Bibelvers der Woche 40/2019

Es möchten vielleicht fünf weniger denn fünfzig Gerechte darin sein; wolltest du denn die ganze Stadt verderben um der fünf willen? Er sprach: Finde ich darin fünfundvierzig, so will ich sie nicht verderben.
Gen 18, 28

Hier ist der Link für den Kontext des Verses, zur Lutherbibel 2017.

Eine Disputation — um die Existenz einer großen Stadt

Wenn man genau liest, ist in dem Vers die ganze Geschichte schon enthalten. Zwei Sprecher gibt es, Abraham und den Herrn, und es geht um die Existenz einer Stadt: Sodom. Der Herr enthüllt seinem erwählten Gegenüber, Abraham, gesprächsweise seinen Ratschluss: er will die Stadt vernichten, ihrer Sünden wegen. Für Abraham ist das katastrophal, nicht nur allgemein menschlich, sondern auch persönlich. In der Stadt lebt sein Bruder Lot, von dem er sich kürzlich erst getrennt hat, mit seiner Familie.

Abraham bleibt geradezu unheimlich ruhig. Er beschließt, seine Stellung als Gegenüber des Herrn zu nutzen und verwickelt ihn in ein moralphilosophisches Streitgespräch — Mensch gegen Gott –, das er mit vollem Einsatz führt. Er wächst dabei über sich selbst und die Möglichkeiten seiner Zeit weit hinaus. 

Abraham macht eine Prämisse über das Wesen von Gerechtigkeit: Gerechtigkeit behandelt Gleiches gleich, Ungleiches aber ungleich. „Das sei ferne von Dir, dass du das tust und tötest den Gerechten mit dem Gottlosen, so dass der Gerechte gleich wäre wie der Gottlose. Das sei ferne von Dir. Soll der Richter dieser Welt nicht gerecht richten?“  Der Rest von Abrahams Argument ist induktiv:

Induktionsanfang: Du bist gerecht. Nimm an, es gebe 50 Gerechte in der Stadt. Dann kannst du nicht fünfzig Gerechten mit den Ungerechten töten.

Der Herr akzeptiert den Induktionsanfang mit k = 50. Damit akzeptiert er auch Abrahams Prämisse zum Wesen der Gerechtigkeit. 

Dann folgt der gezogene Bibelvers. Wenn es fünf weniger sind als fünfzig, dann ist es mit der Prämisse vom Wesen der Gerechtigkeit nicht vereinbar, die Stadt zu vernichten, weil dann mit den fünf Ungerechten die fünfundvierzig Gerechten sterben. Man beachte, dass Abraham nunmehr die große Gesamtheit der ungerechten Bewohner Sodoms außer Betracht lässt und nur auf die kleine Zahl der fünfzig möglicherweise Gerechten abhebt. 

Induktionsschritt: Wenn unter k Personen einer ungerecht ist, die anderen k-1 aber gerecht, so wäre es ungerecht, die k-1 Gerechten umkommen zu lassen wegen eines Ungerechten.

Der Herr akzeptiert auch den Induktionsschritt. Abraham ist jetzt in einer sehr starken Position. Die Induktion endet bei k=1. Erst, wenn es gar keinen Gerechten mehr gibt, führt der Induktionsschritt ins Leere. Sehr verbindlich, aber in der Sache absolut kompromisslos, führt Abraham die Induktion durch: 50, 45, 40, 30, 20, 10. Der Herr bestätigt jedes Mal. 

Aber nach der 10 bricht er das Gespräch ab und lässt Abraham stehen. Ist der Induktionsschritt falsch? Oder gar die Prämisse? 

Nein. Der Herr schlägt einen anderen Weg ein. Mit Hilfe seiner Engel betrachtet und prüft er die Stadt. In einer alptraumhaften Szene stellt sich dabei heraus, dass es in Sodom nur einen einzigen (halbwegs) gerechten Einwohner gibt: Abrahams Bruder Lot — dessen Entscheidung, das Gastrecht über das Leben und die körperliche Unversehrtheit seiner beiden Töchter zu stellen, sich durchaus angreifen ließe. Der Herr geleitet ihn und seine Töchter aus der Stadt, er lässt also nicht die Gerechten sterben mit den Ungerechten. 

Für mich ist es atemberaubend, wie leicht Abrahams Argument in eine anspruchsvolle formal-logische Gestalt gebracht werden kann. Die Vätergeschichten in der Genesis gehören zu den ältesten Teilen der Bibel. Als sie aufgezeichnet wurden, gab es noch keine Philosophie und keine Logik.  Aber die Szene hat auch etwas Gruseliges. Hier führen zwei einen Diskurs, der in eine Jeschiva oder eine philosophische Akademie zu gehören scheint — dabei geht es um das Leben einer Vielzahl von Menschen. 

In dieser Geschichte akzeptiert der Herr der Welt die Forderungen und Beschränkungen, die das Wesen von Gerechtigkeit ausmachen. Nicht notwendigerweise aber in der Weise, die wir für die richtige halten. Abrahams Argument ist mächtig, noch mächtiger ist Gott, der einen anderen Weg geht, seine Gerechtigkeit zu wahren. In dieser Geschichte sieht man sogar, wie dies geschieht. In unserer Lebenswirklichkeit können wir es oft nicht sehen.

            Er aber sprach: Ich will sie nicht verderben um der zehn willen.

Das sagt der Herr hinsichtlich der Stadt, bevor er Abraham verlässt. Im Judentum leitet sich daraus die Vorstellung ab, es müsse zu jedem Zeitpunkt auf der Welt zehn Gerechte geben, damit die Welt fortbestehen kann, zehn Gerechte, irgendwo. 

Abrahams Vernunft hat nicht genügt, Sodom zu retten. Ich wünsche uns eine Woche in Gottes Frieden, der höher ist als alle Vernunft. 
Ulf von Kalckreuth

Bibelvers der Woche 07/2018

So sprecht ihr: Warum soll denn ein Sohn nicht tragen seines Vaters Missetat? Darum daß er recht und wohl getan und alle meine Rechte gehalten und getan hat, soll er leben.
Hes 18,19 

Hier ist ein Link für den Kontext des Verses, zur Lutherbibel 2017.

Schuld und Sühne

Hier geht es um die Gerechtigkeit Gottes. Ezechiel/Hesekiel wendet sich gegen Vorstellungen, nach denen Sünde einerseits  und andererseits Ehre vor Gott über Generationen weitergegeben werden. Das ist ein großes Thema in der Welt des Alten Testaments: Nicht immer wird der Sünder selbst bestraft, sondern die Strafe kann mit langer Verzögerung eintreten, auch für Könige und ganze Völkerschaften. Fest verankert ist die Vorstellung in einer der zentralen Stelle der Alten Schrift, die Gottes wesentliche Eigenschaften nennt: „Herr, Herr, Gott, barmherzig und gnädig und geduldig und von großer Gnade und Treue, der da Tausenden Gnade bewahrt und vergibt Missetat, Übertretung und Sünde, aber ungestraft lässt er niemand, sondern sucht die Missetat der Väter heim an Kindern und Kindeskindern bis ins dritte und vierte Glied“ (Ex 34,6f). 

Im Orient, wo die Familie eine Art erweiterte Identität darstellt, machte es im Grunde keinen großen Unterschied, ob der Sünder selbst bestraft wird oder sein Sohn. Wird jemand aber bestraft für die Sünden der Väter, steht diese Strafe in keiner direkten Beziehung zu seinem persönlichen Handeln. Obwohl dieser Gedanke im Einzelfall auch etwas Tröstliches haben mag, gerät man damit doch schnell in ein fatalistisches Fahrwasser. Das, was Christen „Erbsünde“ nennen, wäre für den Mathematiker eine Art Grenzwertbetrachtung dieser Vorstellung: die Strafe erfolgt für dasjenige, was die Menschen schon vor aller historischer Zeit an Bösem mit sich herumtragen…

Hesekiel wischt diese Vorstellung (und damit übrigens auch die Erbsünde!) vom Tisch. Jeder trägt die Last seiner Sünde selbst, jedem kommen die Früchte seiner Gerechtigkeit selbst zugute. Punkt. Für Ezechiel ist Gott in diesem „modernen“ Sinne gerecht. Heute haben wir Mühe, unter Gerechtigkeit etwas anderes zu verstehen. Es ist interessant zu sehen, dass die Zeitgenossen das durchaus nicht so empfunden haben. Warum soll es jemandem gutgehen, dessen Väter sich in gröbster Weise gegen das Gesetz vergangen haben? Und wenn es jemandem wegen seiner Übertretungen schlecht geht — warum sieht Gott die Verdienste der Väter nicht? Beides wird im Abschnitt als ungerecht empfunden. Zweimal kleidet Ezechiel diesen tiefverwurzelten Einwand in Worte, um ihn ausdrücklich als unbeachtlich zu charakterisieren. „Sollte ich unrecht handeln, Haus Israel? Ist es nicht vielmehr so, dass ihr unrecht handelt?“ (Hes 18,25, sowie 18,29). 

Der Vers drückt die Möglichkeit der Befreiung von schicksalhafter Verstrickung aus. Ein gutes und gewissenhaftes Leben, das sich nach zwar anspruchsvollen, letztlich aber einfachen ethischen Forderungen richtet, kann persönliches Glück bedeuten, und dies nicht erst in ferner Zukunft, sondern hier und heute. 

Wenn man etwas verweilt, kann man kann Hesekiels Mut nur bewundern. Seine Aussage steht nicht nur im Widerspruch zur Torah, sie ist auch deshalb „stark“, weil sie (wenigstens im Grundsatz) empirisch falsifizierbar ist. Wie gehen wir denn um mit Ereignissen in unserem Leben oder dem Leben anderer, in denen großes Unglück über einen Menschen hereinbricht – oder auch über viele gleichzeitig? Sind alle schuldig?

Die Frage nach Gottes Gerechtigkeit, nach der Theodizee,  stellt sich im Grunde erst mit Hesekiels Gerechtigkeitsbegriff in aller Schärfe – vorher konnte man stets auf unbekannte Sünden unbekannter Vorväter verweisen. Das Buch Hiob stellt hierzu einige Jahrhunderte nach Hesekiel eine ausführliche und über die Zeit gewachsene Betrachtung an, in einem Laborexperiment gewissermaßen. Und seine Antwort weist letztlich über die Frage hinaus. 

Gottes Segen in dieser Woche!
Ulf von Kalckreuth