Bibelvers der Woche 34/2020

Eure Lindigkeit lasset kund sein allen Menschen! der Herr ist nahe!
Phi 4,5

Hier ist ein Link für den Kontext des Verses, zur Lutherbibel 2017.

Good Vibrations

Das schöne, aber nur selten noch gebrauchte Wort „lind“ steht im Duden für sanft, zart, angenehm, mild, nicht rauh oder kalt. „Lindigkeit“ kennt das Wörterbuch nicht. Das ist kein Wunder: Martin Luther hat das Wort eigens für diesen Vers erfunden. Nirgends sonst in seiner Übersetzung taucht es auf, so wie in der Bibel das griechische Wort Epikeinä (Nachsicht, Milde, Sanftmut, Huld) in dieser Form auch nur hier nachgewiesen ist. Dieser Solitär war Luther wichtig genug für eine eigene Wortschöpfung. In der neuen Übersetzung von 2017 steht jetzt „Güte“. Das ist weniger sperrig, aber ein Teil der Bedeutung, vielleicht der wichtigere, geht verloren. Phi 4, 4+5 lauten gemeinsam: 

Freuet euch in dem HERRN allewege! Und abermals sage ich: Freuet euch! Eure Lindigkeit lasset kund sein allen Menschen! der HERR ist nahe!

Als Volk Gottes sind wir zum Herrn befreit, und eine abweisende, lebensverneinende Grundhaltung ist uns NICHT auferlegt, anderslautenden Gerüchten zum Trotz. Sie verdunkelt das Zeugnis — Sieht so Gottes Liebe aus? müssten Außenstehende sich fragen. Paulus fordert uns also ausdrücklich zu Freude auf, wie auch im Vers der Woche 9/2020.

Und diese Freude soll überspringen, soll sichtbar werden, als augenfälliger Zeichen für Gottes Gnade. Es soll also nicht „Güte“ zur Schau gestellt werden, als Erweis für ein gottgefälliges Leben. Dann ginge es am Ende ja um die eigene Person, nicht den anderen, und solche Erweise können für die Umwelt durchaus deprimierend sein. Nein: vom Glück in uns selbst soll beim anderen etwas ankommen — Lindigkeit eben. Good Vibrations könnte man es heute nennen — die Energie der Erlösung, des Geistes Gottes in uns schafft eine Resonanz, die andere wahrnehmen und erfahren können. Ein klein wenig so, wie die Wunderheilungen Jesu in den Evangelien Evidenz für seine Vollmacht sind!

Ganz einfach und ganz klar, nicht wahr? Wie konnte dann das Christentum in den Ruf einer lust- und lebensfeindlichen Religion kommen? Wer von uns verströmt Lindigkeit, die sich wie Balsam auf die Wunden legt, die die Wirklichkeit anderen schlägt? Einige Menschen fallen mir ein, ich selbst gehöre nicht dazu. Wenn Lindigkeit fehlt — ist dies vielleicht umgekehrt ein Indiz, dass auch Gottes Gegenwart fehlt? 

Ich bin Teil einer nicht immer einfachen Familie. Vergangene Woche wollte ich es mit Lindigkeit probieren. Um sie aus dem Bett zu kriegen, lade ich die jüngste Tochter ein, mit mir Brötchen zu holen. Es ist schon fast Mittag, aber sie braucht Ewigkeiten, besteht dann aber doch lauthals darauf, dabei zu sein. So lange muss ich eben warten. Auf dem Weg hat sie eine Idee nach der anderen, was ich heute für sie tun könnte. Argumente bürstet sie rigoros ab. Plötzlich ist irgendwie der Streit von gestern wieder präsent, der Ton wird gereizter, auf beiden Seiten. Eine Weile versuche ich, mich zu beherrschen. Es ist schon brütend heiss. Mein Rücken und das linke Bein schmerzen beim Gehen, erst leicht, dann immer stärker. Irgendwann beginne ich, ihr Vorwürfe zu machen, die sie prompt zurückgibt. Die Kunden in der Schlange draussen vor dem Bäcker bekommen es mit. Als wir beim Bäcker wieder herauskommen, muss ich pausieren, um den Schmerz wieder loszuwerden, und sie bittet um Erlaubnis, mit ihrem Roller allein nach Hause fahren zu können — immerhin.

Ich glaube nicht, dass irgendwelche Lindigkeit bei ihr angekommen ist… Ich habe falsch begonnen. Nicht mit einem Glücksgefühl, das ich mit ihr hätte teilen können, sondern mit dem Wunsch, dass heute alles friedlich bleiben möge. Ich hätte nicht mit einem Wollen anfangen dürfen, sondern mit einem Sein. 

In rauschhaft-extremer Weise hat Schiller das in seiner „Ode an die Freude“ aufgefangen — Freude an der Schöpfung und aneinander transzendiert die Welt! Als meine erste Tochter zur Welt kam, lief ich tagelang wie betrunken mit diesem Schlusssatz im Kopf und auf den Lippen herum. Damals war meine Lindigkeit wohl nicht zu übersehen. Hier ist der Text in der Fassung, die Beethoven dem Schlusssatz der 9. Sinfonie unterlegt hat, und hier ist ein Video zu einer Aufnahme der Berliner Philharmoniker unter Claudio Abbado.

Ich habe Zeit, es weiter zu probieren, diese Woche und noch viel länger, wenn ich will. Was für ein Vers! Brauchen wir eine Anleitung zum Glücklichsein? Kann man Lindigkeit üben, mit Gottes Hilfe? Vielleicht hilft das Lied? 

Eine gesegnete Woche mit soviel Lindigkeit wie eben möglich wünsche ich uns allen,
Ulf von Kalckreuth

Bibelvers der Woche 33/2020

Des andern Tages geriet der böse Geist von Gott über Saul, und er raste daheim in seinem Hause; David aber spielte auf den Saiten mit seiner Hand, wie er täglich pflegte. Und Saul hatte einen Spieß in der Hand…
1 Sa 18,10 

Hier ist ein Link für den Kontext des Verses, zur Lutherbibel 1984.

Spieß und Harfe

Ein perfektes Standbild: Der eine hält ein Saiteninstrument in der Hand, der andere eine schwere Kriegswaffe. Der eine ruht in sich, der andere ist außer sich. Die Spannung entlädt sich im nächsten Augenblick:

und zückte den Spieß und dachte: Ich will David an die Wand spießen. David aber wich ihm zweimal aus.

Der Antagonismus von Saul und David bestimmt die beiden Bücher Samuel, siehe den Vers in Woche 35/2019. Hier liegt er vor uns in seinem Kern. Die beiden Männer sind allein miteinander. Saul hat die Gnade des Herrn verloren, der „böse Geist Gottes“ liegt über ihm. Er pendelt zwischen Traurigkeit und extremer Reizbarkeit, wir würden es heute manische Depression nennen. David ist derjenige, auf dem die Gnade des Herrn nun ruht. Wovon Saul nichts weiss: Samuel hat David schon als künftigen König gesalbt. 

Saul hatte den jungen Mann als Harfenspieler an seinen Hof geholt, er sollte ihm helfen, die Traurigkeit zu überwinden — und das gelang zunächst gut. Nach Davids Kampf mit Goliath hatte er ihm militärische Aufgaben und Verantwortlichkeiten übertragen. David Ruhm wuchs sehr schnell mit seinen Erfolgen, und Saul erlebte ihn nun nicht mehr als emotionale Stütze, sondern als Bedrohung. 

David ist Sauls Gegenstück. Wo dieser von Zweifeln zernagt wird, sich vom Volk dazu treiben lässt, Gottes Anordnungen zu mißachten und Samuel gegenüber Ausflüchte sucht, wo dieser sich selbst als Spielball krasser Gemütsschwankungen erlebt, da ist David einfach nur er selbst. Seine Hände gleiten über die Saiten, wie jeden Tag seit der Zeit als Hirte. David ist eine Art Naturkraft. Samuel hat ihn so charakterisiert: 

Da sprach Samuel zu ihm: Der HERR hat das Königtum Israels heute von dir gerissen und einem andern gegeben, der besser ist als du. Auch lügt der nicht, der Israels Ruhm ist, und es gereut ihn nicht; denn er ist nicht ein Mensch, dass ihn etwas gereuen könnte. (1 Sam 15, 28+29)

David hat unglaubliche Dynamik und Gottes Segen. Saul die Macht und größtmöglichen Status, aber seine Mitte und seine Kraft hat er verloren. Er wirft, aber sein Spieß fehlt. David weicht zweimal aus, mit einer geschickten Wendung seines Körpers, ohne den Angriff auf der Stelle zu beantworten. Jahre später wird Saul mit seinem Spieß sich selbst töten.

Ich kann Saul verstehen. Mir scheint, als sei David auch das Gegenteil von mir selbst: mit seiner Einfachheit und Geradlinigkeit bleibt er noch in extremen Umständen Herr seiner Mitte, wie ein Radfahrer oder ein Reiter — in der Bewegung unsterblich auf Zeit. Er fürchtet Gott und sonst nichts auf der Welt, und die Herzen der Menschen fliegen ihm zu. Die Frauen Judas singen ihm Lieder: seiner Jugend, seiner Kraft, seiner Schönheit und seiner Musik.

Ja, einmal David sein…

Ich wünsche uns eine gesegnete Woche,
Ulf von Kalckreuth

Bibelvers der Woche 08/2018

Denn siehe, ich will ein Neues machen; jetzt soll es aufwachsen, und ihr werdet’s erfahren, dass ich Weg in der Wüste mache und Wasserströme in der Einöde,
Jes 43,19

Hier ist ein Link für den Kontext des Verses, zur Lutherbibel 2017.

Wirklich Neues bleibt lang unsichtbar

Bei diesem wunderbaren Vers kann ich kurz bleiben: Er stammt aus dem zweiten Teil der Jesaja-Schrift, der vermutlich zumindest teilweise einen andere, späteren Autor hat als der erste. Er steht in einem Kontext, in welchem dem versklavten und entführten Volk Israel ein „Gottesknecht“ als Erlöser angekündigt wird (Abschnitt 42) und Gott Gnade und Vergebung, Schutz und Leben zusagt (Abschnitt 43 und 44). 

Ich verbinde eine persönliche Erinnerung an diesen Vers. Im Jahr 2007 war er Jahreslosung. Als meine Frau ihren Dienst an der Landeskirche unterbrechen musste, weil sie mit unserer ersten Tochter schwanger war, hielt ihr Dekan, Pfarrer Schlösser, die Predigt für ihren Verabschiedungsgottesdienst. Und er wählte die Jahreslosung als Predigttext. Er wusste, welchen Grund die Verabschiedung hatte, aber sonst keiner der Anwesenden, meine Frau und ich ausgenommen. Und er hatte eine diebische, sich ständig steigernde Freude daran, im Laufe seiner Predigt immer wieder auf den Vers in seiner neueren Übersetzung zurückzukommen und laut zu rufen: „Denn siehe, ich will ein Neues schaffen, jetzt wächst es auf, erkennt ihr’s denn nicht?“ Am Ende freute sich jeder, ohne genau zu wissen, warum.

Ich wünsche uns eine gesegnete Woche!
Ulf von Kalckreuth