Bibelvers der Woche 20/2025

Und Ruth, die Moabitin, sprach zu Naemi: Lass mich aufs Feld gehen und Ähren auflesen dem nach, vor dem ich Gnade finde. Sie aber sprach zu ihr: Gehe hin, meine Tochter.
Rut 2,2

Hier ist ein Link für den Kontext des Verses, zur Lutherbibel 1984.

Letzte Ressource: Vertrauen

Rut ist angekommen in einem fremden Land. Dies Land ist ihrer Heimat Moab seit alter Zeit feindlich gesinnt, die heiligen Schriften sind voller Schmähungen. Sie kennt niemanden. Sie ist Witwe. Und sie ist nicht allein — sie sorgt für ihre Schwiegermutter Noomi, auch sie Witwe, eine alte Frau. Immerhin ist Noomi aus der Gegend, und kennt Sitten und Gebräuche. Ruts Sprache ist dem Hebräischen ähnlich genug, dass sie sich verständigen kann, aber mit jedem Wort, das sie redet, weist sie sich als Aussenseiterin aus, als Objekt. 

Für den Rahmen der Erzählung hier ein Link zum Bibelvers der Woche 28/2021

Die beiden Frauen haben Hunger. Rut bleibt eine letzte Ressource: Vertrauen. Sie vertraut auf zwei Dinge. Da ist die sonderbare Sitte des fremden Landes, von der die Schwiegermutter erzählt hat — die Ärmsten haben das Recht, Getreide aufzulesen, das bei der Ernte liegengeblieben ist, siehe den Bibelvers der Woche 48/2019. Und sie vertraut darauf, sie muss darauf vertrauen, dass ihr unter den Knechten und Erntehelfern nichts geschehen wird.

Das ist der Inhalt des Verses: Rut bittet ihre Schwiegermutter um Erlaubnis, dies Vertrauen als Ressource einzusetzen, „dem nach, vor dem ich Gnade finde“. Sie trifft dabei auf Boas, der wegen verwandtschaftlicher Verhältnisse zur Schwiegermutter eine Schutz- und Garantenpflicht für sie hat. Damit konnte sie nicht rechnen. Es gab es eigentlich keine günstige Entwicklung, mit der sie rechnen konnte, als sie hinausging, einige ausgesprochen ungünstige Möglichkeiten dagegen waren klar konturiert.  

Ihr Vertrauen setzt sie in die Lage, sich zu bewegen, mit der Außenwelt zu interagieren, eine Lösung zu suchen, der tödlichen Starre zu entgehen. Aber es gibt keinen „Grund“ für dies Vertrauen. Es gab auch keinen „Grund“, die Schwiegermutter in dies fremde Land zu begleiten. Die andere Schwiegertochter hatte das nicht über sich gebracht und war schließlich umgekehrt, auf Bitten und mit dem Segen Noomis. Beide sind eng verwandt: die grundlose Loyalität Ruts und ihr grundloses Vertrauen ins Getragensein. Das eine aktiv, das andere passiv, aber im Wesen gleich. Denkt man beides zusammen, gibt es ein Wort dafür: Glaube.

Und so wurde Rut Ahnfrau Davids und Jesu.  

Der Herr segne uns in der Woche, die vor uns liegt. 
Ulf von Kalckreuth

Bibelvers der Woche 28/2021

Dies ist das Geschlecht des Perez: Perez zeugte Hezron;
Rut 4,18

Hier ist ein Link für den Kontext des Verses, zur Lutherbibel 2017.

Mikroschicksal und Makrokosmos

Im Februar 1945 floh meine Großmutter mit ihren drei Kindern vor den Russen aus Niederschlesien und zog über Monate im Treck durch ein zerstörtes und eisig kaltes Deutschland, bis sie mit den Kindern in Laupheim ankam, einer kleinen Stadt in Südwestdeutschland. Dort lebten jüdische Verwandte, verschwägert über die Schwester ihres Mannes, meines Großvaters. Über dessen Schicksal wusste sie zu diesem Zeitpunkt nichts. Sie befand sich in einer Lage, die der von Naomi und Rut sehr glich.

Das Buch Rut spielt in der mythischen, vorstaatlichen Zeit Israels. Rut ist Vorfahrin Davids. Sie ist keine Israelitin, sie gehört dem verachteten Volk der Moabiter südöstlich der Kernlande Israels an — im ‚Bibelvers‘ der letzten Woche waren wir ihnen begegnet. Das Buch erzählt, erdig und herb, ein Flüchtlingsschicksal zweier Frauen. Elimelech, ein Mann aus Bethlehem, flieht vor einer Dürre in das Nachbarland Moab. Die Wanderung mißlingt: er und seine beiden Söhne sterben. Seine Frau Naomi zieht gemeinsam mit Rut, einer der beiden moabitischen Schwiegertöchter, zurück ins israelitische Heimatland. Sie hofft, dort Nahrung und Hilfe zu finden. Rut begleitet Naomi, obwohl sie Moabiterin ist und sie zu ihrer eigenen Familie zurückkehren könnte. 

In Bethlehem sind die beiden gänzlich auf das Wohlwollen ihrer Umgebung angewiesen. Es gibt eine unklare Pflicht der nächsten Verwandten Elimelechs, als ‚Löser‘ zu fungieren, sonst haben sie keine Ansprüche. Es ist Erntezeit, sie haben Hunger, und Rut beginnt, das Korn aufzulesen, das bei der Ernte liegengeblieben war — das Recht der ganz Armen, siehe BdW 48/2019. So lernt die junge Frau den reichen Bauern Boas kennen und gerät in völlige Abhängigkeit von ihm. Sie schlafen miteinander. Einen langen Moment bleibt die Geschichte in der Schwebe und scheint in sexuelle Ausbeutung münden zu wollen. Aber Boas entscheidet sich, die Rolle des ‚Lösers‘ anzunehmen und füllt sie aus, indem er Rut heiratet. Das Kind der beiden wird Großvater Davids. Der gezogene Vers berichtet die Ahnreihe Davids als makrokosmischer Nachtrag zur mikrokosmischen Geschichte Ruths. Der Nachtrag bindet die Geschichte der beiden Flüchtlingsfrauen an die große Welt der biblischen Erzählung an. 

In der Torah und den Geschichtsbüchern des Alten Testaments durchdringen sich Makrokosmos und Mikrokosmos auf eigentümliche Weise: es werden Einzelschicksale berichtet, diese aber haben zugleich Bedeutung für große Gruppen in der Zukunft. Die Personen sind Teil einer Ahnreihe, oder sind gar Stammväter oder -mütter ganzer Völkerschaften. Was sie tun, hat Bedeutung für alle diese Nachkommen, auch Könige oder Völker.

Unsere jüdischen Verwandten in Laupheim hatten den Naziterror wie durch ein Wunder überlebt, und es ging ihnen den Umständen entsprechend sehr gut. Als meine Großmutter mit den Kindern  bettelarm in Laupheim ankam, nahmen sie die kleine Familie herzlich auf und ermöglichten ihr einen neuen Start. Unbewusst mag dabei neben vielem anderen auch die Erinnerung an das Buch Rut mitgeschwungen haben. Und auch hier: was geschah, hat Folgen bis heute. 

Ich wünsche uns allen eine gute Woche in Gottes Segen,
Ulf von Kalckreuth