Bibelvers der Woche 44/2024

Wohl dem, den du, HErr, züchtigst und lehrst ihn durch dein Gesetz,
Ps 94,12

Hier ist ein Link für den Kontext des Verses, zur Lutherbibel 1984.

Wohl dem, den du züchtigst…?

Ich habe es ungewöhnlich lange vor mir hergeschoben, mich um diesen Vers zu kümmern. Jetzt ist Freitagabend, es muß sein. Der Psalm beginnt so: 

HERR, du Gott der Vergeltung,
du Gott der Vergeltung, erscheine!
Erhebe dich, du Richter der Welt;
vergilt den Hoffärtigen, was sie verdienen!

Damit ist der Ton gesetzt. Und hier ist der unmittelbare Kontext unseres Verses: 

Wohl dem, den du, HERR, in Zucht nimmst
und lehrst ihn durch dein Gesetz,
ihm Ruhe zu schaffen vor bösen Tagen,
bis dem Gottlosen die Grube gegraben ist.

Hier geht es jemandem sehr schlecht. Er ist an seine Grenzen gelangt, die Fundamente wanken, und im Gespräch mit Gott sucht er, was ihm hilft. Im Satz oben gibt es zwei Gedanken. Zum einen dieser: Schwierige Zeiten schaffen Zucht. Sie lenken den Blick aufs Wesentliche und erziehen zur Ruhe. ‚Zucht‘ ist mit „züchtigen“ konnotiert, aber auch mit dem ruhigen Ertragen von Beschränkungen. 

Ausserdem gibt es einen Blick auf das verhasste Gegenbild: den Gottlosen, der sich um Beschränkungen nicht kümmert, dem alles gelingt und dessen Erfolg ihn sehr leicht zum Vorbild machen könnte für den Gottesfürchtigen. Wir alle wollen ein schönes Leben haben, und nichts ist erfolgreicher als der Erfolg. Wie an vielen anderen Stellen im Psalter wird dieser Erfolg als Trugbild denunziert. Den Gottlosen erwartet ein furchtbares Ende.

Brauche ich die Vorstellung, dass es den Superreichen schlecht ergehen wird, die alles haben: Frauen, Geld, Macht, Frauen, Bestätigung, Gesundheit, Frauen, die Angst in den Augen der anderen, das Wissen, Wichtiges bewegen zu können? Jenen Menschen, die sich als so offensichtlich wertvoll erweisen in dem was sie sind und können und tun? Merkwürdig, ich hatte diesen Satz zunächst als verneinte Aussage begonnen — „Ich brauche nicht…“ und mußte dann ein Fragezeichen anhängen. Vielleicht brauche ich diese Vorstellung nicht, aber tatsächlich habe ich sie. Und vielleicht ist sie falsch.

Die Vorstellung von Not, die Zucht schafft und einen Blick für das Wesentliche, ist mir persönlich viel näher. Das habe ich von meinem Vater gelernt, und ich versuche, es meinen Kindern weiterzugeben. Du bist reich, wenn du nichts brauchst. Auch das ist bemerkenswert: Not kann ja Zusammenbruch bedeuten, Leib und Seele zerrütten, menschliche Beziehungen zerstören und das Grundvertrauen, mit dem unser Gottvertrauen so viel zu tun hat.

Es hat viel mit Gott und mit uns selbst zu tun, was wir aus unserer Not machen können. Wem bin ich selbst ähnlicher? Dem Gottesfürchtigen in Not oder dem Gottlosen, der alles hat? Passe ich noch durchs Nadelöhr?

Schwierig, nicht wahr? Aber jetzt habe ich es zu Papier gebracht. Wenn ich nun den Vers nochmals lese, fällt mir ein anderer Psalmvers ein, den ich sehr liebe: Und ob ich schon wanderte im finsteren Tal, fürchte ich kein Unglück. Denn du bist bei mir, dein Stecken und Stab trösten mich. Vielleicht haben beide denselben Verfasser.

Der Herr sei mit uns in der Woche, die vor uns liegt.
Ulf von Kalckreuth 

Bibelvers der Woche 16/2024

Denn siehe, der HErr wird ausgehen von seinem Ort, heimzusuchen die Bosheit der Einwohner des Landes über sie, dass das Land wird offenbaren ihr Blut und nicht weiter verhehlen, die darin erwürgt sind.
Jes 26,21

Hier ist ein Link für den Kontext des Verses, zur Lutherbibel 1984.

Endzeit

Das ist schroff: Der Herr wird die Untaten aufdecken, mit denen zu leben wir gelernt haben, von denen wir wissen, aber nicht sprechen. Das Land selbst wird das Blut offenbaren, das auf ihm vergossen wurde und wird uns die Getöteten zeigen. Hier ist der Vers im Zusammenhang, in der Übersetzung von 1984, Vers 19-21:

Aber deine Toten werden leben, deine Leichname werden auferstehen. Wachet auf und rühmet, die ihr liegt unter der Erde! Denn ein Tau der Lichter ist dein Tau, und die Erde wird die Toten herausgeben.

Geh hin, mein Volk, in deine Kammer und schließ die Tür hinter dir zu! Verbirg dich einen kleinen Augenblick, bis der Zorn vorübergehe. 

Denn siehe, der Herr wird ausgehen von seinem Ort, heimzusuchen die Bosheit der Bewohner der Erde. Dann wird die Erde offenbar machen das Blut, das auf ihr vergossen ist, und nicht weiter verbergen, die auf ihr getötet sind.

Die Verse steht am Ende eines langen Bittgebets. Es kulminiert in einem Jubelruf, im Wissen um die Auferstehung. Die Erde wird die Toten herausgeben. Aber dann wird sie auch herausgeben, wie sie gestorben sind, sie wird das vergossene Blut herausgeben.

Das ist fest verdrahtet in der Hardware der Hebräischen Bibel wie auch des Neuen Testaments. Am Ende macht der Herr die Welt gerecht. Am Ende ist Heil. Aber dazu muss das Unrecht gesühnt wird. Sonst geht es nicht. Sonst ist kein Heil. 

Wie geht es Ihnen damit? Mit ist nicht wirklich wohl. Christen und Juden leben auf die Endzeit hin. Freuen wir uns darauf? Die ‚Amidah‘ ist das Hauptgebet im jüdischen Gottesdienst. Es enthält den Wunsch, dass die Endzeit „schnell“ kommen möge, „in unseren Tagen“. Eigentlich sogar zweimal: in der Bitte um die Heraufkunft des Neuen Jerusalem und des Messias und in der Bitte auch um Strafe für Frevler und Häretiker. 

Der Herr behüte uns, in dieser Woche und immer,    
Ulf von Kalckreuth

Bibelvers der Woche 31/2023

Er sah aber auf und schaute die Reichen, wie sie ihre Opfer einlegten in den Gotteskasten.
Luk 21,1

Hier ist ein Link für den Kontext des Verses, zur Lutherbibel 1984.

Äquivalenz

Und so geht es weiter: Er (Jesus, d.V.) sah aber auch eine arme Witwe, die legte dort zwei Scherflein ein. Und er sprach: Wahrlich, ich sage euch: Diese arme Witwe hat mehr als sie alle eingelegt. Denn diese alle haben etwas von ihrem Überfluss zu den Opfern eingelegt; sie aber hat von ihrer Armut alles eingelegt, was sie zum Leben hatte. (Luk 21,2-4)

Jesus sieht, was die Reichen geben, er sieht auch, was die Witwe gibt. Jesus kommentiert das Verhältnis, in dem die Gaben stehen. Was er sagt, bedeutet zunächst einfach, dass mehr geben sollte, der mehr hat. So sagt es auch die Torah, in den Vorschriften zum Sühneopfer: wer arm ist, muß statt eines Schafs oder einer Ziege nur zwei Tauben zum Opfer bringen (Lev 5,7), siehe auch Lev 14,10ff zum Reinigungsopfer für Aussätzige.

In den finanzwissenschaftlichen Literatur zur Besteuerung nennt man dies das Äquivalanzprinzip. Aber Jesus hat keinen fiskalischen Blick, der die Leistungsfähigkeit der Opfernden einschätzt. Er nimmt die Perspektive der mittellosen Witwe ein und spricht von der ungeheuren Bedeutung dieses Opfers für sie — und diese Bedeutung ist es, die den Wert des Opfers ausmacht. Darin liegt die eigentliche Äquivalenz. 

Uns allen wünsche ich eine gesegnete Woche,
Ulf von Kalckreuth

Bibelvers der Woche 34/2022

Der Herr schafft Gerechtigkeit und Gericht allen, die Unrecht leiden.
Ps 103,6

Hier ist ein Link für den Kontext des Verses, zur Lutherbibel 1984.

Markenkern

Eigentlich muß ich da nicht viel kommentieren, nicht wahr? Der Vers ist wie ein Echo auf die Betrachtung der letzten Woche. Es ist ein Echo aus sehr alter Zeit. Die Idee der sozialen Gerechtigkeit hat ihre Wurzel beim Gott Israels. Auf Neudeutsch: sie gehört zu Seinem Markenkern. Wir finden diesen Nachdruck auf den Rechten der Schwachen schon bei Amos, dem ersten Propheten, dessen Worte aufgezeichnet und überliefert wurden. Amos richtet bittere Vorwürfe an die Mächtigen des Landes, weil sie Gottes Gebote zum Schutz der Schwachen ignorieren: 

So spricht der HERR: Um drei, ja um vier Frevel willen derer von Israel will ich sie nicht schonen, weil sie die Unschuldigen für Geld und die Armen für ein Paar Schuhe verkaufen. Amos 2,6

Amos und der gezogene Bibelvers klingen sehr vertraut, irgendwie selbstverständlich. Aber hier spricht die Eisenzeit, nicht die Sozialistische Internationale. Zu welcher anderen Religion des alten Orient könnten solche Sätze gehören? Der aus Psalm 103 gezogene Vers sagt, dass Gott selbst für Gericht und Gerechtigkeit sorgen wird. Wie bei Amos kann das tödliche Strafe für diejenigen bedeuten, die das Recht beugen. Der Psalm lässt das offen: der Vers steht in einem Kontext von Vergebung. Hier ist der Wortlaut des zweiten Abschnitts von Psalm 103 nach der Lutherübersetzung von 1984: 

Der HERR schafft Gerechtigkeit und Recht
allen, die Unrecht leiden.
Er hat seine Wege Mose wissen lassen,
die Kinder Israel sein Tun.
Barmherzig und gnädig ist der HERR,
geduldig und von großer Güte.
Er wird nicht für immer hadern
noch ewig zornig bleiben.
Er handelt nicht mit uns nach unsern Sünden
und vergilt uns nicht nach unsrer Missetat.
Denn so hoch der Himmel über der Erde ist,
lässt er seine Gnade walten über denen, die ihn fürchten.
So fern der Morgen ist vom Abend,
lässt er unsre Übertretungen von uns sein.
Wie sich ein Vater über Kinder erbarmt,
so erbarmt sich der HERR über die, die ihn fürchten.

Uns allen wünsche ich eine gesegnete Woche, in der Unrecht zu Recht wird!
Ulf von Kalckreuth

Bibelvers der Woche 30/2022

…hab ich seine Früchte unbezahlt gegessen und das Leben der Ackerleute sauer gemacht:…
Hiob 31,39

Hier ist ein Link für den Kontext des Verses, zur Lutherbibel 2017. 

Gott ist größer!

Zum Verständnis hier zunächst der Kontext des Satzfragments, die Verse 38-40:

Wird mein Land wider mich schreien und werden miteinander seine Furchen weinen, hab ich seine Früchte unbezahlt gegessen und das Leben der Ackerleute sauer gemacht; so mögen mir Disteln wachsen für Weizen und Dornen für Gerste. Die Worte Hiobs haben ein Ende.

In seinem früheren Leben, bevor Gott und Satan es zerstörten, war Hiob reich. Sein großes Land konnte er nicht selbst bearbeiten. Er brauchte die Hilfe von Abhängigen: Tagelöhner, Pächter vielleicht. Sie zu bezahlen hatte er sich verpflichtet, und hier hält er fest, dass er diese Verpflichtungen stets gehalten, seine Stellung als Grundherr nie unrechtmäßig ausgenutzt hat.

Warum ist ihm das wichtig? Die aus dem Buch Hiob gezogene Stelle steht vor dem Höhepunkt des Buchs. Hiob erklärt sich für gerecht. Insbesondere — und darum geht es im Vers — hat er denjenigen, die schwach waren und in seiner Macht standen, stets ihr Recht gegeben und mehr als das. Hiob spart nicht Atem noch Rhetorik für den Nachweis, um dann zu fragen: Gott, sieh her, ich bin gerecht — was bist Du? Im BdW 19/2018 ist eine Hinführung, und über den gezogenen Abschnitt hatten wir eine Betrachtung im BdW 50/2021 — „Einmal Nihilismus und zurück“.

Ich will mich nicht wiederholen, nur eine Beobachtung weitergeben. Zwei ungeheuer große Aussagen über Gott stehen hier im Raum: Gott ist mächtig und Gott gibt Gesetz. Wenn Gott Gesetz gibt, so muß es einen Unterschied machen, ob jemand sich daran hält oder nicht. Dies einfache Prinzip zieht sich durch die ganze Bibel. Wenn also ein Mensch sich an Gottes Gesetz hält, so muß es ihm besser gehen als einem anderen, der das nicht tut. Oder? 

Nun kann man sich vorstellen, dass Gottes Handlungsmöglichkeiten sehr gering werden, wenn die Schicksale der einzelnen exakt die Schattierungen ihrer jeweiligen Gesetzestreue wiedergeben müssen. Gott ist dann eben nicht mehr mächtig, er muß alles der Belohnung und Bestrafung der vielen Individuen unterordnen. Im Grunde ist er ein mit großen Befugnissen versehener Verwaltungsbeamter, der ausführend den Handlungen der Menschen unterworfen ist. Im Extremfall, und der wird im Buch Hiob sauber herauspräpariert, unterläge er gar der menschlichen Gerichtsbarkeit. Wer wollte einen solchen Gott? 

Nun, ich glaube, ich kenne einige. Hiob jedenfalls gehört dazu, ebenso wie seine drei Freunde. „Du gebietest mir, die Schwachen zu schützen, und ich tat es. Warum schützt du mich nicht, wenn ich schwach bin?“ Aber Hiob scheitert an der Macht Gottes. Gott ist groß! Was immer du sagst über ihn: Gott ist größer! Hiob und der Leser müssen die ganz reale Ungerechtigkeit des allmächtigen Gottes ertragen. Seine Gerechtigkeit ist nicht die unsere.

Eine Lektion für Fortgeschrittene, fürwahr. Kann ich damit umgehen? Ich weiss nicht recht. Es friert mich dabei. Hiob vermag es schließlich, am Ende eines langen Lernvorgangs. Das macht seine Größe aus und es ermöglicht den versöhnlichen Schluß des Buchs. Glauben und Vertrauen sind es, die uns retten, nicht Gerechtigkeit.

Ich wünsche uns eine gesegnete Woche, im Schoß eines mächtigen Gottes, der auch ganz anders kann — und es hoffentlich nicht tut!
Ulf von Kalckreuth

Bibelvers der Woche 50/2021

Was gäbe mir Gott sonst als Teil von oben und was für ein Erbe der Allmächtige in der Höhe?
Hiob 31,2 

Hier ist ein Link für den Kontext des Verses, zur Lutherbibel 2017.

Einmal Nihilismus und zurück

Warum interessiert es Sie, warum interessierte es überhaupt jemanden, was der Wille Gottes ist?

Die grundlegende Antwort des Alten Testaments gibt Deut 28-30. Mose legt dem Volk und jedem Einzelnen Segen und Fluch vor: durch seinen Umgang mit dem Gesetz Gottes entscheidet jeder selbst, was davon ihm zuteil wird. Auf zwei Wegen kann dies geschehen. Während in der Torah Gottes Handeln Lohn und Strafe schafft, ist dies im Buch der Sprüche und vielen Psalmen der Charakter des Gesetzes selbst. Das Gesetz ist gut und dient dem Leben, und Verstöße bestragen sich selbst, sie schaffen ein Umfeld, in dem der zugrundegeht, der das Gesetz mißachtet, siehe BdW 50/2020.

Man nennt dies den „Tun-Ergehen-Zusammenhang„. Theologen benennen so den roten Faden, der sich durchs Alte Testament in allen seinen Teilen zieht und der auch für das Neue Testament große Bedeutung hat. Unser Umgang mit dem Gesetz bedingt unser Schicksal.  Wie man sich bettet, so liegt man.

Im Alten Testament bezieht sich die Entsprechung von Tun und Ergehen konkret auf das irdische Leben. An ein Jenseits war nicht gedacht. Wie dann aber umgehen damit, dass es auf der Welt oft so ganz und gar anders aussieht? Haben Sie sich das auch schon gefragt? 

In der Bibel ist die Diskussion darüber bemerkenswert offen. Das Buch Prediger leugnet schlicht die Entsprechung von Tun und Ergehen, aus ebenjener Empirie heraus. Im Buch Hiob steht der Zusammenhang im Mittelpunkt einer Auseinandersetzung, die in den Nihilismus führt und darüber hinaus. Hiob ist gerecht, er hat die Gesetze Gottes treu befolgt. Daran gibt es keinen Zweifel, wir wissen es a priori aus den Aussagen Gottes und Satans im Prolog. Gott aber nimmt ihm alles: Güter, Familie und Gesundheit — Hiob liegt schließlich als übel zugerichtetes Wrack da und muß sich gegen die Vorstellungen seiner Freunde verteidigen. Wenn es ihm so schlecht gehe, müsse es einen Grund dafür geben, sagen sie. Der Tun-Ergehen-Zusammenhang lässt sich nämlich umdrehen: wem es schlecht geht, muß sich versündigt haben, er selbst oder vielleicht seine Vorfahren; sonst ginge es ihm besser.

Wir wissen, dass es nicht so ist, und Hiob weiss es auch. Unser Vers ist Teil eines Kapitels, in dem Hiob darlegt, wie umfassend er Gottes Gesetz befolgt hat — er gelangt dabei weit über den Buchstaben des Gesetzes hinaus zu einer Ethik der Barmherzigkeit. Und dabei bejaht und bestätigt er den Tun-Ergehens-Zusammenhang: er habe dies alles getan, ja gar nicht anders gekonnt, weil sonst sein Untergang sicher gewesen wäre, weil er sonst nichts von Gott hätte erwarten können. Seinen Augen hat er die lüsternen Blicke nach jungen Frauen verboten, „was gäbe mir Gott sonst als Teil von oben und was für ein Erbe der Allmächtige in der Höhe?“

Im Vers also ruft Hiob das Schlüsselargument der Freunde als Grundlage des eigenen Handelns auf! 

Die Perspektive der Freunde teilt er also. Der Tun-Ergehen-Zusammenhang gilt — oder besser: er sollte gelten. Der Zusammenhang von Tun und Ergehen wird ihm zu einem Fundament für eine Anklage Gottes. Hiobs Gewissen ist rein. Wie ein Fürst wolle er sich dem Verkläger nahen. Dabei bleibt er Gott treu, denn Gott ist für ihn nicht nur Richter, sondern auch Anwalt und Erlöser. Hiob ruft Gott den Erlöser an, ihm bei Gott dem Richter Recht zu schaffen. Und sein Vertrauen in den Erlöser ist unerschöpflich: Aber ich weiss, dass mein Erlöser lebt, und als der Letzte wird er über den Staub sich erheben. Nachdem meine Haut noch so zerschlagen ist, werde ich doch ohne mein Fleisch Gott sehen. Ich selbst werde ihn schauen, meine Augen werden ihn schauen und kein Fremder (Hiob 19, 25-27).

Das klingt christlich, Hiob sucht bei seinem Erlöser aber nicht Gnade, sondern Gerechtigkeit. Die Vorstellung ist ihm fremd, dass der Mensch das Gesetz vielleicht gar nicht erfüllen könnte, anders als den Freunden übrigens. 

Die Anklage Hiobs und seine Rechtfertigung schockieren die Freunde, und sie brechen das Gespräch ab. Nach der Intervention Elihus (siehe BdW 12/2020) antwortet Gott selbst. Er redet aus dem Sturm und eine neue Perspektive entsteht. Gottes Handeln als Schöpfer und seine Sicht der Dinge sind so groß, die Zusammenhänge, aus denen er agiert, so unerforschlich, dass der Tun-Ergehen-Zusammenhang kein einklagbares Recht sein kann — der Mensch versteht schlicht nicht, was er da fordert. Was uns bleibt, ist Gott zu loben und zu preisen, seine Gesetze zu achten, und unser Schicksal aus seiner Hand zu nehmen, auch wenn wir sein Handeln nicht verstehen, und dies alles im Wissen, dass Gott selbst über seiner Gerechtigkeit steht. 

Gott verwirft Hiobs Anklage, aber er lobt seine Treue, und gibt ihm darin recht. Nicht in Hiobs Gerechtigkeit liegt der Schlüssel, sondern in seiner Bereitschaft, schließlich von ihr abzusehen. Am Ende wird Hiob in jeder Beziehung in den früheren Stand eingesetzt. „Und wenn sie nicht gestorben sind, dann leben sie noch heute“ — scheinbar gilt der Zusammenhang von Tun und Ergehen nun doch, der Leser aber ahnt, das dieses Ende willkürlich ist und die Geschichte einen anderen Ausgang hätte nehmen können. Was bleibt, ist der Imperativ, sich der Größe Gottes zu beugen und sie zu preisen, alles zu hoffen, aber nichts zu erwarten. Wir dürfen Gott nicht in die Kategorien des Rechts pressen, unseres eigenen nicht und auch nicht des göttlichen. Beide sind für uns gemacht, nicht für Ihn. 

Und die eingangs gestellte Frage? Wenn Gott tut, was er will — was ist dann der Unterschied zu einer Welt, in der es Gott gar nicht gibt? Wenn Sie es bis hierher geschafft haben, wollen auch Sie das wissen.

Ich glaube, er liegt darin, dass Gott uns zugewandt ist. Wir haben einen persönlichen Gott, und wir können ihn erreichen — im Gebet, im Zuhören, im Reden auch mit anderen Menschen. Wie Hiob, ohne alles Recht. Was uns helfen kann, ist Gottes Liebe, und darin wieder hilft uns unsere eigene Liebe. Dies ist der Zusammenhang von Tun und Ergehen, den Jesus vertritt.

Einmal Nihilismus und zurück. Der Herr segne uns, in dieser Woche und immer,
Ulf von Kalckreuth

Bibelvers der Woche 11/2020

Du weißt es ja; denn zu der Zeit wurdest du geboren, und deiner Tage sind viel.
Hiob 38,21

Hier ist ein Link zum Kontext in der Lutherbibel 2017.

Größenordnungen

Der Vers ist aus dem Buch Hiob, aus der ersten Rede des Herrn aus dem Sturm. Aus derselben Rede stammte vor knapp einem Jahr den BdW 15/2019. Allgemeines zum Buch Hiob gab es zum BdW 19/2018. In einer Art Laborexperiment muss Hiob leiden, obwohl er sein Leben gerecht führt. Gott und der Versucher wollen beobachten, ob seine Gottesfurcht bestehen bleibt, oder — so erwartet es der Versucher — einfach verdunstet, wenn die Zeiten hart werden. Sie verdunstet nicht, aber Hiob tut etwas Unerwartetes: Er klagt sein Recht ein. Er hat sich an die Spielregeln gehalten, möge Gott dasselbe tun. Es gibt einen Bund! Und er ruft Gott selbst als Anwalt und Richter an in seinem Rechtsstreit mit Gott.

Der antwortet, als Hiobs Freunde schweigen, und was er sagt, ist niederschmetternd. In einer gewaltigen Rede ruft er die Größe der Schöpfung auf. Rechten zu können setzt Wissen voraus, und der Mensch und sein Wissen sind inkommensurabel mit der Größe des Schöpfers und seiner Schöpfung. Rechten mit Gott ist daher unmöglich. Unser Vers sagt das mit fast boshafter Ironie: sein zeitlicher Bezug — „zu der Zeit“ — ist die Schöpfung selbst. Damit wirft er ein scharfes Licht auf die Größenordnungen. Ganz ohne Ironie tut dies auch Psalm 90:

Der du die Menschen lässest sterben und sprichst: Kommt wieder, Menschenkinder!
Denn tausend Jahre sind vor dir wie der Tag, der gestern vergangen ist, und wie eine Nachtwache.
Du lässest sie dahinfahren wie einen Strom,
sie sind wie ein Schlaf, wie ein Gras, das am Morgen noch sprosst,
das am Morgen blüht und sprosst und des Abends welkt und verdorrt. (Ps 90,3-6)

Und etwas weiter unten: 

Lehre uns bedenken, dass wir sterben müssen, auf dass wir klug werden (Ps 90,12)

Erstaunlich ist nun aber, dass Gott dem Hiob am Ende unvermittelt recht gibt, als dieser gänzlich aufgegeben hat und gar nichts mehr sagt. Zu den Freunden Hiobs spricht er: 

Mein Zorn ist entbrannt über dich und über deine beiden Freunde; denn ihr habt nicht recht von mir geredet wie mein Knecht Hiob. So nehmt euch nun sieben junge Stiere und sieben Widder und geht hin zu meinem Knecht Hiob und opfert Brandopfer für euch; aber mein Knecht Hiob soll für euch bitten; denn ihn will ich erhören, dass ich euch nichts Schlimmes antue. Denn ihr habt nicht recht von mir geredet wie mein Knecht Hiob. (Hiob 42,7f)

Worin hat Hiob recht vom Herrn geredet? Der Text lässt es offen, der Leser muss es erraten. Der juristische Ansatz ist es nicht, unser Vers macht klar: bei Gott kann man nichts einklagen. Ich meine, es war das immer fortbestehende Vertrauen, das Hiob sagen lässt: 

Aber ich weiß, dass mein Erlöser lebt, und als der Letzte wird er über dem Staub sich erheben. Nachdem meine Haut noch so zerschlagen ist, werde ich doch ohne mein Fleisch Gott sehen. Ich selbst werde ihn sehen, meine Augen werden ihn schauen und kein Fremder. (Hiob 19, 25-27)

Das Buch sagt uns, dass wir uns auf den Herrn verlassen können, auch wenn wir nicht verstehen und nicht nachvollziehen können, was uns geschieht. Und noch etwas gibt es: Der Herr wendet das Geschick Hiobs erst, als dieser — in all seinem Elend und nun gänzlich gebrochen — tatsächlich für seine Freunde bittet, die ihn bis aufs Blut gereizt haben.  

Ich wünsche uns eine gute Woche, in der wir die Größenordnungen im Blick behalten und füreinander einstehen, klein und sterblich wie wir sind. Etwas anderes macht eigentlich keinen Sinn. 
Ulf von Kalckreuth

Bibelvers der Woche 40/2019

Es möchten vielleicht fünf weniger denn fünfzig Gerechte darin sein; wolltest du denn die ganze Stadt verderben um der fünf willen? Er sprach: Finde ich darin fünfundvierzig, so will ich sie nicht verderben.
Gen 18, 28

Hier ist der Link für den Kontext des Verses, zur Lutherbibel 2017.

Eine Disputation — um die Existenz einer großen Stadt

Wenn man genau liest, ist in dem Vers die ganze Geschichte schon enthalten. Zwei Sprecher gibt es, Abraham und den Herrn, und es geht um die Existenz einer Stadt: Sodom. Der Herr enthüllt seinem erwählten Gegenüber, Abraham, gesprächsweise seinen Ratschluss: er will die Stadt vernichten, ihrer Sünden wegen. Für Abraham ist das katastrophal, nicht nur allgemein menschlich, sondern auch persönlich. In der Stadt lebt sein Bruder Lot, von dem er sich kürzlich erst getrennt hat, mit seiner Familie.

Abraham bleibt geradezu unheimlich ruhig. Er beschließt, seine Stellung als Gegenüber des Herrn zu nutzen und verwickelt ihn in ein moralphilosophisches Streitgespräch — Mensch gegen Gott –, das er mit vollem Einsatz führt. Er wächst dabei über sich selbst und die Möglichkeiten seiner Zeit weit hinaus. 

Abraham macht eine Prämisse über das Wesen von Gerechtigkeit: Gerechtigkeit behandelt Gleiches gleich, Ungleiches aber ungleich. „Das sei ferne von Dir, dass du das tust und tötest den Gerechten mit dem Gottlosen, so dass der Gerechte gleich wäre wie der Gottlose. Das sei ferne von Dir. Soll der Richter dieser Welt nicht gerecht richten?“  Der Rest von Abrahams Argument ist induktiv:

Induktionsanfang: Du bist gerecht. Nimm an, es gebe 50 Gerechte in der Stadt. Dann kannst du nicht fünfzig Gerechten mit den Ungerechten töten.

Der Herr akzeptiert den Induktionsanfang mit k = 50. Damit akzeptiert er auch Abrahams Prämisse zum Wesen der Gerechtigkeit. 

Dann folgt der gezogene Bibelvers. Wenn es fünf weniger sind als fünfzig, dann ist es mit der Prämisse vom Wesen der Gerechtigkeit nicht vereinbar, die Stadt zu vernichten, weil dann mit den fünf Ungerechten die fünfundvierzig Gerechten sterben. Man beachte, dass Abraham nunmehr die große Gesamtheit der ungerechten Bewohner Sodoms außer Betracht lässt und nur auf die kleine Zahl der fünfzig möglicherweise Gerechten abhebt. 

Induktionsschritt: Wenn unter k Personen einer ungerecht ist, die anderen k-1 aber gerecht, so wäre es ungerecht, die k-1 Gerechten umkommen zu lassen wegen eines Ungerechten.

Der Herr akzeptiert auch den Induktionsschritt. Abraham ist jetzt in einer sehr starken Position. Die Induktion endet bei k=1. Erst, wenn es gar keinen Gerechten mehr gibt, führt der Induktionsschritt ins Leere. Sehr verbindlich, aber in der Sache absolut kompromisslos, führt Abraham die Induktion durch: 50, 45, 40, 30, 20, 10. Der Herr bestätigt jedes Mal. 

Aber nach der 10 bricht er das Gespräch ab und lässt Abraham stehen. Ist der Induktionsschritt falsch? Oder gar die Prämisse? 

Nein. Der Herr schlägt einen anderen Weg ein. Mit Hilfe seiner Engel betrachtet und prüft er die Stadt. In einer alptraumhaften Szene stellt sich dabei heraus, dass es in Sodom nur einen einzigen (halbwegs) gerechten Einwohner gibt: Abrahams Bruder Lot — dessen Entscheidung, das Gastrecht über das Leben und die körperliche Unversehrtheit seiner beiden Töchter zu stellen, sich durchaus angreifen ließe. Der Herr geleitet ihn und seine Töchter aus der Stadt, er lässt also nicht die Gerechten sterben mit den Ungerechten. 

Für mich ist es atemberaubend, wie leicht Abrahams Argument in eine anspruchsvolle formal-logische Gestalt gebracht werden kann. Die Vätergeschichten in der Genesis gehören zu den ältesten Teilen der Bibel. Als sie aufgezeichnet wurden, gab es noch keine Philosophie und keine Logik.  Aber die Szene hat auch etwas Gruseliges. Hier führen zwei einen Diskurs, der in eine Jeschiva oder eine philosophische Akademie zu gehören scheint — dabei geht es um das Leben einer Vielzahl von Menschen. 

In dieser Geschichte akzeptiert der Herr der Welt die Forderungen und Beschränkungen, die das Wesen von Gerechtigkeit ausmachen. Nicht notwendigerweise aber in der Weise, die wir für die richtige halten. Abrahams Argument ist mächtig, noch mächtiger ist Gott, der einen anderen Weg geht, seine Gerechtigkeit zu wahren. In dieser Geschichte sieht man sogar, wie dies geschieht. In unserer Lebenswirklichkeit können wir es oft nicht sehen.

            Er aber sprach: Ich will sie nicht verderben um der zehn willen.

Das sagt der Herr hinsichtlich der Stadt, bevor er Abraham verlässt. Im Judentum leitet sich daraus die Vorstellung ab, es müsse zu jedem Zeitpunkt auf der Welt zehn Gerechte geben, damit die Welt fortbestehen kann, zehn Gerechte, irgendwo. 

Abrahams Vernunft hat nicht genügt, Sodom zu retten. Ich wünsche uns eine Woche in Gottes Frieden, der höher ist als alle Vernunft. 
Ulf von Kalckreuth

Bibelvers der Woche 07/2018

So sprecht ihr: Warum soll denn ein Sohn nicht tragen seines Vaters Missetat? Darum daß er recht und wohl getan und alle meine Rechte gehalten und getan hat, soll er leben.
Hes 18,19 

Hier ist ein Link für den Kontext des Verses, zur Lutherbibel 2017.

Schuld und Sühne

Hier geht es um die Gerechtigkeit Gottes. Ezechiel/Hesekiel wendet sich gegen Vorstellungen, nach denen Sünde einerseits  und andererseits Ehre vor Gott über Generationen weitergegeben werden. Das ist ein großes Thema in der Welt des Alten Testaments: Nicht immer wird der Sünder selbst bestraft, sondern die Strafe kann mit langer Verzögerung eintreten, auch für Könige und ganze Völkerschaften. Fest verankert ist die Vorstellung in einer der zentralen Stelle der Alten Schrift, die Gottes wesentliche Eigenschaften nennt: „Herr, Herr, Gott, barmherzig und gnädig und geduldig und von großer Gnade und Treue, der da Tausenden Gnade bewahrt und vergibt Missetat, Übertretung und Sünde, aber ungestraft lässt er niemand, sondern sucht die Missetat der Väter heim an Kindern und Kindeskindern bis ins dritte und vierte Glied“ (Ex 34,6f). 

Im Orient, wo die Familie eine Art erweiterte Identität darstellt, machte es im Grunde keinen großen Unterschied, ob der Sünder selbst bestraft wird oder sein Sohn. Wird jemand aber bestraft für die Sünden der Väter, steht diese Strafe in keiner direkten Beziehung zu seinem persönlichen Handeln. Obwohl dieser Gedanke im Einzelfall auch etwas Tröstliches haben mag, gerät man damit doch schnell in ein fatalistisches Fahrwasser. Das, was Christen „Erbsünde“ nennen, wäre für den Mathematiker eine Art Grenzwertbetrachtung dieser Vorstellung: die Strafe erfolgt für dasjenige, was die Menschen schon vor aller historischer Zeit an Bösem mit sich herumtragen…

Hesekiel wischt diese Vorstellung (und damit übrigens auch die Erbsünde!) vom Tisch. Jeder trägt die Last seiner Sünde selbst, jedem kommen die Früchte seiner Gerechtigkeit selbst zugute. Punkt. Für Ezechiel ist Gott in diesem „modernen“ Sinne gerecht. Heute haben wir Mühe, unter Gerechtigkeit etwas anderes zu verstehen. Es ist interessant zu sehen, dass die Zeitgenossen das durchaus nicht so empfunden haben. Warum soll es jemandem gutgehen, dessen Väter sich in gröbster Weise gegen das Gesetz vergangen haben? Und wenn es jemandem wegen seiner Übertretungen schlecht geht — warum sieht Gott die Verdienste der Väter nicht? Beides wird im Abschnitt als ungerecht empfunden. Zweimal kleidet Ezechiel diesen tiefverwurzelten Einwand in Worte, um ihn ausdrücklich als unbeachtlich zu charakterisieren. „Sollte ich unrecht handeln, Haus Israel? Ist es nicht vielmehr so, dass ihr unrecht handelt?“ (Hes 18,25, sowie 18,29). 

Der Vers drückt die Möglichkeit der Befreiung von schicksalhafter Verstrickung aus. Ein gutes und gewissenhaftes Leben, das sich nach zwar anspruchsvollen, letztlich aber einfachen ethischen Forderungen richtet, kann persönliches Glück bedeuten, und dies nicht erst in ferner Zukunft, sondern hier und heute. 

Wenn man etwas verweilt, kann man kann Hesekiels Mut nur bewundern. Seine Aussage steht nicht nur im Widerspruch zur Torah, sie ist auch deshalb „stark“, weil sie (wenigstens im Grundsatz) empirisch falsifizierbar ist. Wie gehen wir denn um mit Ereignissen in unserem Leben oder dem Leben anderer, in denen großes Unglück über einen Menschen hereinbricht – oder auch über viele gleichzeitig? Sind alle schuldig?

Die Frage nach Gottes Gerechtigkeit, nach der Theodizee,  stellt sich im Grunde erst mit Hesekiels Gerechtigkeitsbegriff in aller Schärfe – vorher konnte man stets auf unbekannte Sünden unbekannter Vorväter verweisen. Das Buch Hiob stellt hierzu einige Jahrhunderte nach Hesekiel eine ausführliche und über die Zeit gewachsene Betrachtung an, in einem Laborexperiment gewissermaßen. Und seine Antwort weist letztlich über die Frage hinaus. 

Gottes Segen in dieser Woche!
Ulf von Kalckreuth