Bibelvers der Woche 22/2020

So hätte ich nun Trost, und wollte bitten in meiner Krankheit, dass er nur nicht schonte, habe ich doch nicht verleugnet die Reden des Heiligen.
Hiob 6,10

Hier ist ein Link zum Kontext in der Lutherbibel 2017.

Behind the blind

Leid und Gottes Schutz 

Vor einigen Wochen gab es zwei Verse aus Hiob hintereinander. Hiob begegnet uns recht häufig — wir hatten Hiob-Verse in den Wochen 12/2020, 11/2020, 15/2019, 45/2018 und 19/2018. Trügt die Hoffnung oder trägt sie: durch zufälliges Ziehen langsam und mit der Zeit, lernend, ein authentisches Bild der Bibel jenseits der ausgetretenen Pfade zu gewinnen? Jedesmal finde ich in diesem Buch eine neue wichtige Facette.

Der gezogene Vers gehört in den ersten Teil des Buchs, wo die Dimensionen der Frage und die Konfliktlinien sichtbar werden. Um seine Gottesfurcht zu erproben, wird Hiob mit Zustimmung Gottes von Satan mit unsäglichem Leiden gequält. Drei Freunde besuchen ihn. Hiob hat nach langem Schweigen ausgiebig den Tag verflucht, an dem er geboren wurde, mit großer Lust am verbalen Detail. Er fragt nach Gottes Gerechtigkeit und danach, warum Gott Wesen in die Welt setzt, nur um sie zu peinigen.

Elifas, einer seiner Freunde, antwortet. Aus der Rede des Elifas gab es früher schon den BdW 2018/45. Im Kern sagt er, dass niemand ohne Sünde ist, das sei Illusion. Individuelles Leid ist Zurechtweisung Gottes und damit Gnade, denn verstockte Sünder gehen unweigerlich unter. Es ist dem Leben dienlich, die Zurechtweisung zu hören und sein Verhalten anzupassen: „Selig ist der Mensch, den Gott zurechtweist; darum widersetze dich der Zucht des Allmächtigen nicht. Denn er verletzt und verbindet, er zerschlägt und seine Hand heilt.“ (Hiob 5, 17f). Dann preist Elifas mit großer poetischer Kraft Heil und Schutz, den Gott den Seinen gibt und schließt: „Siehe, das haben wir erforscht, so ist es; darauf höre und merke du dir’s.“

Wenn man selbst im Dreck liegt, ist es unerträglich, so etwas von jemandem zu hören, dem es selbst gut geht. Hiob reagiert scharf — in der Fahrrinne seiner ersten Rede wünscht er sich nun, der Herr möge endlich ein Ende machen mit ihm und zwar schnell, dann könne er vor Freude hüpfen (so im Original), weil er trotz allem den Worten des Heiligen treu geblieben sei bis zum Schluss. Der gezogene Vers ist das sprachliche Kunstwerk eines Menschen, der am Rand seiner Kräfte steht. Die angekündigte Freude über den raschen Tod, den er hüpfend begrüßen würde (wie mag man sich das vorstellen?) — das ist blanke Ironie. Hiob besteht auf seiner Gerechtigkeit, sagt aber implizit, dass er die Worte des Heiligen unter diesen Umständen vielleicht nicht mehr lang werde achten können. 

Der Gott der Juden und der Christen ist Einer: nichts geschieht ohne seinen Willen. Im ersten Jahrtausend vor Christus war man nicht so schnell bereit wie heute, ganze Wirklichkeitsbereiche aus Gottes Zuständigkeit zu nehmen, etwa unter Verweis auf „die Naturgesetze“, oder „die Folgen des willensfreien menschlichen Handelns“. Gott ist allmächtig, allwissend und damit allverantwortlich: auch für Leid und Qual. Das Buch Hiob ist die Auseinandersetzung damit: Hiobs Anklage gehört ebenso dazu wie der Lobpreis in Elifas erster Rede. Das Buch Hiob beleuchtet seinen Gegenstand, diesen unerträgliche Widerspruch, nach allen Seiten. Eine klare Antwort, die man nach Hause tragen könnte, gibt es am Ende nicht. 

Am Himmelfahrtstag hatte ich Gelegenheit, auf der Trauerfeier für eine in Treue und Zuneigung sehr alt gewordenes Schwester unserer Gemeinde Psalm 91 vorzutragen und ein Lied dazu zu singen. Es war der erste Gottesdienst seit vielen Wochen. Wie ich hier nun schreibe, muß ich an diesen Psalm ständig denken. Hier ist der Text des Lieds, aus den Versen 4b-7 und 11-12 von Ps 91:

Er hat seinen Engeln befohlen,
dass sie dich hüten auf all deinen Wegen,
dass sie dich auf Händen tragen,
dass dein Fuß keinen Stein anstosse.
Seine Wahrheit ist Schirm und Schild, 
dass du nicht erschrecken mußt, nicht erschrecken mußt:

vor dem Grauen der Nacht,
vor den Pfeilen, die fliegen am hellichten Tag,
vor der Seuche im Finstern,
vor der Pest, die am Mittag Verderben bringt.
Auch wenn Tausende fallen,
so wird’s dich nicht treffen, dich nicht treffen!

Denn er…

Elifas Lobpreis klingt im Psalm genauso an wie Hiobs Qual. Er stellt die beiden Seiten göttlichen Wirkens nebeneinander. Das Verderben in der Welt und Gottes Güte und Schutz sind gleichermaßen wirklich, auch in unserem Leben. Und beides bedingt sich gegenseitig — wie Karfreitag und Ostern ist eines alleine sinnlos. Unser Gott ist Einer, aus seiner Hand empfangen wir beides. Darin ist Trost. Es ist das Geheimnis von Leben, Tod und Auferstehung.  

Ich wünsche uns eine gesegnete Woche,
Ulf von Kalckreuth

Bibelvers der Woche 21/2020

Jerusalem, 3. Januar 2019, Stadtmauer Jerusalem

Da sie das hörten, wurden sie froh und verhießen, ihm Geld zu geben. Und er suchte, wie er ihn füglich verriete.
Mk 14,11

Hier ist ein Link zum Kontext in der Lutherbibel 2017.

Sammler von Schuld

Wenig wissen wir über Judas, obwohl er eine zentrale Rolle spielt im Schlussakt des Dramas um Schuld und Entsühnung im Neuen Testament. Judas gehörte zu den Zwölfen, zur engsten Schar um Jesus. Einige Zeit vorher war er mit den anderen von Jesus ausgesandt und mit Wunderkräften versehen worden, um zu missionieren und zu heilen. Er verwaltete die Kasse der Gruppe und hat Jesus nach Jerusalem begleitet auf dem Weg, der zum letzten Abendmahl und zu seinem Tod führen sollte. Und noch bevor alles begann, hatte er beschlossen, Jesus seinen Todfeinden ans Messer zu liefern. 

Warum nur? 

Das Neue Testament ist mit Antworten karg. Im gezogenen Vers wird als Motiv Geldgier angedeutet. Doch wer seine Tage und Nächte mit einer religiösen Gruppe verbringt, die sich der Besitzlosigkeit verschrieben hat, kann hier eigentlich nicht sehr anfällig sein. Johannes spricht davon, dass der Teufel in Judas gefahren sei. Das ist eher das Gegenteil einer Erklärung. Eine gängige Begründung lautet, Judas sei Zelot gewesen, Mitglied einer Gruppe, die den gewaltsamen Umsturz beförderte und plante, und der Verrat sei aus Enttäuschung über den gewaltfreien Kurs Jesu geschehen. Man kann sich nur schwer vorstellen, dass Judas seinem Meister vorher nie zugehört haben sollte. Die schmale Stütze dieser Vorstellung ist der Beiname „Iskariot“. Das könnte auf einen „Sikarier“ verweisen, die ständig Messer mit sich trugen, bereit zum Attentat in Gottes Auftrag — aber genausogut kann eine Herkunft aus dem Dorf Kariot in Juda dahinterstehen. Joh 13,26 macht es in meinen Augen klar, der Vers nennt ihn „Judas, Sohn des Simon Iskariot“. 

Irenäus von Lyon erwähnt (und verwirft) das Judasevangelium einer gnostischen Sekte. Darin wird Judas als herausgehobener Jünger beschrieben, der als einziger die Notwendigkeit des Opfertods Jesu versteht und den Weg dorthin ebnet, im Auftrag Jesu. Der Text war verschollen, tauchte aber 2006 in einer koptischen Fassung aus dem vierten Jahrhundert wieder auf. Literarisch spielte dieses „Evangelium“ aber bereits zuvor in der gewaltigen Jesuserzählung des jüdischen Autors Schalom Asch aus den dreissiger Jahren eine Rolle. Asch stellt Judas als einen Jünger zwischen abgründigem Zweifel und fanatischem Glauben vor, den der Stillstand fast um den Verstand bringt, bis er schließlich wie unter Zwang die Starre lösen, die Heilstat in Gang bringen will, die zum Reich Gottes führen soll.

Ist da ein Körnchen Wahrheit versteckt? In den Tagen vor seiner Verhaftung lebten Jesus und seine Jünger verdeckt, streng konspirativ — sie zeigten sich tags im Tempel, weil sie in der zugewandten Menge vor Verhaftung sicher waren und verschwanden abends wieder im Umland, in Betanien. Mk 14,12-16 schildert die Wege und Umwege, damit das Pessachmahl in Jerusalem gefeiert werden konnte. Sollte es also zur Kreuzigung kommen, mußten Jesus und seine Verfolger zusammengeführt werden. Judas‘ Tat war im Sinne des Neuen Testaments notwendig. Alle vier Evangelisten berichten, dass Jesus von Judas Verrat wusste, und dass Judas dies seinerseits bekannt war. Zwischen beiden herrschte eine Art Einverständnis. Bei Johannes sogar explizit: „Was du tust, das tue bald“, sagt Jesus zu seinem Jünger. 

Jesus löst von Schuld. Judas sammelt Schuld. Alle versagen: die Priester, die Schriftgelehrten, das einfache Volk, die Römer und auch die Jünger. Das Versagen macht den Opfertod nötig und führt ihn gleichzeitig herbei. Hierfür steht Judas, der Jünger aus dem engsten Kreis, als Allegorie der Schuld. Auf seine Art trägt auch er die Sünde der Welt. Mit dem Verrat und dem späteren Selbstmord wird er zum dunklen Bruder, zum Gegenbild, von Petrus oder sogar von Jesus selbst. In dem Moment, als Jesus und Judas beim Abendmahl gemeinsam den Bissen in den Becher tauchen, bedingen sie sich gegenseitig, beider Schicksal hängt am jeweils anderen.

Sonderbar: Jesus lässt Judas sehenden Auges an der Abendmahlsfeier teilnehmen, auf der er symbolisch den Leib für die anderen hingibt. Und Judas: er bleibt und geht erst dann hinaus in die Nacht. Ist Jesus eigentlich auch für Judas gestorben? Und Judas, schließlich, am Ende, für Jesus? 

Ich wünsche uns eine friedliche Woche in Gottes Segen,
Ulf von Kalckreuth

Bibelvers der Woche 20/2020

Urim und Thummim

Und der Landpfleger sprach zu ihnen, sie sollten nicht essen vom Hochheiligen, bis ein Priester aufstände mit dem Licht und Recht.
Esr 2,63

Hier ist ein Link zum Kontext in der Lutherbibel 2017.

Das Los werfen

Ein besonderer Vers für jemanden, der zufällig Bibelverse zieht, um dadurch über die Zeit ein neues Bild zu gewinnen! Es geht um die Orakelsteine Urim und Thummim, mit denen der Hohepriester direkt Gottes Wille erfragen konnte, siehe 2.Mose 28,30. Ihr Name wird von Luther etwas ungenau mit „Licht und Recht“ übersetzt, richtiger wäre „Lichter und Vollkommenheiten“.  

Als die Judäer sich siebzig Jahre nach der Verschleppung durch die Babylonier in Jerusalem wieder sammeln durften, mussten sie das Judentum neu konstituieren. Hierfür steht das Buch Esra. Wer gehörte dazu, wer nicht? Siehe hierzu BdW 2/2018, aus demselben Abschnitt gezogen. Besonders kritisch musste diese Frage bei den Leviten gestellt werden. Nur Abkömmlinge des Stammes Levi durften Tempeldienste verrichten. Der Abstammungsnachweis gelang nach so langer Zeit nicht allen Familien mehr. Es war aber durchaus möglich, das der Anspruch der betroffenen Familien berechtigt war. Der Landpfleger zieht sich aus der Affäre: Der Anspruch wird nicht abgelehnt, sondern nur suspendiert, bis die Frage mit Hilfe der beiden Orakelsteine durch ein Gottesurteil gelöst werden konnte. Diese waren nach dem Exil leider verschwunden. Bis sie wieder auftauchen, durften die fraglichen Familien also an der Durchführung der Opfer nicht mitwirken.

Der Landpfleger zeigt Führung, wie man heute sagt — irgendwie müssen Sachfragen eben beantwortet werden. Aber wenn es nun die Orakelsteine noch gäbe? Beim Werfen waren drei Ausgänge möglich: „ja“, „nein“ und „keine Antwort“. Wer die Steine besaß, hatte große Macht: einen unmittelbaren Zugang zu Gottes Wille und zur Wahrheit, dann jedenfalls, wenn die beiden Steine auf die gestellte Frage tatsächlich antworten, mit „ja“ oder „nein“. 

Eine faszinierende Vorstellung! 

Wie würden wir die Steine nutzen? Man müsste lange über die Formulierung der Frage nachdenken, das zur Entscheidung stehende Problem so gut wie möglich vorbereiten und sich dabei ganz auf dasjenige konzentrieren, was wichtig und offen ist, und zwar gegeben alles relevante Wissen — Unwichtiges oder im Grunde Bekanntes hat in einer Frage an die mit göttlicher Kraft begabten Steine keinen Platz. Bereitet man sein Anliegen in dieser konsequenten Weise auf, kann man so viel lernen, dass die Steine vielleicht gar nicht mehr nötig sind…

So können wir aber auch ohne Urim und Thummim vorgehen und dann, falls am Ende doch eine Frage übrig bleibt, auf Gottes Antwort warten. Sie wird zu uns gelangen — wenn es denn sein soll, denn auch die Steine haben am Ende ja nicht jede Frage beantwortet. 

Ich wünsche uns in dieser Woche die Antwort auf eine Frage, die wichtig und offen ist, und dabei Gottes Segen. 

Ulf von Kalckreuth

Bibelvers der Woche 19/2020

Wo sind die Klugen? Wo sind die Schriftgelehrten? Wo sind die Weltweisen? Hat nicht Gott die Weisheit dieser Welt zur Torheit gemacht?
1 Kor 1,20

Hier ist ein Link zum Kontext in der Lutherbibel 2017.

Weisheit und Torheit

Paulus hat ein Problem. Seine Botschaft richtet sich an Juden und auch an die griechisch akkulturierten Heiden. Für die Juden entspricht Jesus mit seinem Kreuzestod überhaupt nicht dem Bild des strahlenden Messias, der das Königtum wieder aufrichtet und ein Reich Gottes unter der Herrschaft Israels begründet. Die Griechen wiederum hatten sich um die Zeitenwende von ihrer polytheistischen Götterwelt im Grunde verabschiedet, sahen sie nur mehr als Gleichnis. Was Paulus mit „Weisheit“ bezeichnet, ist konkret die stoizistisch geprägte griechische Philosophie seiner Gegenwart.

Und die war messerscharf und anti-transzendent. Das Leben ist Leiden, das Gewordene ist zum Vergehen bestimmt, und nicht die Götter helfen, sondern eine Schau auf das Leben und die eigene Person, deine Schau, die sich von den Bedingtheiten des Lebens löst. Das Leiden überwindet, wer lernt, es zu ertragen. Die Botschaft vom rettenden Gott, der die Waagschalen der Welt ins Gleichgewicht zurückführt, der das große Sühneopfer in Gestalt seines Sohns selbst bringt — sie war für die Philosophen irrelevant, irreführend oder sogar Opium fürs Volk. 

Paulus kann diese Position nicht widerlegen, obwohl er es durchaus einmal versucht (siehe Apg 17,16ff). Sie ist konsistent, auch heute noch. Die christliche Botschaft erfordert einen Akt des Glaubens, einen geistigen Sprung ins Leere, und ist so gesehen „unvernünftig“. Die rhetorischen Fragen im Vers bereiten Paulus‘ Antwort vor:  

Denn die Juden fordern Zeichen und die Griechen fragen nach Weisheit, wir aber predigen Christus, den Gekreuzigten, den Juden ein Ärgernis und den Heiden eine Torheit; denen aber, die berufen sind, Juden und Griechen, predigen wir Christus als Gottes Kraft und Gottes Weisheit. Denn die göttliche Torheit ist weiser, als die Menschen sind, und die göttliche Schwachheit ist stärker, als die Menschen sind.
(1 Kor 1, 22-25)

In der ganzen Bibel gibt es eine konsequente Tendenz, weltliche Werte umzuwerten und das Unterste zuoberst zu kehren. Vor einem halben Jahr hatten wir einen Bibelvers der Woche aus Kohelet, siehe den Link:

Ich sah Knechte auf Rossen und Fürsten zu Fuß gehen wie Knechte.
Koh 10,7 (BdW 2019 / 38)

Paulus schreibt, dass Gott sich auf eine ganz eigene und unverkennbar „gott“hafte Weise empirisch manifestiert: es ist das Kleine, das mit Gott das Große überschattet, das Schwache, dass mit Gott sich durchsetzt und das Starke überwuchert. Das genaue Gegenteil also des Erwartbaren. Das nimmt eine Kernströmung im Tanach auf und es macht Kreuzestod und Auferstehung unmittelbar plausibel. Den Philosophen sagt er, dass Gott und seine Liebe größer sind als die menschliche Vernunft (Phi 4,7), dass Gott zu groß ist, um sich berechnen zu lassen.

Die rhetorischen Fragen im Vers kann man sich in Ruhe selbst stellen. Man wird dann schnell bescheiden. Wo das Fassungsvermögen nicht ausreicht für das, worauf es ankommt, schlägt Weisheit in Torheit um, und — vielleicht! Das ist die Hoffnung! — umgekehrt. 

Das ist ein Geheimnis ganz eigener Art, und ich wünsche uns in dieser Woche von beidem, Weisheit und Torheit, die rechte Mischung.
Ulf von Kalckreuth

Bibelvers der Woche 18/2020

Die Kinder des Weibes Hodijas, der Schwester Nahams, waren: der Vater Kegilas, der Garmiter, und Esthemoa, der Maachathiter.
1 Chr 4,19

Hier ist ein Link zum Kontext in der Lutherbibel 2017.

Menschen, ihre Großfamilien und ihre Orte

Das Buch Chronik gibt den Inhalt von Teilen Samuels und der beiden Königsbücher aus einer alternativen, stark auf den Tempel und das Südreich bezogenen Sicht wieder. Am Anfang des ersten Chronikbuchs steht die „genealogische Vorhalle“. Hier werden, Stamm für Stamm, die Beziehungen zwischen den wichtigen Sippen, Siedlungsgebieten und Städten erörtert. Dabei werden Städte und Landschaften wie Menschen behandelt: sie werden mit ihren Gründern identifiziert und sind in nachvollziehbar Weise verwandt miteinander; es lassen sich Verhältnisse von Über- und Unterordnung feststellen und begründen. Das gleiche Prinzip finden wir im Buch Genesis. Israel ist der Name eines Mannes, nicht nur eines Volks, Juda ebenso. Reihenweise werden Völker, Stämme, Städte auf einzelne lebende Menschen zurückgeführt.

Der gezogene Vers stammt aus einem von mehreren Abschnitten, in denen die Familien, Städte und Landschaften Judas behandelt werden. Den genauen Wortlaut des gezogenen Verses verstehe ich leider im einzelnen nicht, trotz großer Mühewaltung. Hodija wird vorher und nachher nirgends sonst erwähnt, auch Naham nicht, es ist nicht klar, wie die beiden Männer im Stamm Juda überhaupt verankert sind. Und bei Kegila (Keïla) und Esthemoa kann es sich um Menschen handeln oder auch um die Städte gleichen Namens: das alte Hebräisch gebraucht für Stammvater / Gründer nämlich das Wort für einen biologischen Vater, אב. Die Zuschreibungen „Garmiter“ und „Maachatiter“ können sich auf die Herkunft eines Menschen beziehen oder auf die Zuordnung zu einer Sippe oder einem Volk. 

Mit diesen Ambivalenzen im Originaltext sind die mir zugänglichen Bibelübersetzungen sehr unterschiedlich umgegangen. Ich will hier nur die Lösung der katholischen Einheitsübersetzung erwähnen. Dort geht man davon aus, dass das Wort Hodija gar nicht der Name eines Mannes ist, sondern das Resultat eines Übertragungsfehlers: am Anfang des Worts ist der Buchstabe Jod verloren gegangen. Dann nämlich heißt es jehudiah — von Juda –, und man erhält als Konjektur eine Lösung, die zum Text vorher gut passt: ein Mann namens Mered hatte zwei Frauen, eine ägyptische Frau, die Tochter des Pharao, und eine Frau aus Juda. Die judäische Frau war Schwester von Naham, des Gründers der Städte Kegila und Esthemoa.  

Vielleicht ist die Ambivalenz gerade der Schlüssel zu dem, was der sonderbare Vers uns heute sagen kann. Menschen leben in Landschaften und Städten, und die Landschaften und Städte sind durch Menschen geprägt, und sind in der Geschichte miteinander und mit ihren Bewohnern untrennbar verbunden. Die Bibel behandelt in einer heute politisch inkorrekt wirkenden Weise geographische Einheiten konsequent wie Menschen. 

Menschen, ihre Großfamilien und ihre Orte. Die Kalckreuths pflegen eine Familiengeschichte. Sie wird auf der Grundlage einer großen Arbeit aus dem Ende des neunzehnten Jahrhundert fortgeführt. Vor einigen Wochen erreichte mich eine Anfrage eines Mannes aus den Niederlanden, der seine Familie erforscht und dabei auf eine geborene Kalckreuth gestoßen ist. Ihr Name, Barbara Dorothea, taucht in unserer Familiengeschichte nicht weniger als viermal auf, immer im Umfeld desselben Guts. Zwei der Einträge beziehen sich vermutlich auf dieselbe Person, die anderen beiden aber lebten nicht zur gleichen Zeit. Hier gibt es eine überzeitliche Beziehung zwischen einem Ort und mehreren Menschen gleichen Namens. Es wäre schön, mehr über das Gut und die Familien zu wissen, deren Leben um den Ort kreiste. Der holländische Ahnenforscher war jedenfalls sehr erfreut über das, was er aus unserer Familiengeschichte erfuhr, und gemeinsam konnten wir die Gesuchte identifizieren.

Menschen, ihre Großfamilien und ihre Orte sind die grundlegenden Einheiten, aus denen die biblische Welt sich zusammensetzt. In der siebenten Woche der Kontaktbeschränkungen sind Bildschirme das wichtigste, beinahe einziges Interface zur Wirklichkeit geworden. Über Bildschirme haben wir Kontakt zu anderen Menschen, die ihre Welt ihrerseits ganz genauso erleben, und es gilt gleich, ob sie in Frankfurt, Jerusalem, London oder Paris leben. Das wird Folgen haben. Es tut gut, sich daran zu erinnern: Die Welt setzt sich aus Menschen zusammen, aus ihren Familien und aus Orten, in denen sie interagieren — miteinander und gegeneinander. Corona löst diesen Zusammenhang in unseren Köpfen nachhaltig auf. Vielleicht ist dies die eigentliche Krankheit.

Ich wünsche uns eine Woche mit so viel Realität in den Köpfen wie möglich: Menschen, ihre Familien und ihre Orte. Gott sei mit uns,
Ulf von Kalckreuth

Bibelvers der Woche 17/2020

Der wird groß sein und ein Sohn des Höchsten genannt werden; und Gott der Herr wird ihm den Stuhl seines Vaters David geben;
Lk 1,32

Hier ist ein Link zum Kontext in der Lutherbibel 2017.

Sohn des Höchsten — Menschensohn

Jesus selbst nennt sich oft den Menschensohn. Schon während seiner Lebenszeit und mehr noch danach gibt es Fragen und Auseinandersetzungen über seine Identität — Rabbi? Prophet? Messias? König? Sohn Gottes? Inkarnation des Herrn? Da steht er — wer ist er? 

Lukas trifft seine Festlegung ganz am Anfang, in einem Bericht aus der Zeit vor Jesu Geburt. Maria wird von einer Vision quasi überfallen: ein Bote Gottes besucht sie und spricht zu ihr:  

Fürchte dich nicht, Maria! Du hast Gnade bei Gott gefunden. Siehe, du wirst schwanger werden und einen Sohn gebären, dem sollst du den Namen Jesus geben. Der wird groß sein und Sohn des Höchsten genannt werden; und Gott der Herr wird ihm den Thron seines Vaters David geben, und er wird König sein über das Haus Jakob in Ewigkeit, und sein Reich wird kein Ende haben.

In ähnlich abrupter Weise waren kurz zuvor Zacharias und Elisabeth von der Ankündigung der Geburt Johannes des Täufers überrascht worden. Elisabeth und Maria waren verwandt, und Lukas erzählt später, wie die beiden Frauen sich treffen. 

Lukas gibt uns hier zwei Bilder: Sohn des Höchsten und König an der Stelle Davids. Das ist stimmig — die Könige Israels wurden Söhne Gottes genannt. Lukas aber führt das Bild weiter: er berichtet von einer jungfräulichen Geburt und einer Zeugung durch den Heiligen Geist. Hier wird eine Verschränkung angedeutet, die über das Symbolische weit hinausgeht. Die Sohnschaft Jesu wird in Lukas‘ Bericht von Gott selbst zweimal bestätigt: in den Erzählungen zur Taufe Jesu durch Johannes, Lk 3,22 und seiner Verklärung, Lk 9,35.

Mit der Christologie gibt es in der Theologie ein Lehrgebäude, das sich mit dem Wesen und der Natur Christi auseinandersetzt und versucht, die vielen unterschiedlichen Zuschreibungen zu integrieren. Wahrer Mensch und wahrer Gott? Manchmal bin ich froh, kein Theologe zu sein. An dieser Stelle hätte ich vielleicht mein Studium abgebrochen. 

Aber der Bibelvers der Woche verlangt nicht so viel: immer nur ein Aspekt. „Gottes Sohn“ ist eigentlich vertraut. Wir alle selbst sind Kinder Gottes. In 3,23f listet Lukas den Stammbaum Jesu auf. Von Josef aus geht er über David zurück zu Adam, über 76 Generationen. Und zu Adam heißt es dann lapidar „Der war Gottes“. In besonderer Weise waren Söhne Gottes die Gesalbten, die von Gott mit einem Auftrag versehenen Könige. Und zuallererst derjenige, der das Reich Gottes in Israel und der Welt aufrichten soll, als König und Sohn Davids, Statthalter des Herrn.

Jesus teilt mit seinem Vater das Geheimnis. Und in Jesus sehen wir den Vater, in seinem Lichte sehen wir das Licht.

Ich wünsche uns eine gesegnete Woche,
Ulf von Kalckreuth

Bibelvers der Woche 16/2020

Und wenn ihr schon schlüget das ganze Heer der Chaldäer, so wider euch streiten, und blieben ihrer etliche verwundet übrig, so würden sie doch, ein jeglicher in seinem Gezelt, sich aufmachen und diese Stadt mit Feuer verbrennen.
Jer 37,10

Hier ist ein Link zum Kontext in der Lutherbibel 2017.

Ruhe vor dem Sturm

Die Auseinandersetzung des judäischen Reichs mit der babylonischen Supermacht nähert sich dem Höhepunkt. Nebukadnezar hatte zuvor den widerspenstigen Vasallen bereits einmal zur Raison gebracht — er war in Jerusalem einmarschiert, hatte viele Bewohner als Gefangene weggeführt, einen Teil des Tempelschatzes geplündert und einen neuen König eingesetzt, Zedekia. Zum Amtsantritt schwor er Nebukadnezar einen Treueeid. Aber nach einigen Jahren schon will sich Zedekia sich selbständig machen — er baut auf die Unterstützung Ägyptens, des strategischen Gegners von Babylon und stellt die Tributzahlungen an Babylon ein. Nebukadnezar reagiert schnell und eilt mit einem Heer nach Judäa, besetzt das Umland und belagert Jerusalem.

Der Prophet Jeremia warnt schon lange Zeit vor dem Ränkespiel Zedekias, mit Visionen, die immer dringlicher und katastrophaler werden. Er zieht damit den Hass des Königs und der politischen Elite auf sich. Immer stärker gerät er unter Druck. Am Ende muß er in einer mit Schlamm gefüllten Zisterne um sein Leben kämpfen, so wie im Großen die eingeschlossene, untergehende Stadt.

Aber vor diesem Endspiel gibt es eine eigenartige Entspannung, ein retardierendes Moment. Die Ägypter nämlich halten ihre Zusage ein und schicken dem babylonischen König ein großes Heer entgegen. Nebukadnezar vermeidet die offene Schlacht, zieht sich ins Umland zurück und wartet einfach ab. Jerusalem ist scheinbar wieder frei.

Zedekia schickt Emissäre zu Jeremia. Vielleicht haben sich die schrecklichen Visionen Jeremias der neuen Situation angepasst? Vielleicht lässt sich der Bruch mit dem wortmächtigen und bekannten Propheten nun heilen?

Nein, sagt Jeremia, nichts da, der Untergang ist beschlossen, das Schicksal Jerusalems steht fest. Selbst wenn es den Truppen Judäas gelänge, die Babylonier in der Feldschlacht zu schlagen — ein Ding der Unmöglichkeit angesichts der Kräfteverhältnisse –, so würden die verwundeten Feinde aus ihren Zelten sich erheben wie Zombies und die Stadt dennoch niederbrennen!

Das klingt endzeitlich, und so ist es auch gemeint. In Jer 32-38 lassen sich die Bilder, die Jeremia in sich trägt, in der Auseinandersetzung mit Gott nachvollziehen. Die Prophezeiungen zum Untergang der Stadt ist unbedingt geworden, nicht wie früher an das Verhalten der Bewohner geknüpft. Aber genauso unbedingt mischt sich nun ein zweiter Klang in den ersten: die Stadt wird neu gebaut, wird wieder aufstehen, man wird (Jer 33,11) darin wieder hören den Jubel der Freude und der Wonne, die Stimme des Bräutigams und der Braut und „Und ich will einen ewigen Bund schließen, dass ich nicht ablassen will, ihnen Gutes zu tun, und will ihnen Furcht vor mir ins Herz geben, dass sie nicht von mir weichen“ (Jer 32,40).

Dieser Zweiklang eigentlich unvereinbarer Töne ist die bleibende Botschaft Jeremias — beide Teile dieser Botschaft haben sich erfüllt und erfüllen sich immer wieder neu, auch in unserem persönlichen Leben. Sie sind wie Karfreitag und Ostern, unvereinbar und doch untrennbar.

Ich wünsche uns eine gesegnete Osterwoche in unserer belagerten Zeit, 
Ulf von Kalckreuth

Bibelvers der Woche 15/2020

Der Sünder müsse ein Ende werden auf Erden, und die Gottlosen nicht mehr sein. Lobe den HErrn, meine Seele! Halleluja!
Ps 104,35

Hier ist ein Link zum Kontext in der Lutherbibel 2017.

Riß in der Welt

Unser Vers ist das Ende von Psalm 104, dem sogenannten Schöpfungspsalm, lang und berauschend schön. Lesen Sie ihn. Sein Anfang lautet wie folgt:

1 Lobe den HErrn, meine Seele!
HErr, mein Gott, du bist sehr groß; in Hoheit und Pracht bist du gekleidet.
2 Licht ist dein Kleid, das du anhast. 
Du breitest den Himmel aus wie ein Zelt;
3 du baust deine Gemächer über den Wassern. 
Du fährst auf den Wolken wie auf einem Wagen und kommst daher auf den Fittichen des Windes,…

Es geht um Vollkommenheit: Gott ist groß. Wir können ihn nicht sehen — empirisch erweist sich seine Größe dadurch, dass seine Schöpfung großartig ist. Der Psalm führt den Beweis, indem er diese Schöpfung einfach beschreibt. 

Aber doch gibt es auch unerträgliche Unvollkommenheiten. Der Psalmist spricht sie nicht direkt an, aber seine Hörer sind erwachsene Menschen und kennen das Leben, kennen ihre Mitmenschen und auch sich selbst. Die Schöpfung ist nicht vollkommen, weil die Menschen in ihr nicht vollkommen sind. Sünde ist Gottesferne. 

Deshalb ist es konsequent, wenn der Psalmist am Ende des Lobpreis ein scheinbar ganz neues Thema anschlägt und unvermittelt fordert, dass den Sündern der Garaus gemacht werde. Es geht allerdings — so verstehe ich es — nicht um wirkliche und lebende Sünder, die aus der Welt verabschiedet werden sollen, sondern um die Sünde an sich, diese nagende Unvollkommenheit, die gemäß der Logik des Psalms ja auch eine Leugnung oder Minderung Gottes darstellt. Denn das Argument lässt sich natürlich herumdrehen — wie kann ein vollkommener Gott eine unvollkommene Welt schaffen oder dulden? Der Psalmist bittet Gott also, diesen Riß in der Welt zu heilen. Im Kirchenjahr hat der Riß seinen Platz und seinen Namen: Karfreitag. 

Pessach ist das Fest der Befreiung von Zwang, ein Abschied von der Sklaverei. Den Menschen wird ihre Würde (zurück)gegeben. Ostern geht noch weiter: Gott heilt den Riß in der Welt, führt die Bruchstücke zusammen. Die Sünde verschwindet nicht, aber sie verliert ihre Relevanz, sie wird im Grunde unwichtig. Das Reich Gottes bricht an, und uns Menschen ist Erlösung und Gnade geschenkt. 

Frohe Ostern also und chag pessach sameach: Lobe den HErrn, meine Seele! Halleluja!
Ulf von Kalckreuth

Bibelvers der Woche 14/2020

Es kam aber die Sage von ihm immer weiter aus, und kam viel Volks zusammen, daß sie ihn hörten und durch ihn gesund würden von ihren Krankheiten.
Luk 5,15

Hier ist ein Link zum Kontext in der Lutherbibel 2017.

Take-off

Unser Vers steht am Anfang des Lukas-Evangeliums. Jesus hat sein öffentliches Wirken in Galiläa begonnen. Er ist wortmächtig — in Kapernaum wirkt seine Predigt in der Synagoge gewaltig — und vor allem: er ist wunderkräftig. Es gelingt ihm, durch Berührung und Beschwörung Krankheiten zu heilen, an denen alles andere versagt. Jesus schart die ersten Jünger um sich, und die Kunde seiner Kraft breitet sich aus. Wo immer er auftritt, sammeln sich die Menschen. Bald bringt ihn dies in Schwierigkeiten. Noch steht der Höhepunkt der öffentlichen Aufregung bevor (siehe den BdW 48/2018 über die Speisung der 5000), aber die Zuwendung der Menschen und ihr dringendes Bedürfnis nach heilenden Berührungen können unerträglich werden, wenn aus einzelnen Menschen Menschenmassen werden. Alles werden die Menschen tun, im Kollektiv, für die Heilung ihrer Krankheiten. 

Im Neuen Testament wird zweimal erzählt, wie eine Lehre sich ausbreitet. Das erste Mal in den drei Jahren der Wirksamkeit Jesu in Galiläa und Teilen Judäas, und dann nochmals im Zuge der Missionstätigkeit von Paulus und anderen in Kleinasien und Griechenland. Die Ausbreitung von Neuerungen, sogenannten Innovationen, wurde in den sechziger Jahren des 20. Jahrhunderts mit epidemiologischen Modellen beschrieben. Gebrauchs- und Konsummuster, Musikstile, Ideologien können sich verbreiten wie ansteckende Krankheiten: sie übertragen sich von einer wachsenden Zahl von „Trägern“ immer weiter auf die verbliebenen „Nicht-Träger“. Der Anstieg ist anfangs exponentiell. Nach einer Phase, in der die Zahl der Träger noch klein ist, kann es zu einem stürmischen Anstieg kommen, der die Kräfte der Beteiligten überfordert, dem „Take-off“. 

Die Passage rund um den Vers handelt von einem einen Aussätzigen, der Jesus erkennt und ihn flehentlich bittet, ihm zu helfen. Jesus heilt ihn, aber bittet ihn, nichts darüber zu erzählen, sondern nur zum Priester zu gehen und sich die wieder gewonnene Reinheit bestätigen zu lassen, sehe hierzu den BdW 43/2019. Aber die Kunde verbreitet sich wie ein Lauffeuer, immer mehr Menschen kommen, die gesund werden wollen. Jesus wird es zu viel, er flieht in die Einöde. Später wird er Techniken finden, mit der Zuwendung der Massen umzugehen — er predigt von einem Boot aus oder auf einem Berg stehend — aber immer wieder muss er fliehen: in die Wüste, mit dem Boot ans andere Ufer des Sees, über die Grenze ins heidnische Land.

Es wird von drei Versuchungen erzählt, die der Teufel für Jesus bereithielt. Aber war diese hier nicht noch viel gefährlicher? Was macht massenhafte Hinwendung aus ihrem Objekt? Wie geht ein Mensch damit um, Messias zu sein — wundertätig, Sohn Gottes? Wann hat Jesus selbst es eigentlich verstanden? Als er lernte, seine Wunderkräfte zu gebrauchen, oder erst später? Wie konnte er dabei geistig im Gleichgewicht bleiben? Unvorstellbar eigentlich. 

Wir können wohl dankbar sein, wenn wir keine „großen Menschen“ sind. Das hat Jesus selbst in unterschiedlicher Weise immer wieder gesagt. Ich wünsche uns Augenmaß, Realitätssinn und Seelenfrieden in dieser schwierigen Zeit, mit Gottes Hilfe. Und Gesundheit, gerade jetzt!
Ulf von Kalckreuth

Bibelvers der Woche 13/2020

Und ich fiel vor ihn zu seinen Füßen, ihn anzubeten. Und er sprach zu mir: Siehe zu, tu es nicht! Ich bin dein Mitknecht und deiner Brüder, die das Zeugnis Jesu haben. Bete Gott an! (Das Zeugnis aber Jesu ist der Geist der Weissagung.)
Off 19,10

Hier ist ein Link zum Kontext in der Lutherbibel 2017.

Vom Geist der Weissagung

Die Offenbarung des Johannes, und darin eines der letzten Kapitel. Die Welt, wie wir sie kennen, und auch die Bibel selbst, endet in diesen Abschnitten. Nach zwei Wochen Hiob, und mitten im take-off einer Pandemie, hatte ich ein wenig Herzklopfen, als ich nun diesen Vers zog. 

Off 19 ist der Höhepunkts der Agonie der alten Welt: die „Hure Babylon“, das Römische Reich, ist untergegangen und der Anbruch von Gottes Reich wird ausgerufen:

Und ich hörte etwas wie eine Stimme einer großen Schar und wie eine Stimme großer Wasser und wie eine Stimme starker Donner, die sprachen: Halleluja! Denn der Herr, unser Gott, der Allmächtige, hat seine Herrschaft angetreten! Lasst uns freuen und fröhlich sein und ihm die Ehre geben; denn die Hochzeit des Lammes ist gekommen, und seine Frau hat sich bereitet. Und es wurde ihr gegeben, sich zu kleiden in Seide, glänzend und rein. – Die Seide aber ist das gerechte Tun der Heiligen. (Off 19, 6-8)

Johannes als Zeuge des Geschehens ist so überwältigt, dass er tut, was ein Jude oder Christ auf gar keinen Fall tun darf: er fällt zu den Füßen des Engels nieder und will ihn anbeten. Der Engel hindert ihn und heißt ihn, Gott anzubeten. Er tut dies schonend, trotz des Verstoßes gegen das erste Gebot, und hebt Johannes dabei auf eine Stufe mit sich selbst: er, der Engel, sei doch Johannes‘ Mitknecht und Mitknecht aller anderen, die den Geist der Weissagung haben — das „Zeugnis Jesu“. Kaum hörbar schwingt mit, dass Johannes sich nicht anstellen solle wie ein Kind, er sei doch schon erwachsen. Der Vers wird ganz am Ende der Bibel, in Off 22,8-9, noch einmal fast wörtlich wiederholt, so wird seine Bedeutung nachhaltig unterstrichen. 

Keiner der Propheten, die in der Bibel zu Wort kommen, erlebt den Geist der Weissagung als befreiend oder erhebend, im Gegenteil, es scheint sich um eine ausgesprochene Last zu handeln. Prophetie scheint uns etwas Unglaubliches, aber der ersten Christenheit war sie eins in einer ganzen Reihe von „Charismen“, die Menschen haben können oder auch nicht, siehe 1. Kor 12,1-11. Durch Prophetie spricht Gott zu uns, und in der Anbetung sprechen wir zu Gott. Das ist eine natürliche Entsprechung. Vielleicht haben wir ihn, diesen Geist der Weissagung, wenn wir die Welt unvermittelt klar erkennen und — nur für wenige Sekunden — die wichtigen Zusammenhänge sehen, in der richtigen Gewichtung. 

Wer aber diesen Geist hat, steht in einem besonderen Dienst, das machen die Worte des Engels klar, und in einer besonderen Verantwortung. In der Wiederholung in Off 22,8-9 wird dies noch deutlicher. Johannes hat eine Aufgabe, er darf sich nicht gehen lassen! 

Ich wünsche uns eine Woche, in der wir die Konturen dessen, was um uns geschieht, klar erkennen und unsere Aufgabe sehen und annehmen. Gottes Segen und sein Geist sei mit uns, 
Ulf von Kalckreuth