Bibelvers der Woche 10/2020

Und abermals spricht er: „Freut euch, ihr Heiden, mit seinem Volk!”
Röm 15,10

Hier ist ein Link zum Kontext in der Lutherbibel 2017.

Wem gilt das Versprechen?

Noch einmal Paulus, diesmal aus dem Römerbrief. Dort bemüht Paulus sich um eine christliche Lehre, obwohl die Voraussetzungen der Mitglieder der ersten Gemeinden sehr unterschiedlich waren. Einige waren Juden. Andere waren Proselyten, also Heiden, die den Gott des Juden für sich angenommen hatten und die Synagogen besuchten, ohne aber konvertiert zu sein und die mosaischen Gebote ganz zu befolgen, zu denen die Beschneidung, detaillierte Speisevorschriften und die Gebote für Schabbat und die vielen Feiertage gehörten. Wieder andere kamen unmittelbar von nichtjüdischen Religionen zum Christentum. Paulus will Exklusivität möglichst vermeiden. Die vielen jüdischen Gebote sind nur Stützen in Ermangelung des Heils, das von Christus kommt. In Christus sind sie entbehrlich. Es ist ein Bruder nicht mehr als der andere, weil er die Speisevorschriften befolgt. 

Aber wie steht es denn um die Erwählung der Juden? War Jesus nicht als Messias und Erlöser zu ihnen gekommen? Paulus sagt, nicht leicht verständlich, dass die Erwählung bleibt, sich aber das Erlösungswerk auch an die Heiden richtet. Jeder empfängt es gültig, dem der Herr seine Gnade schenkt und der sie für sich annimmt — also glaubt. Das sind einige Juden, nicht alle, und einige Heiden, nicht alle. 

Im Abschnitt um den gezogenen Vers gibt er aus dem Gedächtnis einige Stellen wieder, welche die Erwählung auch von Heiden belegen. Der gezogene Vers ist ein Zitat und meine Bibel gibt als Belegstelle Deut 32,43 wieder. Dort aber lautet der Vers (in der Lutherübersetzung 2017): 

Preiset, ihr Heiden, sein Volk; denn er wird das Blut seiner Knechte rächen und wird an seinen Feinden Rache nehmen und entsühnen das Land seines Volks! 

Uups! Die Heiden sollen das Volk Gottes preisen, nicht gemeinsam mit ihm feiern. Im Zusammenhang mit dem Kontext enthält Deut 32, 43 außerdem eine deutliche Drohung an die Fremdvölker.

Paulus‘ Ausrutscher ist ein wenig symptomatisch. Der Tanach, die jüdische Bibel, enthält nicht viele Stellen, die sich mit den „Gojim“ emphatisch befassen: in der Regel sind die Fremdvölker entweder gleichgültig oder (potentielle) Feinde. Wie können wir damit umgehen?

Vielleicht, und das ist meine Lesart, geht es hier um Stadien der Verwirklichung der Beziehung Gottes zu den Menschen. In Genesis tritt JHWH als Sippengott auf, verbunden mit den Clans von Abraham, Isaak und Jakob. Sippengötter hatten auch andere Clans. In Exodus und den nachfolgenden Büchern übernimmt Gott Verantwortung für ein Volk ‑‑ für das Volk Israel. Er befreit, stützt und rettet dieses Volk, durchaus im Gegensatz zu den umliegenden Völkern, den Ägyptern, Midianitern, Kanaanitern. Aber auch diese hatten ihre Götter. Die alten Schriften legen ihre ganze Kraft in die Forderung, dass die Hebräer diese anderen Götter nicht verehren dürfen. Sie sagen nicht, dass diese Götter nicht existieren. Das geschieht erst noch später. Gott wird dann als Schöpfer nicht nur der Menschen, sondern des ganzen Kosmos gesehen, und als einzige göttliche Kraft. Andere Götter zu verehren ist nicht länger nur ein todeswürdiger Treuebruch, sondern darüber hinaus auch eine Dummheit, weil es diese Götter gar nicht gibt. 

Aber wie passt denn konsequenter Monotheismus zur Stellung JHWHs als Gott des Volkes Israel? Gar nicht, es sei denn, man argumentiert, dass Gott mit dem erwählten Volk etwas beginnt, das er mit anderen fortsetzt und zu Ende führt. In der Tat findet sich diese Figur bei den Propheten — Jesaia, Jeremia, Hesekiel, Joel. Paulus entwickelt sie im Römerbrief zu Ende und wendet sie spezifisch auf die Christen an – sein eigenes Volk nun eben, wie auch die Juden sein Volk sind und bleiben.

Gott, der universale Schöpfergott, ist also in Christus der Gott potentiell aller Menschen. Soweit sie seine Gnade empfangen — das liegt in seinem Ratschluss — und soweit sie diese Gnade annehmen — das liegt in der Entscheidung des Einzelnen. Vielleicht besteht die Gnade auch einfach darin, glauben zu können. 

Die drei Stufen, Sippengott, nationaler Gott und universeller Gott, sind Stadien für uns, die wir in der Zeit leben. Für Gott ist immer alles gleichzeitig. Er ist Gott einzelner Individuen, Gruppen und Nationen wie auch der Herr des Universums. Das heißt: Man kann sich betend an jemanden wenden, der den subatomaren Bereich ebenso kontrolliert wie die Anfangsbedingungen des Urknalls. Das ist ganz und gar nicht intuitiv. Um diese Gleichzeitigkeit zu verstehen, müssen wir tatsächlich in Stadien denken, in denen sich eines über das andere wölbt. Tanach und Neues Testament gehen diesen Weg mit uns. 

Die Spannung zwischen der Erwählung der Juden als Volk und der Erwählung der Glaubenden als Personen verschwindet damit nicht, auch für Paulus nicht, denn die beiden Pole sind nicht nur analytische Konstrukte, „Stadien“, sondern Hoffnungen und Ansprüche realer Menschen. Aber man kann diese Spannung in innerer Ruhe aushalten, wenn man es denn will.

Ich wünsche uns eine gute Woche, in der wir uns freuen mit seinem Volk!
Ulf von Kalckreuth

Bibelvers der Woche 47/2019

Ihr werdet aber über den Jordan gehen und in dem Lande wohnen, das euch der HErr, euer Gott, wird zum Erbe austeilen, und er wird euch Ruhe geben von allen euren Feinden um euch her, und ihr werdet sicher wohnen.
Dtn 12,10

Hier ist ein Link für den Kontext des Verses, zur Lutherbibel 2017.

Licht und Schatten

Das ist die Klammer um die ganze Torah, alle fünf Bücher, das große Versprechen: Ich führe euch heraus aus der Sklaverei, ich habe euch erwählt und nenne euch keinen Grund dafür, ihr müsst mir treu sein, dann gebe ich euch ein großes, reiches Land, das eure Heimstatt sei, und ihr werdet frei sein von Feinden und Bedrohung.

Das ganze fünfte Buch Mose spielt eine logische Sekunde, bevor das Versprechen wahr zu werden beginnt. Die Israeliten brechen aus der Wüste hervor, sie haben den Jordan erreicht und stehen nun bereit, ihn zu überschreiten, das Land einzunehmen. Mose darf diesen letzten Schritt nicht mehr mitgehen, er stirbt vorher, das weiß er, aber jetzt, am Ufer des Flusses, fasst er in einer langen Rede die ganze bisherige Heilsgeschichte zusammen, blickt nach vorn und rekapituliert und interpretiert die Gebote, die das Volk empfangen hat.

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Unser Vers benennt das große Versprechen in einem besonderen Kontext. Zu einer Zeit, die noch nicht bekannt ist, an einem Ort, den Gott noch nicht benannt hat, soll das ganze Opferwesen der israelitischen Stämme zentralisiert werden. Im gezogenen Abschnitt wird also, noch bevor die Stämme die Stadt überhaupt kennen, der Anspruch des Tempels in Jerusalem begründet, einzige legitime Opferstätte und Ort der Anbetung zu sein, ja Wohnstätte Gottes. Das wirkt sehr ungleichzeitig: Als Mose spricht, ist Israel ein Volk „ohne festen Wohnsitz“ und eine einzige Anbetungsstätte für ihren körperlosen und unsichtbaren Gott, der stets mit seinem Volk zieht, ist eine absurde Vorstellung. Der Text beugt dem Einwand vor: jetzt tut ihr noch, was ihr wollt (V 8), aber bald werdet ihr ein festes und sicheres Land haben (unser Vers), dann könnt und sollt ihr anders verfahren.

Eine erhebliche Einschränkung. Der Text zeigt, dass immer, wenn die Israeliten Rind oder Schaf schlachteten und aßen, sie Teile davon dem Herrn opferten, beinahe so, wie wir heute ein Tischgebet sprechen. Das Opfer und die Anrufung des Herrn mit seinem Namen war der Kern des Austauschs eines jeden Israeliten mit Gott. Sie haben mit Gott gegessen und gesprochen.

Die Monopolisierung von Opfer und Gottesdienst im Tempel geschah spät in der Geschichte der Königreiche. Das große Nordreich war schon untergegangen, als die Könige des kleineren Juda, namentlich Hiskia und Josia, das Opfer und das religiöse Steuerwesen auf Jerusalem konzentrierten. Nur in Jerusalem durfte noch geopfert werden, nur die Priester dort durften den Zehnten empfangen und all die freiwilligen und mandatorischen Gaben. Noch später durfte auch der Name des Herrn nur an diesem Ort ausgesprochen werden, nur zu einer Zeit, Jom-Kippur, nur von einem Menschen, dem Hohepriester.

Die Konzentration auf Jerusalem war verbunden mit einer Einhegung von Wildwuchs und hatte damit große Bedeutung für die Durchsetzung des Monotheismus. Auf „den Höhen“ wurde nämlich durchaus nicht nur dem Herrn geopfert. Die Kehrseite ist, dass der Gottesdienst sehr verletzlich wurde. Ökonomen würden von systemischen Risiken sprechen. Der Tempel wurde zweimal zerstört, und nach dem zweiten Mal konnte er nicht mehr wiederaufgebaut werden. Für das Judentum eine existenzielle Krise. Sie konnte überwunden werden, aber die Riten, die sich in einem Jahrtausend herausgebildet hatten und nur im Tempel vollzogen werden durften, hatten keinen Ort mehr, ein großer Teil der 613 Ge- und Verbote, die jüdische Gelehrte aus der Torah destillieren, läuft seither leer.

Auch die Christen sind getroffen. Die Aussprache des Eigennamen Gottes ging verloren, als es nach der Zerstörung des Tempels niemanden mehr gab, der ihn legitimiert rufen durfte. Wir kennen noch die Konsonanten, J H W H, und hinsichtlich der Vokalisierung gibt es eine Anzahl mehr oder weniger begründeter Theorien. Aber kann man im Gottesdienst nach vorn treten oder auf einen Berg steigen und dort, in Verzweiflung, Hoffnung, Freude oder Triumph, den Namen Gottes, des Herrn, laut ausrufen? Gott ist nicht nur körperlos und unsichtbar, auch sein Name entzieht sich uns wieder. Und dabei misst die Bibel Namen (Gottes und der Menschen) große Bedeutung zu. 

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So wirft unser Vers ein helles Licht auf die Zukunft und auch einen Schatten. Ich wünsche uns eine Woche, in der wir Ruhe haben vor unseren Feinden und sicher wohnen,
Ulf