Bibelvers der Woche 18/2024

Und sie nahmen aus den Tausenden Israels je tausend eines Stammes, zwölftausend gerüstet zum Heer.
Num 31,5

Hier ist ein Link für den Kontext des Verses, zur Lutherbibel 1984.

Genozid

Der Vers ist aus der schrecklichen Erzählung zum Feldzug gegen die Midianiter, unmittelbar vor dem Einfall der Israeliten in Kana’an. Bevor er stirbt, erhält Mose von Gott einen letzten Auftrag: das Volk der Midianiter soll vernichtet werden. Ganz. Die Midianiter sind ein nomadisch lebendes Wüstenvolk, Ismaeliten, den Arabern verwandt. Die Israeliten töten erst alle Männer, auf Mose Geheiß dann auch die Knaben und sowie alle Frauen, „die schon einen Mann erkannt und bei ihm gelegen hatten“. Nur die Jungfrauen bleiben am Leben. Es sind 32.000. 

Der Genozid ist thematisiert in den BdW 19/2019 und 04/2023. Ich möchte Sie gern auf diese intensiven Betrachtungen verweisen. Es fällt mir sehr schwer, dem etwas hinzuzufügen. 

Eines vielleicht. Was wird erzählt und wie wird es erzählt? Die genannten früheren Verse behandelten Regeln für die Verteilung der Beute. Im Vers dieser Woche geht es um die militärischen Ressourcen. Der Einsatz erfolgt gleichmäßig über die Stämme: Jeder Stamm stellt tausend Krieger bereit. Die Vernichtung wird als organisatorische Aufgabe behandelt. 

Meine Frau und ich haben in der vergangenen Woche „The Zone of Interest“ gesehen. Der Film handelt von der Familie des Lagerkommandanten von Auschwitz, Rudolf Höß. Er zeigt, wie man psychisch mit dem Grauen umgehen muss, um den Alltag zu überleben, aktionsfähig zu bleiben. Man muss dieses Grauen, wo immer möglich, ausblenden, abtrennen, partialisieren, partikularisieren. Den Massenmord in die eigenen Welt nur einlassen, wo er unabweisbare Forderungen stellt, und auch dann nur mit größtmöglichem inneren Abstand. Höß erträgt so seine Arbeit, die Planung, die Verwaltung, die Sitzungen. Der Ehefrau des Lagerkommandanten gelingt es perfekt. Sie identifiziert sich so sehr mit dem Traumhaus an der Mauer des Vernichtungslagers, mit dem Garten, den sie angelegt hat, dass sie die Versetzung ihres Mannes verhindern will und — als dies nicht gelingt — mit der Familie in Auschwitz wohnen bleibt.

Vielleicht macht die Bibel hier dasselbe. Manchmal spricht sie ja wie eine Person, mit einer eigenen Identität, die sich erhebt über die Identität ihrer vielen widerstreitenden menschlichen Redakteure. Die Vorbereitung und die Durchführung der Vernichtung sowie die anschließende Verteilung der Beute wird distanziert und analytisch beschrieben, alles zahlenmäßig genau belegt, als ginge es um Logistik, als sei jemand anderes am Werk. Jemand wie Höß.

Im Film kann nur die Ehefrau das Grauen gänzlich ausblenden. Allen anderen, Höß selbst eingeschlossen, ist es stets latent gegenwärtig: in Tönen, Bildern, zufälligen Funden, fernen Schreien und Schüssen, Alpträumen, den sonderbaren Spielen der Kinder, im Rauch und Teer der Krematorien. Immer wieder bricht das Grauen ein. Der Film enthält keine einzige Gewaltszene, er ist FSK 12. Aber wenn man das Kino verläßt, fühlt man sich elend und krank.

Die Bibel scheint die Angelegenheit mit dem 31. Kapitel abzutun, der Feldzug gegen die Midianiter kommt nachher nicht mehr zur Sprache. Aber irgendwie bleiben die Bilder. Sie wiederholen sich bei der Landnahme der Israeliten durch Josua und sie kehren sich gegen das eigene Volk, als das Land erst von den Assyrern und Babyloniern und später noch einmal von den Römern vernichtet wird. Ein Alptraum, der nicht enden will. 

Da ist noch etwas. In den beiden vergangenen Wochen gab es endzeitlich geprägte Verse. Jesaja sagt uns, dass am Tag des Herrn das Land selbst die verscharrten Ermordeten und ihr vergossenes Blut herausgibt und zeigt. Auch der Vers Zefanias verweist auf den Tag des Herrn und sein Gericht im Heiligen Land. Ich betrachte jeden gezogenen Vers für sich. Aber manchmal läßt sich über die Wochen eine Melodie oder Harmonie wahrnehmen. Hier ist es ein düsterer Dreiklang, mit Quinte und None vielleicht. 

Das Schicksal von Rafah im Gazah-Streifen ist noch offen und viele der Geiseln sind noch unter der Erde gefangen. Ich will beten, dass diese Verse keine weiteren Bezüge zur Gegenwart bekommen. Bibelverse zu ziehen und mit Blick auf unser Leben zu lesen kann weh tun.

Der Himmel helfe uns allen.
Ulf von Kalckreuth

Bibelvers der Woche 19/2019

Nimm die Summe des Raubes der Gefangenen, an Menschen und an Vieh, du und Eleasar, der Priester, und die obersten Väter der Gemeinde; …
Num 31,26

Hier ist der Link für den Kontext des Verses, zur Lutherbibel 2017.

Herz der Finsternis

Wenn ich einen Vers ziehe, gibt es einige Abschnitte in der Bibel, vor denen ich mich fürchte. Dieser hier gehört nun dazu. 

Der Herr befiehlt Mose kurz vor dessen Tod einen Rachefeldzug gegen die Midianiter, ein Wüstenvolk, den Arabern verwandt. Die Israeliten überfallen die Midianiter mit 12.000 Kriegern und töten alle Männer, deren sie habhaft werden können. Sie nehmen die Habe der Überfallenen; Frauen und Kinder lassen sie zunächst leben. Mose zürnt — gerade die midianitschen Frauen hätten doch das Unglück über die Israeliten gebracht. Also werden auch die Knaben getötet sowie alle Frauen, „die schon einen Mann erkannt und bei ihm gelegen hatten“. Nur die Mädchen bleiben am Leben. Es sind 32.000. Das erlaubt einen Blick auf die Zahl derer, die nicht überlebt haben.

Genozid also, knapp und präzise geschildert. Von Gott selbst angestoßen und von seinem Erzpropheten organisiert. Der gezogene Vers steht am Beginn der buchhalterisch genauen Regelung für die Teilung der Beute: der geraubten Mädchen, Tiere und Wertgegenstände. Von allem geht die Hälfte an die kämpfende Truppe, von diesem Teil wiederum steht ein festgelegter Satz dem Herrn zu — Gott wird als Kämpfer eingestuft. Er erhält zwei Promille aus der Hälfte, also ein Promille der Gesamtheit, darunter ausdrücklich 32 Mädchen. Die andere Hälfte geht an das ganze Volk, davon wiederum ein Teil an die Priester. 

Was den Anteil Gottes betrifft, so hat mich meine Hebräisch-Lehrerin davon überzeugt, dass es nicht um Menschenopfer geht, sondern dass „Trumah“ hier eine Art Abgabe ist. Das Wort kann zwar ein Opfer bezeichnen, Menschenopfer aber waren explizit verboten, und die in der Auflistung gleichfalls dem Herrn zugeführten Esel sind unreine Tiere, also für Opferhandlungen ungeeignet. 

Auch so aber ist das beschriebene Geschehen alptraumhaft genug. Woran können wir uns halten? Die Schilderung der Wüstenwanderung als ganze ist sicher nicht „historisch“. Dennoch mag es Bezüge zu realen Ereignissen geben. Auch in Richter 6-8 wird von einem Krieg zwischen den Israeliten und den Midianitern berichtet, der für letztere verheerend ausging. Und wann und wie auch immer der Text in das Buch Numeri gelangte, aus einer älteren Vorlage oder aus mündlicher Tradition: dem damaligen Redakteur und seinen Lesern erschien er „richtig“ — er entspricht dem Bild des Schreibers und seiner Leser von Gott und der eigenen Geschichte. Davon jedenfalls können wir sicher ausgehen. 

Dabei hat der Feldzug etwas eigentümlich Selbstzerstörerisches. Die Midianiter unterschieden sich in ihrer nomadischen Lebensweise von den Israeliten nicht. Man kannte sich gut. Die Völker waren verwandt, auch die Midianiter galten als Abkommen von Abraham. Mose war seinerzeit aus Ägypten nach Midian geflohen, hatte dort Zippora, eine Midianiterin, geheiratet, und sein Schwiegervater Jethro war midianitischer Priester — vermutlich sogar Priester des Herrn, denn er wohnte am Gottesberg. Die Begegnung mit Gott am Dornbusch hatte Mose, als er Jethros Schafe hütete. Jethro half Mose bei der Organisation des wandernden Volks. Später sollte Bileam, ein Prophet, die Israeliten im Auftrag der midianitischen Könige verfluchen, aber der Fluch geriet dem Volk zum Segen. Noch später (4. Mo 25) ließen sich Midianiterinnen mit den Israeliten ein. Das erregte den Zorn Gottes. 

Sonderbar also: die Völker waren verschwägert und es ist sogar denkbar, dass die Israeliten den Namen ihres Gottes bei den Midianitern kennengelernt haben: die Erzählung vom brennenden Dornbusch, von Jethro, dem Priester, und der Offenbarung am Berg Horeb deuten darauf hin. Wie mag Zippora das Massaker aufgenommen haben, wie Jethro? 

Wie kann man damit umgehen? Gott ist ewig und immer gleich. In dieser Ewigkeit ist er aber für uns nicht erkennbar. Was wir erkennen, sind Bilder von Gott. Diese Bilder sind nicht ewig, sondern wandelbar, wie wir Menschen. Sie haben viel mit uns selbst zu tun. Das ist legitim: wir sind nach seinem Bilde geschaffen, also ist sein Bild in uns.

Im Angesicht dieses furchtbaren Texts ist es verführerisch zu sagen, dass die alten Bilder eben falsch seien. Wissen wir, ob unser Bild heute richtig ist? Wer so verfährt, liest in der Bibel gern nur noch dasjenige, was glatt durch die Filter des Zeitgeistes geht — und das ist nicht eben viel. Die Warnung aus dem BdW der vergangenen Woche (2019 KW 18) vor selbst verfertigter Religion ist hier am Platz. Vielleicht ist es daher besser, einen größeren Abstand einzunehmen und die Bilder zu betrachten, als Bilder eben, nicht als eigentliche und ewige Wahrheit. 

Wir sind nach Gottes Ebenbild geschaffen, also ist sein Bild in uns. Ich habe einen Dominikanermönch sagen hören, er liebe es deshalb so sehr, Menschen zu beobachten, weil sich in allem was sie sind und tun, Eigenschaften des Göttlichen widerspiegeln. Er sagte das mit einem Lächeln, das um den Abgrund weiß. In der Tat: wenn wir und die Welt Gottes Werk sind, verhält sich alles Geschaffene irgendwie zu ihm. Auch die dunklen Seiten, auch die allerschwärzesten. Irgendwie ist alles enthalten und impliziert in dem, was selbst unerkennbar bleibt. 

In diesem Sinne ist der Abschnitt, in dem der Vers enthalten ist, eine Reise in die Finsternis in unseren eigenen Herzen. In Joseph Conrads „Heart of Darkness“ ist eine solche Reise am Ufer des Kongo angesiedelt; eine sehr bekannte Verfilmung spielt im Vietnamkrieg. Joseph Conrads Erzählung kulminiert in Bildern, die denen aus dem Midianiterfeldzug gleichen. 

Ich schreibe diese Zeilen am 2. Mai, dem israelischen Holocaust-Gedenktag, Jom Ha’schoa. Vielleicht ist das ein Schlüssel. Das „wahre“ Bild gibt es nicht, das wäre ein Widerspruch in sich. Was ist, wenn wir eine Verantwortung tragen für diejenigen Bilder des Unkenntlichen, die wir übernehmen, entwickeln, und wirksam werden lassen — in uns und dann auch in der Welt? Die Vielfalt der Bilder zulassen, sehen, begreifen, sich aber dann zu entscheiden und dabei Mitschöpfer werden? Geht das, ohne sich Religion selbst zu verfertigen?

Ich wünsche uns eine Woche, in der die Finsternis in unseren Herzen keine Macht über uns hat.
Ulf von Kalckreuth