Bibelvers der Woche 42/2025

…die ihr Zion mit Blut baut und Jerusalem mit Unrecht:…
Micha 3,10

Hier ist ein Link für den Kontext des Verses, zur Lutherbibel 1984.

Nawalnys Gespenst

Der Vers ist vorn und hinten unvollständig, ein echtes Fragment. Daher hier erst einmal der vollständige Satz, Micha 3,9-11, aus der Lutherbibel von 1984: 

So hört doch dies, ihr Häupter im Hause Jakob und ihr Herren im Hause Israel, die ihr das Recht verabscheut und alles, was gerade ist, krumm macht; die ihr Zion mit Blut baut und Jerusalem mit Unrecht – seine Häupter richten für Geschenke, seine Priester lehren für Lohn und seine Propheten wahrsagen für Geld – und euch dennoch auf den HERRN verlasst und sprecht: »Ist nicht der HERR unter uns? Es kann kein Unglück über uns kommen«.

Micha geht in die biblische Geschichte ein als Prophet, der Korruption und Verderbnis der Eliten in den beiden hebräischen Staaten ohne Rücksicht auf eigene Verluste anprangerte. Was er sagt, ist folgendes: niemand von ihnen erfüllt die Aufgabe, die ihnen von Gott gegeben wurde — die Regierung nicht und auch die Priester und Propheten nicht. Ihr Amt nutzen sie, um sich persönlich zu bereichern, zum Schaden derer, für die sie Verantwortung tragen.

Micha sagt, dass unter diesem Umständen das Schutzversprechen des Herrn hinfällig ist. Es ist eine Illusion zu glauben, der Herr sehe dem allen zu und schütze das Volk und die Elite ungerührt weiter gegen alle Gefahren von außen. Micha sagt den beiden Ländern den Untergang voraus, Zerstreuung ihrer Völker in der Welt, aber auch Heil in der Zukunft, wenn der Herr sein Volk wieder sammelt, unter einem Messias, dessen Geburt Micha ankündigt.

Messers Schneide. In Jeremia 26 wird berichtet, dass der Prophet Urija wegen einer ähnlichen Prophezeiung hingerichtet wurde, Micha aber nicht. Im Gegenteil: seine Prophezeiung wurde zum Ausgangspunkt der Reformen unter Hiskja, die das Südreich Juda wieder aufrichteten. Das viel größere Nordreich Israel fiel einer brutalen Vernichtungsaktion der Assyrer zum Opfer, wie von Micha vorausgesagt. Lange später entging der Prophet Jeremia dem fast schon sicheren Tod wegen der Parallele seiner Predigt zu der Michas.

Wenn ich die Verse oben lese, denke ich an Nawalnys Video über Putins Schlösser am Schwarzen Meer. Was tun mit einer Botschaft, die niemandem passt? Je nachdem, wo man sich befindet, können solche Botschaften sehr gefährlich sein. Nawalny überlebte die freiwillige Rückkehr nach Russland nicht lange. Der Bibelvers der Woche 08/2024 blickt zurück auf ihn. Noch heute kann jede Erwähnung seines Namens in Russland als „Extremismus“ bestraft werden. Anderswo bedeuten unpassende Botschaften „nur“ soziale Ausgrenzung. Uria starb, Micha nicht, Micha hatte Erfolg, Uria nicht. Messers Schneide. Micha, Nawalny und Uria: wie gut, dass es Menschen gibt, die diesen Mut haben. Wäre die Welt sonst nicht dem Untergang geweiht? 

Aber was sagen sie uns? Menschen wirtschaften in die eigene Tasche, statt die Aufgaben zu erfüllen, auf die sie sich verpflichtet haben, und sie kennen dabei keine Grenzen. Wichtige Zweige der Wirtschaftstheorie gehen genau davon aus. Sie unterstellen, dass längerfristig NIEMAND seine Aufgabe erfüllt, soweit dies nicht in seinem eigenen engen Interesse liegt. Arbeitsverträge, Gesellschaftsstrukturen, Gewinnbeteiligungen etc. müssen daher so gestaltet werden, dass Menschen ihre Aufgabe erfüllen tun, WEIL es in ihrem Interesse liegt. 

Micha und Uria erkennen darin todeswürdige Sünde. Ist das naiv? Ich selbst bin altmodisch, Boomer, deutscher Beamter eben. Wer eine Aufgabe übernimmt, leistet eine Art Bürgschaft, er verspricht, das seine zu tun, sie zu erfüllen. Er macht seinen Wert nach außen davon abhängig. Man nennt das Ehre. Vertragstheoretisch macht Ehre die Sache einfach: der Beauftragte internalisiert das Ergebnis gewissermaßen, es ist wie eine Gewinnbeteiligung. Ein Weg zum Glück kann es sein, die Aufgabe als erweiterten Teil seiner selbst zu sehen. Der Aufgabenträger ist dann im Grunde frei: er tut das, was er für richtig und angemessen hält. 

Micha und die Bibel sehen es so: Unser Auftrag in der Welt ist Gottes Auftrag. Wenn wir ihn erfüllen, tun wir das Werk Gottes und unser eigenes zugleich. Recht betrachtet ist das die Welt von König Artus, das Gegenbild der Welt der Kleptokratien gestern und heute. Die eine dieser Welten besteht den Test der Realität nicht dauerhaft, die andere ist so furchtbar, dass ihre Lebensdauer gleichfalls sehr begrenzt ist. Kleptokratien sind Kartenhäuser und brechen schnell zusammen, auch das sagen uns Micha, Uria und Nawalny. Ganz ohne Artus geht es nicht.

Unsere eigenen Realitäten liegen zumeist irgendwo in der Mitte. Nicht jeden Auftrag kann man als Gottes Auftrag sehen. Gott und das Leben fragen jeden von uns: Welche Aufgaben übernehmen wir und wie gehen wir sie an? Haben wir Liebe in uns für die Welt und die Menschen in ihr? Welche Antwort wir auf diese Fragen geben können, hängt auch ab von der Antwort der anderen. Und die Antworten aller gemeinsam MACHEN unsere Welt, for better or worse. So kippen manche Gesellschaften in den Abgrund und andere erblühen. Nawalnys Gespenst möge den russischen Präsidenten verfolgen, bis es ein besseres Russland geben kann. 

Gott lasse uns die Aufgabe erkennen. Er sei mit uns, in der kommenden Woche und immer,
Ulf von Kalckreuth