Bibelvers der Woche 19/2018

Da hörten die drei Männer auf, Hiob zu antworten, weil er sich für gerecht hielt.
Hiob 32,1 

Hier ist ein Link zum Kontext in der Lutherbibel 2017.

Die Bäume und der Wald

Das Buch Hiob handelt vom menschlichen Leid und der Gerechtigkeit vor Gott. In einem Prolog wird eine Laborsituation hergestellt: Hiob ist ein gottesfürchtiger und gerechter Mann, auf dem das Wohlwollen des Herrn ruht. Der Teufel, hier als Angehöriger Gottes Entourage, äußert die Überzeugung, mit Hiobs Gottesfürchtigkeit wäre es nicht weit her, wenn der Herr ihn nicht in allem beschützen und bewahren würde. Der Herr lässt sich auf eine Wette ein: der Teufel darf alles an und um Hiob vernichten, nur sein Leben muss er ihm lassen. So geschieht es — Gott lässt ihn damit in eine unerträgliche und entwürdigende Situation fallen, in Krankheit und Schmach. Er behält nur das nackte Leben. 

Drei Freunde suchen ihn auf, ihn seelisch zu stützen. Zum ihrem großen Verdruss beharrt Hiob darauf, gerecht zu sein. Im Verhältnis zu Gott fordert er seinerseits Gerechtigkeit ein, andererseits und gleichzeitig äußert er aber auch die feste Überzeugung, dass Gott ihm diese Hilfe am Ende geben wird („Ich weiß, dass mein Erlöser lebt…“). Hiob behält seinen Glauben, auch noch in der tiefsten Verwundung. 

Hier ist ein theologisches Problem. Im damaligen Judentum war die Sache klar: wer die Bundeszusage hatte und sich an die Gebote hielt, konnte der Unterstützung des Herrn sicher sein. Wem es schlecht ging, der hatte dies entweder durch Übertretungen selbst verschuldet, oder aber war das Opfer von Übertretungen seiner unmittelbaren Vorfahren (siehe hierzu BdW, KW 7). Insofern können die Freunde nicht anders, sie müssen Hiobs Anspruch zurückweisen. Er solle sich erforschen, er werde Übertretungen finden.

Schließlich, nach langen Diskussionen, ist Hiobs Antwort harsch. In einem kurzen Abschnitt stellt er fest, dass er sein ganzes Leben lang in Gottes Gebot gelebt hat. Er nennt die Gebote und die wichtigsten Regeln einzeln und kann auch darlegen, dass er Gottes Gebote nicht nur dem Buchstaben, sondern auch dem Geiste nach befolgt hat: immer war er für den Nächsten, den Schwachen da. Er ist sogar zur Feindesliebe gelangt, damals beileibe noch keine explizite Forderung.

Und dann kommt ein Satz, der den Freunden Blasphemie sein muss: 

35 O hätte ich einen, der mich anhört – hier meine Unterschrift! Der Allmächtige antworte mir! –, oder die Schrift, die mein Verkläger geschrieben! 36 Wahrlich, dann wollte ich sie auf meine Schulter nehmen und wie eine Krone tragen. 37 Ich wollte alle meine Schritte ihm ansagen und wie ein Fürst ihm nahen.

Hiobs Vertrauen in die eigene Gerechtigkeit ist dergestalt, dass er Gott und seiner Anklage wie ein Fürst gegenübertreten zu können glaubt!

An diese Stelle gehört der gezogene Vers: die drei Männer schweigen, weil Hiob sich für gerecht hält! Auf dieses Schweigen nun folgen die Rede eines vierten Freundes (der bis dahin nicht erwähnt wurde), und dann die Antwort Gottes selbst aus dem Sturm. Durch die Laborsituation weiß der Leser, dass Hiob tatsächlich gerecht ist: in der Rahmenerzählung stellt Gott selbst das unzweideutig fest. Auch seinen Glauben und die Gottesfurcht behält er. Hiobs Beharren auf die eigene Gerechtigkeit aber lässt alle anderen verstummen und es zieht die sehr nachdrückliche Zurechtweisung Gottes nach sich. 

Das Bestehen auf der eigenen Gerechtigkeit wird im Buch Hiob verurteilt. Es isoliert uns von den anderen Menschen — das zeigt der Vers –, es entfremdet uns aber auch von Gott. Seine Gerechtigkeit, das sagt seine Rede aus dem Sturm, ist nicht mit menschlichen Maßstäben zu messen. Wir können uns mit einem Wesen, das so hoch über uns steht, nicht mit Kategorien auseinandersetzen, die für das Verhalten von Menschen gemacht sind. Vor lauter Totholz sehen wir dann den Wald nicht mehr: Gottes Macht und Größe. 

Es ist gut, den Versuch zu machen, Gottes Geboten zu folgen. Soweit der Versuch (mit Gottes Hilfe) gelingt, ist dies noch besser. Und man soll keinen Gedanken an die Position verschwenden, die man sich dadurch möglicherweise erwirbt — der Gedanke selbst führt in die Irre. 

Was aber die anderen Menschen betrifft:  Mit dem Beharren auf die eigene Gerechtigkeit verwandelt man jede fruchtbare Auseinandersetzung in ein Schweigen.

Ich wünsche uns eine gute Woche,
Ulf von Kalckreuth

Bibelvers der Woche 18/2018

Jasub, daher das Geschlecht der Jasubiter kommt; Simron, daher das Geschlecht der Simroniter kommt.
Num 26,24

Hier ist ein Link für den Kontext des Verses, zur Lutherbibel 2017.

Dieser Vers ist spröde, wenn er allein steht — so spröde, dass ich der plötzlichen Versuchung nachgab, eine neue Zufallsziehung zu generieren und erst später wieder hineinzuschauen. Aber irgendetwas funktionierte nicht, und als ich nachschaute, war die alte Ziehung noch intakt. Und das ist auch gut so. Zum einen ist es gänzlich gegen die Regeln, einen inkommoden Vers einfach wieder zurückzulegen. Das sollen wir ja mit unserem Leben auch nicht tun. Und zweitens war mir mittlerweile eingefallen, warum der Vers wichtig sein könnte.

Num 26 handelt vom Ende der Wüstenwanderung der Israeliten. Die Stämme haben sich am Ostufer des Jordan versammelt, gegenüber von Jericho, und sind bereit, in das Heilige Land einzufallen. Eine gewaltige Zahl von Menschen: Mose zählt 601.730 Männer über zwanzig Jahren, die Land einnehmen dürfen, zuzüglich 23.000 männliche Angehörige des Stammes Levi, die kein Land bekommen. Dazu kommt eine mindestens ebenso hohe Zahl von Frauen und Mädchen. Die Volkszählung ist der Spiegel jener Zählung, die Mose recht bald nach dem Auszug aus Ägypten gemacht hatte. Weil die Israeliten zum entscheidenden Zeitpunkt mutlos wurden, waren sie dazu bestimmt, vierzig Jahre lang in der Wüste zu wandern, so lange, bis alle ursprünglichen Auswanderer gestorben waren außer zweien, die sich als treu erwiesen hatten,. Und nun war es so weit. Das Volk vergewissert sich seiner selbst — nach Zahl, nach Stämmen, nach Geschlechtern und nach Sippen. Die Geschlechter als Teile der Stämme werden einzeln aufgezählt. 

Und hier liegt eine interessante Botschaft: die hebräische Bibel führt alles — die Menschheit, die Rassen (Sem, Ham, Japhet), Völker (Jakob/Israel, Lot, Jismael, uva.) und Geschlechter jeweils auf Individuen, einzelne Männer und Frauen, zurück. Und große Kollektive werden regelmäßig mit Personennamen benannt. Das hat mit dem modernen Individualismus, für den das Individuum alles ist und das Kollektiv nichts, ebenso wenig zu tun wie mit den modernen kollektivistischen Anschauungen, für die das Gegenteil gilt. Die Idee ist vielmehr, dass das Schicksal von Kollektiven über Individuen vermittelt ist, und zwar über sehr lange Zeiträume hinweg.

Die Stammväter der zwölf Stämme, die nun nach Palästina einfallen, waren vierhundert Jahr vorher dort ausgezogen, in Gestalt von zwölf lebenden Individuen, und die Verdienste und Fehler, die sie mit sich brachten, wirkten fort. Der gezogene Vers steht konkret in einer Reihung, in welcher die Untergruppen des Stammes Issachar aufgezählt werden — wiederum als Söhne je eines bestimmten Mannes.

Sachlich ist das nicht haltbar. Völker bilden sich nicht durch Projektion, durch Hochskalierung einzelner Individuen in die Hundertausende, sondern eher durch Zu- und Abwanderung und Vermischung und Akkulturation. Aber es kann ein starkes Bild sein für die Verantwortung, die wir alle für die Zukunft tragen. Die Zukunft ist durch die Gegenwart vermittelt, ihr Keim sind unsere Handlungen und dasjenige, was wir unseren Kindern weitergeben. Und dies ist eine Kernbotschaft der hebräischen Bibel. 

Ich wünsche uns einen schönen Maifeiertag,
Ulf von Kalckreuth

Bibelvers der Woche 17/2018

Sprich zur Weisheit: „Du bist meine Schwester“, und nenne die Klugheit deine Freundin,…
Sprüche 7,4

Hier ist ein Link für den Kontext des Verses, zur Lutherbibel 2017.

…dass du behütet werdest vor dem fremden Weibe

Ein schöner Vers, der für sich selbst spricht. Und wem es gelingt, ihn eine Woche lang zu beherzigen, der kann dies wohl eine gute Woche nennen. Aber der gezogene Vers endet in der Mitte des Satzes, hier ist der zweite Teil: 

…dass du behütet werdest vor dem fremden Weibe, vor einer andern, die glatte Worte gibt.

Das Buch der Sprüche (Salomons) ist ein Teil der Weisheitsliteratur in der Bibel, zu denen auch das Buch Hiob, der Prediger (Kohelet), das Hohelied und einige Psalmen gehören. Es geht darin um die Orientierung im Leben, um den Kompass für „richtiges Verhalten“, wobei es in der Weisheitsliteratur keine Trennung gibt zwischen zweckrationalem, an Zielen und Nebenbedingungen orientiertem Verhalten einerseits und ethisch begründetem Verhalten andererseits — beides gehört zur „Chochmah“, zur Weisheit. Sie ist nicht bloß Intelligenz oder Klugheit, sie ist ein Ausfluss des Wesens Gottes selbst. Als die Welt geschaffen wurde, spielte die Weisheit bereits zu Seinen Füßen (Sprüche 8,22ff). Das Wort „Klugheit“ in der Übersetzung ist etwas irreführend, dem hebräischen „Binah“ entsprechen eher die Begriffe Erkenntnis, Einsicht, die Fähigkeit, Gutes von Bösem zu unterscheiden.

Konkret geht es hier um die Treue zu den selbst eingegangenen Bindungen und um den Respekt vor den Bindungen anderer. Im gezogenen Abschnitt und in denen davor wird eindringlich vor Ehebruch gewarnt — er kann das eigene Leben zerstören und sogar physisch in Gefahr bringen. Und es wird klar festgestellt, dass der Einbruch in die Ehe eines anderen Menschen ein fundamentaler Verstoß ist, nicht nur das regelwidrige Ausleben der Sexualität: „Denn eine Hure bringt einen nur ums Brot, aber eines andern Ehefrau um das kostbare Leben“ (Sprüche 6,26).

Wie bereits gesagt: einen Unterscheid zwischen Ethik und Zweckrationalität macht die Weisheitsliteratur nicht. Vielleicht liegt darin eine ihrer wichtigsten Aussagen. Ich wünsche uns eine Woche, in der uns die Weisheit als Schwester begleiten möge, und die Klugheit als Freundin,
Ulf von Kalckreuth

Bibelvers der Woche 16/2018

Und daselbst kam des HERRN Hand über mich, und er sprach zu mir: Mache dich auf und gehe hinaus ins Feld; da will ich mit dir reden. 
Hes 3,22

Hier ist ein Link für den Kontext des Verses, zur Lutherbibel 2017.

Ezechiel, auch Hesekiel genannt, war ein junger Tempelpriester, der von den Babyloniern aus seiner Heimat in Juda verschleppt worden war. Es war dies die sogenannte erste Verschleppung, die nur einen Teil der Elite betraf. Nebukadnezar von Babylon hatte zwar dem Großmachtstreben des jüdischen Staates ein brutales Ende bereitet und diesen Staat auf einen Kern rund um die Stadt Jerusalem reduziert. Aber noch stand sie, die Hochgebaute. Ihre Zerstörung in einem weiteren Krieg und die Verschleppung größerer Teile der jüdischen Bevölkerung stand erst bevor. 

Ezechiel lebte mit seinen Gefährten am Fluss Kebar in einer babylonischen Stadt namens Tel Abib —von der viel später die heutige israelische Hauptstadt ihren Namen erhielt. In den Abschnitten vorher wird erzählt, wie Ezechiel seine Berufung als Prophet erhielt: in einer überwältigende Vision begegnet er dem Herrn, der ihn in seinen Dienst nimmt. Nicht als beamteter Tempelpriester, sondern als Prophet. Und nun will der Herr ein zweites Mal das Wort an ihn richten. Der gezogene Satz oben lautet fast gleich wie Eze 1, 3, mit der sich die erste Erscheinung ankündigt. 

Wie mag sich das angefühlt haben? 

Ich wollte es nachspüren. Vielleicht richtete sich der suggestive Vers, den ich gezogen hatte, ja auch irgendwie an mich selbst. Bei der Dichte von Verpflichtungen beruflicher und privater Art kostete es mich fast eine Woche, bis ich überhaupt vor die Tür kam. Am Ende gelang es nur dadurch, dass ich beschloss, den Weg zur Arbeit zu Fuß zu gehen statt mit dem Fahrrad zu fahren. 

Durch das Niddatal, den Niddapark und den Grüneburgpark in die Innenstadt. Eine Stunde und zwanzig Minuten. Die Übersetzung des gezogenen Verses enthält eine Ungenauigkeit: es sollte nicht „Feld“ heißen (hebräisch ßadé) sondern „Ebene“. Eigentlich ungewöhnlich — Gottesbegegnungen in der Bibel haben ihren Platz sonst eher im Gebirge oder in der Wüste. Als ich unterwegs war und über den Vers nachzudenken begann, verstand ich, dass ich vielleicht das richtige getan hatte. Die Verschleppten saßen in einer Stadt, die an einem Fluss lag. Wenn Ezechiel auf die „Ebene“ hinausgehen sollte, war damit gerade nicht Einöde und meditative Ruhe gemeint, sondern die Flussebene —ein zwar offener, aber belebter Raum, in dem Verkehr und Bewegung von und zu der Stadt stattfand. Vielleicht war Ezechiel in seinen Möglichkeiten eingeschränkt; wie ich, der ich nun auf dem Weg zur Arbeit die Nidda überquerte.

Auch in der Ebene allerdings ist man ungeschützt. Schon als ich das Haus verließ, war der Himmel dunkel. Recht bald wurde er schwarz, es begann zu regnen, Blitz und Donner gesellten sich dazu. Ich hatte von vornherein darauf verzichtet, beim Gehen wie sonst Musik zu hören. Das Wasser, die Blitze und die sich in ein Matschfeld verwandelnde Landschaft um mich herum machte nun alles sehr konkret und real.  

Ich erinnerte mich, was ich von Ezechiel wusste. Unter Christen ist er im Vergleich zu den anderen beiden „großen“ Propheten Jeremiah und Jesajah weniger gut bekannt, weil seine Bilder von Gottes Erbarmen für die Zeit nach der Zerstörung nicht recht kompatibel sind mit den heilsgeschichtlichen Vorstellungen des Christentums. Für die Juden aber und ihre mystischen Traditionen sind seine Gottesvisionen von sehr großer Bedeutung, besonders die erste, die er genau beschrieben hat. 

Nach seiner ersten Begegnung mit Gottwar Ezechiel eine Woche lang „verstört bei seinen Gefährten gesessen“. Vermutlich wäre Ezechiel heute in einer geschlossenen Anstalt untergebracht worden. Direkte Begegnungen mit Gott werden in der Bibel als unerträglich beschrieben. Niemand kann Gott sehen, ohne zu sterben. Selbst Mose durfte (wie Ezechiel) nur ein Bild sehen, die „Herrlichkeit Gottes“. Als nun Gott ihn am Ende dieser Woche zu einem zweiten Treffen nach draußen fordert, weiß Ezechiel noch nicht, was auf ihn zukommt, aber die erste Erfahrung steckte ihm noch in den Knochen.

Ezechiel weicht der — potentiell tödlichen — Begegnung nicht aus. Aber es war mir nun völlig klar, dass er große Angst hatte, und nicht ohne Grund. Diesmal erhält er einen konkreten Auftrag. Er soll die Umgebung vor der drohenden Katastrophe für Jerusalem warnen. Aber dies hatte wortlos zu geschehen: für lange Zeit verlor er die Sprache und war gezwungen, sich pantomimisch und mit Hilfe von Zeichnungen und selbstgebauten Modellen zu äußern. Dabei war Ezechiel ein am Wort orientierter, scharfsinniger und intellektueller Mensch. Sein Text ist verständlich und sprachlich beeindruckend, gut aufgebaut und enthält keine der redaktionellen Brüche und Überblendungen, die das Verständnis anderer Propheten so schwer machen. Und hinter der klaren Sicht spürt man eine große Wärme. In diesem Augenblick stand er mir sehr nahe. 

Gott kann sich auf viele Weisen äußern. Hier ist eine. Mittlerweile war ich durchnässt auf der Fußgängerbrücke über die Stadtautobahn angekommen. U- und Straßenbahnwagenfahrer streikten an diesem Tag. Der Verkehr in Frankfurt war völlig zusammengebrochen. Ich stand hoch oben und im Wolkendunkel war der Weg in die Stadt markiert mit einer unbeweglichen rotleuchtenden Spur aus Rücklichtern. Nach hinten in die Gegenrichtung waren es weiße Lichter, bis zum Horizont. Und ich konnte mich selbst sehen, wie von noch weiter oben, völlig ungehindert und in angenehmen, schnellen Tempo über die Brücke gehend, in den Grüneburgpark hinein. Der Regen war nass, aber weiter kein Problem. Vor mir, im 29. Stock eines dreieckigen Hochhauses, lag eine Arbeit, die oft frustrierend war, oft aber auch interessant, die mir immer wieder neue Möglichkeiten eröffnet hat, und mich jenseits aller relevanten materiellen Sorgen stellt. Zu Hause erwarten mich eine Frau und zwei Kinder, drei komplizierte Menschen, alle auf ihre Weise wertvoll und kreativ, eigene Welten, an deren Werden, Wandeln und auch Vergehen ich beteiligt war. Am Nachmittag würde ich mir freinehmen und auf die Frankfurter Musikmesse gehen. Am Sonntag würde ich im Gottesdienst singen und Gitarre spielen. Auf dem Weg zur Arbeit konnte ich mit meinem Gott sprechen oder auch mit den Propheten, wenn nötig auf Hebräisch, und in einigen Wochen würde ich wieder in Israel sein, in Jerusalem. 

Musik, Familie, Gott, Arbeit, Sprache, Bewegung. Und ich ging weiter durch das dampfende, brodelnde Aprilwetter. Phantastisch! Ich fand mein eigenes Leben auf einmal spannend, reich und interessant. Trotz meiner 55 Jahre. Lange Zeit hatte ich das nicht mehr gefühlt. Wer würde nicht mit mir tauschen wollen? Was hätte denn Ezechiel gewählt —sein eigenes Leben oder meins? Wohl doch sein eigenes, er hätte es für wesentlich und notwendig gehalten, trotz der Unzuträglichkeiten eines Daseins im sechsten vorchristlichen Jahrhundert im Allgemeinen und seiner schwierigen Lage im Besonderen.

Ja, und am Nachmittag wanderte ich im weiter strömenden Regen zum Frankfurter Messegelände und hatte dort drei Begegnungen mit großartigen Gitarristen, von denen ich wichtige Dinge lernte.

Ich wünsche uns eine gesegnete Woche!
Ulf von Kalckreuth

Bibelvers der Woche 15/2018

… und auch von den Kindern der Gäste, die Fremdlinge unter euch sind, und von ihren Nachkommen, die sie bei euch in eurem Lande zeugen; dieselben mögt ihr zu eigen haben.
Lev 25,45 

Hier ist ein Link für den Kontext des Verses, zur Lutherbibel 2017.

Sklave sein und frei

Hier ist zunächst einmal der erste Satzteil für den gezogenen Vers: „Willst du aber leibeigene Knechte und Mägde haben, so sollst du sie kaufen von den Heiden, die um euch her sind,…

Es geht in dem gezogenen Vers also um Sklavenhaltung, was erlaubt ist und was nicht. Der erste Teil der Botschaft ist: Angehörige des eigenen Volks dürfen keine Sklaven sein. Lev 25 entwirft eine gleichzeitig konservative und freiheitsbetonte Gesellschaftsordnung. Aller Reichtum, aller Grund und auch die Menschen gehören eigentlich Gott. Gott hat das Land den Israeliten, den Stämmen, den Sippen und einzelnen Familien darin gegeben, und diese Ordnung muss respektiert werden. Land kann ge- und verkauft werden, aber nach fünfzig Jahren kommt es zu seinem alten Besitzer zurück.  Das muss sich auch im Kaufpreis spiegeln: Er muss niedrig liegen, wenn das Erlassjahr nahe ist, und kann hoch sein, wenn es noch weit weg ist, „… denn die Zahl der Ernten verkauft er dir“. Ökonomen ist diese Methode der Bewertung als rental price of capital vertraut.

Gerät jemand in Not, so haben enge Verwandte auch vorher schon das Recht (und die Pflicht), den verkauften Grundbesitz wieder auszulösen. Volksgenossen dürfen gar nicht ge- und verkauft werden. Gerät ein Israelit in Not, so mag er sich als Knecht verdingen, aber nicht als Sklave, und zum Erlassjahr kommt er wieder frei und erhält seinen Besitz zurück. Der Herr hat das Volk nicht aus der Sklaverei geführt und in Besitz gebracht, damit sich die Hebräer gegenseitig versklaven und sich das Eigentum — die Lebensgrundlage — nehmen. Punkt.

Diese Forderung, dieses Gebot dürfte in den altorientalischen Gesellschaften ziemlich einzigartig gewesen sein. Es liegt ein wichtiges Prinzip der jüdischen Religion darin: jeder ist zugleich Sklave (Gottes) und frei (zu entscheiden).

Die andere Seite der Medaille scheint im gezogenen Vers auf: die Forderung bezieht sich nur auf Volksgenossen, nicht aber auf Angehöriger anderer Ethnien. Wer Sklaven halten möchte, kann dies tun: er muss sie eben aus den Völkern der „Heiden“ kaufen oder auch unter ihren Nachkommen, die im Land wohnen. Denn auch wer lange im Land wohnt, unterliegt nicht denselben Schutzstandards. Die altisraelitische Gesellschaftsordnung trug durchaus gewisse Züge, die man heute als rassistisch bezeichnen würde. Die Schutznormen in Lev 25 sind auf die Angehörigen der eigenen Ethnie beschränkt. Aber selbst das deutsche Grundgesetz von heute unterscheidet Menschenrechte und Rechte deutscher Staatsbürger.  

Ich wünsche uns eine gute Woche!
Ulf von Kalckreuth

Bibelvers der Woche 14/2018

Da sich nun der Philister aufmachte und daherging und nahte sich zu David, eilte David und lief auf das Heer zu, dem Philister entgegen.
1 Sa 17,48

Hier ist ein Link für den Kontext des Verses, zur Lutherbibel 2017.

Patt — und ein Ausbruch

Das judäische Heer König Sauls und das Heer der Philister stehen sich gerüstet auf zwei Bergen gegenüber, dazwischen ein Tal. Man kann den Schauplatz noch heute besichtigen, ich bin dort gewesen, ein Freund hat mich an die Stelle geführt. Die Schlacht ist jederzeit möglich, ein Angriff aber — der Israeliten wie der Philister — wäre mit großen Verlusten verbunden. Der jeweilige Angreifer müsste hinab ins Tal und wäre dort Ziel für die Pfeile und Speere des Verteidigers; dann müsste er bergauf kämpfen. Die Philister fordern die Israeliten zu einem Stellvertreterkampf heraus: einer der ihren, Goliath, soll gegen einen ausgewählten Israeliten kämpfen und so den Krieg entscheiden. Recht eigentlich eine schöne Lösung. Ein solcher Stellvertreterkampf wird auch in der Ilias versucht, zwischen Paris und Menelaos. Aber die Parteien halten sich nicht an die vereinbarten Regeln. Vielleicht gäbe es ja Troja noch, wenn es gelungen wäre…

Keiner der Israeliten wagt es, gegen den gewaltigen Krieger anzutreten, viele Tage lang. Verzweiflung macht sich breit. David, ein Junge noch und ohne Ausbildung an den Waffen, erträgt es nicht länger und meldet sich. Saul akzeptiert das Angebot. David kann die Rüstung Sauls nicht tragen und geht ohne Rüstung in dem Kampf, bewaffnet nur mit einer Steinschleuder. So — jung, schnell und wendig, unerfahren, aber auch unterschätzt, mit großem Vertrauen in Gottes Hilfe und seine eigene Kraft, unglaublich präsent, schön — tritt er dem Goliath entgegen. Der Kampf beginnt.

Frohe Ostern,
Ulf von Kalckreuth

Bibelvers der Woche 13/2018

Fliehet, wendet euch und verkriecht euch tief, ihr Bürger zu Dedan! denn ich lasse einen Unfall über Esau kommen, die Zeit seiner Heimsuchung.
Jer 49,8 

Hier ist ein Link für den Kontext des Verses, zur Lutherbibel 2017.

Feindliche Brüder

Der Kontext ist derselbe wie in dem Jesaja-Vers in Woche 4 dieses Jahres. Die Zerstörung Jerusalems als Strafe für gottloses Verhalten ist wie angekündigt eingetroffen. Aber auch die Feinde Israels sind gottlos und sollen ihrer Strafe nicht entgehen. Im Jesaja-Vers aus Woche 4 ging es um Moab, ein alter Feind des Südreichs. Hier, bei Jeremia, geht es um einen anderen Erbfeind, Edom. 

Das Volk der Edomiter ist den Hebräern eng verwandt, auch sprachlich. Sie wohnen im Süden und Osten vom Salzmeer, im Gebirge. Ihr Gott Qaus ist dem Gott der Hebräer in vielen Aspekten ähnlich, so ähnlich, dass die hebräische Bibel die Religion der Edomiter vorsichtshalber nirgends explizit verurteilt, und an einer Stelle gar von Edom als einem Ort spricht, an dem der Herr sich zeigt. Das Buch Genesis führt die Edomiter auf Esau zurück, den Bruder Jakobs. In der Torah wird erzählt, dass die Edomitern den Kindern Israels auf ihrer Wüstenwanderung den Durchzug verweigerten. Die Nachkommen von Mischehen zwischen Juden und Edomitern waren daher bis in die vierte Generation von der Volksgemeinschaft ausgeschlossen. Das Brudervolk scheint aktiven Anteil an der Zerstörung des Südreichs und Jerusalem gehabt zu haben — seitens der Propheten gibt es dazu Verurteilungen.

Die Prophezeiung von Jeremia sind wie eine Kurzfassung der Prohezeiungen über Israel. Ein tröstlicher Aspekt ist hier angedeutet mit dem Satz (Jer 49,11) „Doch was übrigbleibt von deinen Waisen, denen will ich das Leben gönnen, und deine Witwen werden auf mich hoffen“. Tatsächlich verschwanden die Edomiter mit der Invasion der Babylonier nicht aus der Geschichte. Zur Zeit Jesu war Idumäa Teil des römischen Besatzungsgebiets, zu dem auch Judäa gehörte. 

Ich wünsche uns eine gute Woche — und ein frohes Osterfest
Ulf von Kalckreuth

Bibelvers der Woche 12/2018

Und als er in den Tempel kam, traten zu ihm, als er lehrte, die Hohenpriester und die Ältesten im Volk und sprachen: Aus was für Macht tust du das? und wer hat dir die Macht gegeben?
Mat 21,23

Hier ist ein Link für den Kontext des Verses, zur Lutherbibel 2017.

Wer bist du?

Die im gezogenen Vers gestellte Frage an Jesus ist völlig berechtigt. Die Hohenpriester und Ältesten, Mitglieder des Sanhedrin, trugen Verantwortung für den Tempel, das kultische Zentrum des Judentums, und Jesus hatte dort am Tag zuvor Aufruhr verursacht: Er hatte die Händler mit Gewalt vertrieben und Wunderheilungen vollbracht, Kinder waren schreiend im Tempel herumgelaufen und hatten gerufen „Hosiannah, dem Sohn Davids“. Nun war er wiederum im Tempel und lehrte das Volk. Woher, also, in wessen Auftrag dies?

Die Antwort konnte für den so Befragten sehr gefährlich werden, wie die spätere Entwicklung zeigt. Handelte er im Auftrag von Menschen, oder gar im eigenen Auftrag, so lag ein Rechtsbruch vor. Wer lehrte und wer nicht, bestimmte der Ältestenrat, deren Mitglieder gerade Rechenschaft forderten — sie würden Jesus ohne weiteres vor die Tür werfen können. Sagte er, er handle im Auftrag Gottes, so war er womöglich weitaus Schlimmeres, ein Aufwiegler, ein Usurpator. 

In einem weiteren Sinne handelt das ganze Neue Testament von dieser Frage: aus welcher Vollmacht tut Jesus das und wer hat ihm die Macht gegeben? Auch die Jünger kannten die Antwort nicht — immer wieder fragen sie. Die Antwort aber ist es, die Christentum und Judentum im Kern voneinander scheidet, das meiste andere ist akzidentell. 

Jesus antwortet nicht direkt, sondern mit einer Gegenfrage: von wem ist die Taufe des Johannes: von Gott oder den Menschen? Das hatte zunächst unmittelbare Relevanz für die zuerst gestellte Frage der Hohenpriester: Jesus Autorität kam ja von Johannes, und damit hängt ihre Natur nun entscheidend davon ab, ob Johannes im Auftrag von Gott oder von anderen Menschen handelte. Gleichzeitig bringt aber Jesus seine Gegenüber mit der Gegenfrage in eine sehr ähnliche Lage wie diejenige, in die sie ihn bringen wollen. Das Volk hielt Johannes für einen großen Propheten — wenn also die Hohenpriester sagten, seine Taufe sei die eines Menschen, dann würde dies Unmut zur Folge haben, vielleicht gar gewalttätigen. Und sagten sie, seine Taufe käme von Gott, müsste Jesus dem nichts mehr hinzufügen. 

Die Hohenpriester und Ältesten denken lange nach und verweigern sich schließlich der Alternative: sie antworten, dass sie es nicht wüssten. Und Jesus verweigert nun die Antwort seinerseits. 

Ein Punktsieg. Ja. Aber was wäre denn die richtige Antwort gewesen? Für einen protestantischen Christen hat das Ausweichmanöver etwas Unbefriedigendes — Martin Luther hat auf dem Reichstag zu Worms in einer sehr vergleichbaren Lage ganz anders geantwortet. Und auch Jan Hus verzichtete auf dem Reichstag zu Konstanz auf Ausflüchte. Es brachte ihm den Tod. Christen glauben, Jesus handelte im Auftrag und als Sohn Gottes und verkündigte Gottes Reich, ein Reich, das mit der Predigt und dem Wirken Jesu seinen Anfang nimmt. Das hätte er hier bekennen können. Aber wäre das die richtige Antwort von Jesus gewesen, an diesem Ort, zu diesem Zeitpunkt?

Später, vor Pilatus, betritt er keine der goldenen Brücken, die dieser ihm baut. Der meisterhaften Parade vor den Hohepriestern lässt sich sicherlich entnehmen, dass er nicht jede Gelegenheit beim Schopf ergreifen wollte, schnell zu Tode zu kommen. Darüber hinaus ist es aber möglich, dass er die Antwort auf die Frage der Hohepriester selbst nicht kannte, wenigstens zu diesem Zeitpunkt nicht — dass die Gegenfrage nicht nur rhetorisch war. Dag Hamarskjöld vertritt in seinem geistlichen Testament die Vorstellung, dass Jesus noch in der Abendmahlsszene als wahrer Mensch die Antwort auf die Frage nach seiner Berufung nicht kannte, nicht kennen konnte, und spürte, dass er sie erst im Tode würde finden können. Ein Tod im Zweifel also…

Ein echter Passionsvers.

Ich wünsche uns eine gesegnete Woche.
Ulf von Kalckreuth

Bibelvers der Woche 11/2018

Da schied Jakob die Lämmer und richtete die Herde mit dem Angesicht gegen die Gefleckten und Schwarzen in der Herde Labans und machte sich eine eigene Herde, die tat er nicht zu der Herde Labans.
Gen 30,40 

Hier ist ein Link für den Kontext, zur Lutherbibel 2017

Zwei Skorpione in einer Flasche

Der Vers bringt uns zu Jakob, einem der Stammväter Israels. Über einen erheblichen Teil seines Lebens kreisen er und sein Onkel Laban umeinander, betrügen sich, machen einander doppelbödige Versprechungen und kommen doch nicht los voneinander. In dem Abschnitt, in dem der Vers steht, wird berichtet, wie Laban und Jakob den Gewinn teilen, den sie durch Labans Herde (Kapital) und Jakobs Know How und seinen Arbeitseinsatz erwirtschaften. Labans Vorschlag ist im Grunde fair: die Gewinne werden nach einem festen Schlüssel geteilt. Konkret soll Jakob die scheckigen, gefleckten und bunten Tiere erhalten, die nach dem Stichtag zur Welt kommen, Laban aber die weißen (Laban heißt auf Hebräisch „weiß“). Laban teilt die Herden vorher und bringt alle gefleckten, scheckigen und bunten Tiere zu seinen Söhnen. Vielleicht will er damit die Gewinnteilung sauber machen — nach diesem Stichtag gehört so klar alles Gefleckte, Scheckige und Bunte dem Jakob. Vielleicht glaubt er aber auch, dass gefleckte Lämmer von gefleckten Mutterschafen kommen, dann wäre es ein Betrugsversuch an Jakob.

Jakob aber hat überlegenes tierzüchterisches Wissen (das sich uns im einzelnen nicht erschließt) und manipuliert die Gewinnteilungsregel. Er sorgt dafür, dass die Schafe und Ziegen bei der Begattung scheckige und gefleckte Hölzer zu sehen bekommen — und daraufhin bringen sie scheckige und gefleckte Lämmer zur Welt. Davon wird im Vers berichtet. Darüber hinaus behandelt er nur die starken Tiere so — die schwachen lässt er weiße Lämmer bekommen. Die gehören dann dem Laban.

Der gezogene Vers berichtet von einer verlockenden Gewinnerzielungsmöglichkeit, die Jakob auch nutzt. Die Bibel verliert explizit kein Wort darüber, ob dies eine gute Idee ist.

Jakob wird mit dieser Technik schnell sehr reich, auf Kosten Labans. Die Kinder Labans verstehen irgendwann, dass eine Manipulation vorliegt, und Jakob muss fliehen. Er flieht in Richtung seiner alten Heimat, die er wegen seines Betrugs an Esau hatte verlassen müssen, mit seinen Herden, die er von Laban hat, und seinen beiden Frauen, die Labans Töchter sind. Rachel, die jüngere, hatte ihrem Vater Laban darüber hinaus seinen Hausgott gestohlen, wohl aus Rache. Laban ist todunglücklich. Er verfolgt Jakob und holt ihn ein, mit einer Schar schwerbewaffneter Kämpfer. Jakob hat ihm alles genommen, Laban ist der betrogene Betrüger, aber nun kann er das Spiel umdrehen und sich alles zurückholen. Die Familie wäre dann restlos zerstört. Jakob hatte geschworen, dass derjenige sterben muss, der in seiner Gruppe den Hausgott gestohlen hat. Alles wird durchsucht, ohne dass das Objekt gefunden wird. Aber es scheint möglich, dass Laban verstanden hat, dass Rachel die Diebin war. 

In einem unglaublichen Akt der Großzügigkeit verzichtet Laban. Er lässt Jakob und die seinen mit den Herden gehen und gibt obendrein seinen Töchtern den Segen mit. Auch dies lässt die Genesis völlig unkommentiert. Aber am Ende ist Laban derjenige, der aus dem jahrelangen Tanz der Familie um den Abgrund gelernt und verstanden hat, worauf es wirklich ankommt — nicht Jakob. Noch nicht.

Ich wünsche Euch eine schöne Woche,
Ulf von Kalckreuth

Bibelvers der Woche 10/2018

Am zehnten Tage des fünften Monats, welches ist das neunzehnte Jahr Nebukadnezars, des Königs zu Babel, kam Nebusaradan, der Hauptmann der Trabanten, der stets um den König zu Babel war gen Jerusalem…
Jer 52, 12

Hier ist ein Link für den Kontext des Verses, zur Lutherbibel 2017.

Over and out

Der gezogen Vers ist ein Fragment, der Satz schließt im nächsten Vers: …und verbrannte des HERRN Haus und des Königs Haus und alle Häuser zu Jerusalem; alle großen Häuser verbrannte er mit Feuer. 

Die Sätze stehen ganz am Ende des Buchs Jeremia. Der Abschnitt ist den Prophetien und der Lebensgeschichte Jeremias nachgeschoben und fast wortgleich mit dem Ende des Buchs der Könige. Er zeigt, wie der erste Teil der Prophetien Jeremias eintrifft. Im gezogenen Vers ist die Hand erhoben, für eine logische Sekunde ist alles in der Schwebe. Im nächsten Vers fällt der Stich. Jerusalem ist von den Truppen Nebukadnezars erobert, bereits am 9. Tag des vierten Monats war die Stadt gefallen. Die militärische Arbeit ist getan. Vier Wochen später nun kommt ein Administrator aus dem inneren Kreis um König Nebukadnezar und führt das Zerstörungswerk planmäßig aus. Im Detail wird dann beschrieben, wie die kostbare Tempelausstattung nach draußen getragen und ökonomisch verwertet wird, beinahe wie eine Rückabwicklung des Tempelbaus in 1. Könige 6 und 7.

Passionszeit. Der Tempel, das Interface zwischen Gott und seinem Volk, ist nicht mehr. Gott hat nicht nur seine Gnade vom Volk genommen, sondern auch den Kontakt abgebrochen. Fast wie bei Harry Mulisch „Die Entdeckung des Himmels“ — in diesem Roman bricht Gott die Beziehung mit der modernen Menschheit ab, indem er die Tafeln mit den zehn Geboten wieder zurücknimmt. Die Elite des Volks wird nach Babylon verschleppt. In der jüdischen Bibel ist dieser Moment herausgehoben traumatisch, er ist die Scheide, um die herum die Schriften sich in ein „Vorher“ und ein „Nachher“ gruppieren. Eine Analogie für den gezogenen Vers im Neuen Testament wäre die Stelle, in der Jesus, der Mittler zwischen Mensch und Gott, die Dornenkrone trägt, aber noch nicht am Kreuz hängt. 

Der Vers erinnert daran, dass Gott uns seine Gnade gibt und er sie wieder von uns nehmen kann. Wem nicht ein Bauwerk, sondern die eigene Person der Ort der Begegnung mit Gott ist, den erinnert er an die Endlichkeit des Lebens. Und ganz entfernt scheint eine neue Perspektive auf: mit der Erfüllung des ersten Teils der Prophetie Jeremias wird nun der zweite Teil relevant, in dem es Sätze gibt wie: „So spricht der Herr: Das Volk, das dem Schwert entronnen ist, hat Gnade gefunden in der Wüste; Israel zieht hin zu seiner Ruhe. Der Herr ist mir erschienen von ferne: ich habe dich je und je geliebt, darum habe ich dich zu mir gezogen aus lauter Güte. Ich will dich wiederum bauen, dass du gebaut sein sollst, du Jungfrau Israel, du sollst dich wieder schmücken und mit Pauken ausziehen im fröhlichen Tanz.“ (Jer 31, 2-4)

Ich wünsche Euch eine schöne Woche
Ulf von Kalckreuth