschläft, ist sie frei, zu heiraten, wen sie will, nur, dass es im Herrn geschehe.
1 Kor 7,39

Hier ist ein Link für den Kontext des Verses, zur Lutherbibel 1984.

Ehe, Welt und Reich Gottes

Als Paulus seinen ersten Brief an die von ihm selbst gegründete Gemeinde in Korinth schrieb, lag der Tod Jesu etwa 25 Jahre zurück. Der Schock dieses Todes, das ungläubige Staunen nach der Auferstehung und die Euphorie des Neubeginns im Heiligen Geist hatten die Anhänger Jesu damals buchstäblich aus der Zeit genommen. Das muss wunderbar gewesen sein: im Heiligen Geist leben und gemeinsam das Reich Gottes erwarten, das nun jeden Augenblick hereinbrechen musste! Die Institutionen der Welt — Ehe, Geld, Gesetze, Steuern und auch das komplexe Geflecht der jüdischen religiösen Regeln — sie bestanden noch, aber im Kern waren sie unwichtig.  

Wider Erwarten aber blieb die Welt. Paulus beginnt seine Missionsreisen in die griechische Welt, gründet Gemeinden und sorgt sich um ihren Bestand, er sucht nach Regeln für das Leben der Menschen miteinander und mit Gott. Der Korintherbrief atmet eine doppelte Verankerung: Paulus und seine Zeitgenossen leben für das Reich Gottes, das sie weiterhin für die nahe Zukunft erwarten, aber eben doch auch in der Welt. 

In gezogenen Abschnitt geht es um die Ehe. Im und für das Reich Gottes ist sie ohne Bedeutung, aber in der Welt ordnet sie vielfältige Forderungen: Sexuelle Anziehung und Bedürfnisse sind eins, der biologische Fortbestand das andere, Versorgung in Alter und Krankheit das dritte. Wenn es die Ehe nicht gäbe, man müsste sie erfinden. Heute gibt es die Ehe für alle. Sie scheint selbst das Verblassen der Unterschiede von Mann und Frau zu überleben.

Mit Blick auf das Reich Gottes gibt es einen latenten Konflikt: „Wer ledig ist, der sorgt sich um die Sache des Herrn, wie er dem Herrn gefalle, wer aber verheiratet ist, der sorgt sich um die Dinge der Welt, wie er der Frau gefalle, und so ist er geteilten Herzens“ (1. Kor 7,32b-34a). Das ist die Begründung für den Zölibat in der römisch-katholischen Kirche.

Ehelosigkeit ist ein guter Weg für den, der ihn zu gehen vermag, sagt Paulus. Aber Ehelosigkeit ist nicht für jeden richtig. Die Heiligkeit und die Integrität des Leibs und damit auch der eigenen Persönlichkeit gilt es zu bewahren: wer in Verlangen brennt, soll heiraten und kann dies im Wissen tun, auch so Gottes Willen zu erfüllen. Das eheliche Zusammenleben ist der Sünde enthoben. 

Es sind häßliche Bilder, die ihm vor Augen stehen, das macht der vorangehende Abschnitt deutlich. Seine Präferenz für einfache und reine Lösungen nimmt er zurück. Statt dessen setzt er Regeln. Sie sind symmetrisch. Im Judentum durfte der Mann sich von seiner Frau scheiden lassen, die Frau hingegen war an ihren Mann gebunden. In Nachfolge Jesu verlangt Paulus von beiden gleichermaßen, einander die Treue zu bewahren, die bestehende Ehe ist heilig.  Wenn hingegen keine Ehe besteht, oder sie mit dem Tode eines der Partner erloschen ist, empfiehlt Paulus Ehelosigkeit als die Lebensform, die besser auf das Reich Gottes vorbereiten kann. Er selbst ist ehelos und wirbt dafür. 

Unser Vers spricht von der Bindung einer Frau an ihren Mann und davon, dass der Tod diese Bindung löst. Wie will sie den weiteren Lebensweg gestalten? Sie ist frei, sich wieder zu verheiraten. Die Situationen, in denen diese Entscheidung getroffen werden muss, sind vielfältig wie das Leben. Paulus hat eine Präferenz: „Seliger ist sie aber, nach meiner Meinung, wenn sie unverheiratet bleibt“. Aber das bleibt eine allgemeine Tendenz; entscheidend ist, dass sie den Weg geht, der ihre Integrität wahrt.

Hier, wie im ganzen Abschnitt, herrscht eine auffällige Unbestimmtheit. Die Gemeinde selbst hatte um Rat in der Sache gebeten (1. Kor 7,1) und Paulus muss viele Gesichtspunkte im Blick behalten. Die widerstreitenden idealtypischen Forderungen, die Welt und Reich Gottes stellen, schaffen einen Freiraum. Mehrere Wege können richtig sein, und es hängt ganz davon ab, wer unterwegs ist.

Mit seiner Antwort hat Paulus die Lebensfähigkeit seiner Gemeinde im Blick, auch die langfristige, und die Gangbarkeit der Lebenswege ihrer Mitglieder. Sie hatte eben schon begonnen, die Zeit, in der Christen zugleich in der Welt und für das Reich Gottes leben. Mit nur einem Leib und einer Seele: Avatare gab es noch nicht… 

Eine gesegnete Woche wünsche ich uns, mit unseren Eheleuten oder ohne sie,
Ulf von Kalckreuth

Bibelvers der Woche 23/2018

Das ist’s, was der HERR gebietet den Töchtern Zelophehads und spricht: Laß sie freien, wie es ihnen gefällt; allein daß sie freien unter dem Geschlecht des Stammes ihres Vaters,…
Num 36,6

Hier ist ein Link für den Kontext des Verses, zur Lutherbibel 2017.

Kulturelle Evolution in der Eisenzeit

Der Vers steht am Ende des 4. Buchs Mose. Die vereinigten Stämme liegen am Ostufer des Jordan gegenüber der Stadt Jericho, bereit, in das Heilige Land einzufallen. Die Truppen sind gezählt (vgl. den Vers der Woche 18/2018), das noch zu erobernde Land ist zur Hälfte verteilt, Regeln für die Behandlung von Tötungsdelikten sind aufgestellt, sogar Freistädte sind benannt, in welche Totschläger (nicht: Mörder) vor ihren Verfolgern fliehen können… 

Und dann, im letzten Abschnitt des vierten Buchs, gibt es noch recht unspektakuläre Dinge zu regeln. Im gezogenen Vers geht es um die Fortsetzung eines Falles, dessen Studium in Abschnitt 27 begonnen wurde. Dort war vor Mose das Problem gebracht worden, dass ein verdienter Mann namens Zelophehad ohne Söhne gestorben war — was soll nun mit seinem Erbe geschehen? Zwar hatte er keine Söhne, aber vier Töchter. Mose sprach im Namen des Herrn, dass den Töchtern ein eigenständiges Erbrecht zukomme: das Erbe Zelophhad solle also nicht an weiter entfernte männliche Verwandte gehen, was offenbar die relevante Alternative gewesen wäre. 

In Abschnitt 36 nun wird die Fallstudie fortgesetzt: Wenn nun aber die erbberechtigten Töchter Männer aus einem fremden Stamm heiraten, so falle diesen das Erbe zu und der Stamm Manasse verliere Land, argumentieren die Ältesten. Hier gibt es zwei Rechtsprinzipien, die zu achten sind: zum einen soll jedem Stamm auf alle Zeit das seine bleiben — das war durch eine große Zahl von Regeln abgesichert, zu denen auch der Schuldenerlass gehörte, siehe den Vers der Woche 15/2018. Zum anderen ging das Eigentum der Frau in das Erbe ihres Mannes über, auch dies ein nicht verhandelbares Prinzip. 

Mose Antwort im Namen des Herrn ist durchaus jüdisch: die Prinzipen werden geachtet, aber gangbare Wege werden gesucht. Der gezogene Vers enthält die Lösung. Die Töchter haben (offenbar entgegen älterer Auffassungen) ein eigenes Erbrecht. Dann müssen sie auch mit Einschränkungen leben. Sie können frei heiraten, allerdings muß der Erwählte ein Mann aus dem eigenen Stamm sein. So bleibt das Erbe des Stammes erhalten.

In der biblischen Geschichte ist der Text im 13. Jhd. v. Chr. angesiedelt, seine heutige Form hat er spätestens im 6. Jhd. erhalten. Kulturgeschichtlich entstammt er der ausgehenden Eisenzeit. Mir fallen drei Dinge auf. Erstens: Frauen waren mitnichten rechtlos. Oftmals haben im AT die Rechte von Frauen den Charakter von Schutzrechten, wie sie heute dem Bürger gegenüber dem Staat zustehen, nicht jedoch hier. Zweitens: Die in den beiden Abschnitten 27 und 36 gezeigte Rechtsentwicklung mutet verblüffend modern an. Es gab allgemeine Prinzipien. Diese stießen auf konkrete Probleme, in denen sich Widersprüche zeigen. Die aufgefundene Lösung ist dann Synthese und Präzedenzfall, und wird Ausgangspunkt für die Beurteilung der nächsten Probleme etc., ähnlich wie im englischen Recht. Dynamisch und offen — kulturelle Evolution. Drittens: In der Torah, den fünf Büchern Mose, die die Gesetze des Judentums enthalten, geht es nicht nur um Religiöses im heutigen, engeren Sinne. Hier sind unterschiedslos auch Staatsrecht und Zivilrecht Thema, die Schublade „religiös“ scheint nicht zu existieren.

Außer Rechtsetzungen aller Art enthalten Torah und Bibel Ethik, Folklore, Märchen und Legenden, Lieder, Gebete, Geschichtsschreibung, philosophische Diskurse, Propaganda — und immer wieder persönliche und kollektive Begegnung mit Gott. Bei all ihrer normativen Kraft hat sie etwas vertrauenerweckend anarchisches. Kästchendenken ist ihr völlig fremd. Das hält sie lebendig, jung und kraftvoll, wenn die Kästchen um sie herum zusammenbrechen und neue an ihre Stelle treten, die ihrerseits nur von begrenzter Dauer sind… 

Ich wünsche uns eine gesegnete Woche!
Ulf von Kalckreuth

Bibelvers der Woche 02/2018

…unter den Sängern: Eljasib; unter den Torhütern: Sallum, Telem und Uri.
Esr 10,24

Hier ist ein Link zum Kontext in der Lutherbibel 2017.

EntSCHEIDUNG!

Nachdem ein größer Teil der jüdischen Elite aus der babylonischen Gefangenschaft nach Jerusalem und Juda zurückgekehrt ist, organisiert Esra die Wiedereinsetzung des Tempeldienstes und konstituiert dabei das Judentum neu. Es wird offenbar, dass viele Familien sich zwischenzeitlich oder schon vor dem Exil mit Angehörigen autochthoner Völker verbunden haben, indem sie ihre Frauen Männern anderer Völker gegeben haben oder sich Frauen dieser Völker als Ehefrauen genommen haben. Die Torah untersagt das strikt.

Esra setzt durch, dass die Juden sich von diesen Frauen trennen. Die Sippenältesten ermitteln, wer solche Ehen eingegangen ist und die betroffenen Männer  geloben, sich von ihren Frauen und den mit ihnen gezeugten Nachkommen zu scheiden. Unter ihnen sind auch Angehörige der Priesterschaft, und — in der Aufzählung des gezogenen Vers — ein Tempelsänger und drei Torhüter. 

Der Vers in seinem Kontext ist ein drastischer Appell, Reinheit, Prinzipien und den Bund mit Gott über persönliche Beziehungen auch allerengster Art zu stellen. Die Zuspitzung erschließt sich, wenn man sich die rechtliche Stellung geschiedener Frauen im Judentum vergegenwärtigt. In vielen Fällen wird eine Rückkehr der Frauen in ihre Familien nicht möglich gewesen sein. Die konsequente, aber wenig menschenfreundliche EntSCHEIDUNG erklärt sich aus der existenziellen Angst Esras und der Sippenältesten, die gerade wieder gefundene Gnade ihres Gottes aufs Neue zu verlieren. 

Eine Woche ohne Angst und in Gottes Segen wünscht uns allen
Ulf von Kalckreuth