Bibelvers der Woche 41/2024

Denn gleichwie Jona war drei Tage und drei Nächte in des Walfisches Bauch, also wird des Menschen Sohn drei Tage und drei Nächte mitten in der Erde sein.
Mat 12,40

Hier ist ein Link für den Kontext des Verses, zur Lutherbibel 1984.

Das Zeichen des Jona

In diesem Vers erläutert Jesus öffentlich eines seiner Bilder. Das tut er sonst nicht, Erläuterungen gibt er nur seinen engsten Gefährten.

Jesus wird von den Pharisäern mit der Forderung nach „Zeichen“ konfrontiert — wunderbaren Geschehnissen oder göttlichen Offenbarungen, welche die Wahrheit seiner Botschaft belegen.

Diese Forderung verstehe ich gut. Ich bin Wissenschaftler und habe gelernt, zu akzeptieren, was von mehreren unabhängig beobachtet werden kann oder aus solchen Beobachtungen logisch folgt, was denknotwendig ist, oder — und hier wird es bereits kritisch — eine plausible und von vielen geteilte Erklärung dessen ist, was beobachtet werden kann. Mit anderem mag man prüfend sich befassen, aber man wird es nicht zum Kernbestand dessen fügen, womit die Wissenschaft die Welt erklärt. 

Eine Freundin aus alten Tagen, promovierte Naturwissenschaftlerin, ist engagierte Atheistin. In ihrer Realität gibt es keine Anker für die Existenz eines persönlichen Gottes.

Jesu Antwort auf die Bitte um ein Zeichen ist schroff. Dieses Geschlecht — damit meint er seine Zuhörer — ist in seiner Bosheit und Arroganz unerträglich und nun fordern sie auch noch Zeichen. Sie werden keines bekommen, „es sei denn das Zeichen des Propheten Jona“. 

Was ist hier gemeint? In unserem Bibelvers wird eine Erklärung hinterhergeschoben: so wie Jona drei Tage im Walfisch verbrachte, um dann wieder ans Land zurückzukehren, wird er, der Menschensohn, drei Tage unter der Erde sein, bevor er zur Welt zurückkehrt. 

Diese Erklärung können die Pharisäer unmöglich verstehen, denn Tod und Auferstehung haben ja noch gar nicht stattgefunden. Antwortet Jesus mit dem Ziel, nicht verstanden zu werden? Der Text ergibt mehr Sinn, wenn man die Erklärung wegläßt. Denn die drei Tage und Nächte im Walfisch waren ein Zeichen für Jona, der vor seiner Aufgabe fliehen wollte, siehe den BdW 01/2023. Niemand sonst war dabei und konnte es erleben.

Das Zeichen des Jona, das Zeichen, das dieser selbst gab, war etwas anderes: mit Gottes Hilfe war er imstande, eine ganze, denkbar gottesferne, zynisch und brutal handelnde altorientalische Großdespotie zu bekehren. Er ging mitten hinein in die assyrische Hauptstadt Ninive, ein antiker urbaner Moloch, und begann zu predigen, den raschen Tod vor Augen. Und er hatte umwerfenden, wirklich wunderbaren Erfolg. Erfolg, den jeder sehen konnte. Diese Leute aus Ninive, so spricht Jesus weiter, würden am Jüngsten Tag zu Anklägern der Pharisäer, denn jene hätten es um so vieles leichter, ihre Wege zu ändern. 

Und genau so — ohne den eingeschobenen Verweis auf Tod und Auferstehung — steht die Geschichte in Lk 11,29-32

Das Zeichen, das Gott uns Fragenden gibt, wäre dann also überzeugende, zu Herzen gehende vom Geist inspirierte Predigt. Auf manche Menschen wird sie wirken. Es mögen gar hartgesottene Assyrer darunter sein. An anderen wird sie vorbei gehen. Gott spricht, sagte ich meiner Freundin. In der Bibel und in unserem Leben. Ich gab ihr eine Einzelausgabe des Buch Genesis. Einige Leser mögen nun wissen, was ich ihr statt dessen hätte geben sollen, aber dieses Buch und diese Ausgabe hatte mich selbst einst zu Gott geführt, vor 18 Jahren, in einem Flugzeug, und davon hatte ich ihr erzählt. Sie las also das Buch, die Sache war ihr wichtig und sie ging den Dingen gern auf den Grund. Aber sie konnte nichts damit anfangen. Ich sagte ihr, dass Gott wirklich zu uns spreche: persönlich, unmissverständlich manchmal. Das sei zwar nicht „intersubjektiv nachprüfbar“, wie es bei Wissenschaftlern heißt, aber für mich und meinem Glauben ist es so fundamental wie die Bibel. Das hat sie durchaus akzeptiert, was mich betrifft. aber zu ihr spreche Gott eben nicht, sagte sie. Wir waren in verschiedenen Welten, konnten nicht wirklich miteinander reden und waren beide etwas traurig. 

Das liegt wieder sehr in der Nähe der am Ende etwas fatalistische Betrachtung zum BdW 39/2024 vor zwei Wochen. Christen sagen, dass das Heil nur jenen zuteil wird, die es glaubend ergreifen. Das wirkt etwas willkürlich und auch zirkulär —  wer es nicht sieht, für den ist es nicht da. Irgendwie haben in ihrer jeweiligen Welt beide recht, meine Freundin und ich. Ist das nicht wie Gefangenschaft in einer Todeszelle? Biblisch ist das gut verankert, z.B. in Römer 9, 14ff oder Mat 25,29, und ich leide unter dieser Vorstellung, ich komme nicht zurecht damit. Ich bitte den Herrn inständig, nicht auf das zu sehen, was seine dummen Kinder mit ihrem Kopf denken und für wahr oder falsch halten, sondern auf das, was in ihren Herzen ist.

Bei aller Schroffheit: Jesus verspricht uns etwas, hören Sie es? Das Zeichen des Jona — das ist machtvolle Predigt, Verkündigung, die die Herzen selbst der Assyrer erreicht. Mögen wir solche Predigt hören, bald. Möge sie nach Gaza dringen, nach Tel Aviv, nach Beirut, nach Teheran, nach Moskau und nach Washington. Und auch zu meiner Freundin, einer guten Frau.

Machtvolle Predigt hin zu einer neuen Welt. 
Ulf von Kalckreuth

Bibelvers der Woche 40/2023

Und es begab sich, da Jesus alle diese Reden vollendet hatte, sprach er zu seinen Jüngern: …
Mat 26,1

Hier ist ein Link für den Kontext des Verses, zur Lutherbibel 1984.

Zwischenüberschrift? 

„… Ihr wisst, dass in zwei Tagen Passa ist; und der Menschensohn wird überantwortet werden, dass er gekreuzigt werde“ — so führt Matthäus den angefangenen Satz fort. Jesus kündigt seinen Tod an. Der Satz steht zwischen einem großen Abschnitts mit Jesu Worten über die Endzeit der Welt und dem Bericht über sein eigenen Ende: Verrat, Urteil, Folter, Tod.  

Ist der Satz so gefallen? Ich meine: an dieser Stelle? 

Im Anschluß beschreibt Matthäus die Salbung von Betanien. Als Jesus zu Tisch saß, tritt eine Frau tritt herzu und salbt ihn — kostbares Salböl aus einem Alabastergefäß, wie für einen König. Das Salböl ist ein Vermögen wert und die Jünger reagieren unwillig: statt Jesus damit zu salben, hätte die Frau es den Armen geben können. Jesus weist die Jünger zurecht: die Salbung erfolgt zu seinem Begräbnis, sagt er, sie nimmt seinen Tod vorweg, und ewig wird man dessen gedenken, was die Frau getan hat. 

Ohne die Leidensankündigung unmittelbar zuvor wäre dies eine geheimnisvolle und eindrückliche Begebenheit: Eine fremde Frau sieht, was sonst niemand sieht, einer Prophetin gleich, und mit ihrer Zeichenhandlung erweist sie Jesus Ehren, die einem König zukommen, die aber auch auf seinen Tod weisen und darüber hinaus. Die Geste kommt aus einer anderen Welt, wie die Taube bei Jesu Taufe. Die Jünger aber sind in ihrer eigenen Welt und reagieren so, wie sie es eben vermögen. Es ist Jesu Zurechtweisung, die schließlich die beiden Welten verbindet.

Mit der Leidensankündigung wird eine andere Geschichte daraus. Die Frau mit ihrem Salböl hätte einfach das Naheliegende getan. Der Unwille der Jünger aber wird zu Dummheit und Impertinenz, und der Satz: „Wozu diese Vergeudung? Es hätte teuer verkauft und das Geld den Armen gegeben werden können“ schließlich wäre blanke Beleidigung des Meisters. An diesem Punkt hätte Jesus, statt die Jünger zurechtzuweisen, auch aufstehen können und gehen…

Welche der beiden Geschichten mögen Sie lieber? 

Unsere Bibelausgaben sind voll von Überschriften und Zwischenüberschriften. In meiner Bibel ist Abschnitt 26 überschrieben mit „Jesu Leiden, Sterben und Auferstehung“. Diese Überschriften aber gibt es in den hebräischen und griechischen Originaltexten nicht, ebensowenig wie die Unterteilung in Abschnitte. Die Verfasser mussten andere Wege finden, um größere Sinnabschnitte abzugrenzen und Lesern die Orientierung zu ermöglichen.

Ich selbst hoffe, dass Matthäus die Leidensankündigung aus editorischen Gründen an diese Stelle platziert hat. Die Jünger jedenfalls haben den Schuss bis zum Schluß nicht gehört. Als Jesus tatsächlich am Kreuz starb, traf es sie völlig unvorbereitet.

Die Gnade sei mit uns allen.
Ulf von Kalckreuth

Bibelvers der Woche 37/2023

Da das sah Judas, der ihn verraten hatte, dass er verdammt war zum Tode, gereute es ihn, und brachte wieder die dreißig Silberlinge den Hohenpriestern und den Ältesten.
Mat 27,3

Hier ist ein Link für den Kontext des Verses, zur Lutherbibel 1984.

In der Geisterbahn

Der Vorhang zum letzten Akt hat sich geöffnet. Judas, einer der engsten Vertrauten Jesu, hat diesen an die Miliz des Sanhedrin, des Hohen Rats verraten, gegen Geld. Jesus wird verhaftet und abgeführt. Der Sanhedrin tagt, gemeinsam mit dem Hohepriester, und sie beschließen Jesu Tod, wegen Gotteslästerung. Er wird der römischen Besatzungsmacht überantwortet, weil die Juden selbst keine Todesurteile fällen und vollstrecken dürfen. Es bleibt daher noch zu prüfen, ob Jesus auch gegen römisches Recht verstoßen hat, aber der Ausgang scheint nun hinreichend klar. Für Judas ist das Geschehen unerträglich, er wird von tiefer Reue erfasst. Hier der Textzusammenhang, Mat 27, 3-5:

Als Judas, der ihn verraten hatte, sah, dass er zum Tode verurteilt war, reute es ihn, und er brachte die dreißig Silberlinge den Hohenpriestern und Ältesten zurück und sprach: Ich habe gesündigt, unschuldiges Blut habe ich verraten. Sie aber sprachen: Was geht uns das an? Da sieh du zu! Und er warf die Silberlinge in den Tempel, ging davon und erhängte sich.

Nur Matthäus berichtet von Judas‘ Selbstmord. Beim zweiten Hinsehen ist Judas‘ Reaktion nicht unmittelbar einleuchtend. Das Ergebnis der Verhandlung war eigentlich gut vorhersehbar. Judas hatte eine hohe Belohnung erhalten, und die Hohepriester oder ihre Miliz haben sie gezahlt, um etwas damit zu erreichen. Ein öffentlichkeitswirksamer Freispruch war sicherlich nicht das Ziel. Warum bringt sich Judas also um?

Die kritische Veränderung kommt nicht aus der Umwelt, sie muß sich in ihm selbst vollzogen haben.  Oder aber seine Verzweiflung war zuvor schon übergroß, und er hat zuerst die geistliche Seite seines Lebens getötet und dann die körperliche. Jesu Tod wäre dann die letzte Station auf Judas‘ persönlicher Reise in die Nacht. 

Wie ja auch umgekehrt. Judas‘ und Jesu Leben sind am Ende auf geheimnisvolle Weise miteinander verschränkt, Bild und Gegenbild, sie beide sterben mit und wegen des jeweils anderen.

Ich wünsche uns allen eine gesegnete Woche!
Ulf von Kalckreuth

Nachts am, Fluss, Ulf von Kalckreuth, 2019

Bibelvers der Woche 35/2023

Da er aber vom Berg herabging, folgte ihm viel Volks nach.
Mat 8,1

Hier ist ein Link für den Kontext des Verses, zur Lutherbibel 1984.

Jesus Christ Superstar

Während einer nicht allzu langen, aber kritischen Zeit seines Lebens war Jesus eine Art Superstar im jüdischen Land. Wo er hinkam, erregte er Aufsehen. Menschen folgten ihm, anderen gab er Anlass zu Wut und Empörung. Warum eigentlich?

In unserem Vers steckt eine Antwort. Der Vers ist eine Art Bindeglied. Davor steht die Bergpredigt, der Kern dessen, was die Botschaft Jesu ausmacht. Diese Predigt ist eine Kompilation verschiedener Reden Jesu. Dahinter steht ein großer Block mit Heilungsberichten und Wundern, die Jesu praktische Wirkungsmacht belegen — auch dies eine Kompilation, denn es wird eine große Zahl von Wundern bezeugt. 

Durch Predigten einerseits und Wunder andererseits hatte Jesus schnell große Bekanntheit erlangt, und die Öffentlichkeit nahm ihn intensiv wahr, wo immer er auch hinging. 

Der Vers ist nicht als konkrete Beschreibung einer großen Volksmenge zu lesen. Im nachfolgenden Text wird beschrieben, wie Jesus einen Aussätzigen heilt und ihm befiehlt (Vers 4), niemandem etwas davon zu erzählen, sondern zu den Priestern zu gehen, die vorgeschriebene Begutachtung vornehmen zu lassen und das vorgesehene Opfer zu bringen. Diese Begegnung hatte nur wenige Zeugen, sonst wäre der Befehl sinnlos.

Jesus steht im Rampenlicht!

Die Antwort unseres Verses wirft bei mir die nächste Frage auf. Wie wäre es denn heute — könnte man mit Predigten zum rechtem Handeln und zum Reich Gottes ein Superstar werden? Mit Wunderheilungen? Für unsere traditionellen Medien — Fernsehen, Hörfunk, Zeitungen — wäre dieser Stoff no go. Jesus müsste den Weg über die sozialen Medien gehen, sonst fände er keine Beachtung. Und dann? Würde er dort in einer Blase landen?

Ich wünsche uns eine gesegnete Woche!
Ulf von Kalckreuth

Bibelvers der Woche 49/2022

Es werden nicht alle, die zu mir sagen: Herr, Herr! ins Himmelreich kommen, sondern die den Willen tun meines Vaters im Himmel.
Mat 7,21

Hier ist ein Link für den Kontext des Verses, zur Lutherbibel 1984.

An den Früchten erkennen

Worauf kommt es an? 

Es gibt im protestantischen Christentum eine alte und starke Strömung, die sich gegen die sogenannte „Werkgerechtigkeit“ wendet. Damit ist der Versuch gemeint, sich des Heils durch sichtbare, gottgefällige Taten zu versichern. Es komme nämlich im Grunde nur auf den Glauben an, er verbinde den Menschen mit Gott, verwandele ihn  und führe ihn zum Heil. Taten seien dann Ausfluss einer gelungenen Gottesbeziehung, Symptom sozusagen, aber ohne eigene Bedeutung. Nur der Glaube, nur die Gnade, nur die Schrift, sagt Luther…! 

Wie ist das gemeint? Jesus jedenfalls sagt in diesem Textabschnitt, dass es nicht getan ist mit Bekenntnissen, inneren Einstellungen und religiösen Gefühlen, selbst solchen intensivster Art, die zu Wundern befähigen. Wenn sie nicht mit sichtbaren Früchten einhergehen, sind sie am Ende irrelevant. Dies ist das Bild, das Jesus hier gebraucht: einen Baum erkennt man an seinen Früchten. 

Welcher Art Früchte es sind, sagt Jesus nicht. Ich kann mir vorstellen, dass es dabei durchaus auch um die innere Welt geht, um das Maß, in dem jemand mit sich, mit Gott und den Mitmenschen in Frieden lebt. Aber auch darum, ob jemand die eigenen Gaben auszuschöpfen vermag, zur Ehre Gottes und dem Wohl seiner Mitmenschen. Das Gleichnis von den anvertrauten Talenten ist ein anderes wichtiges Bild von Jesus. 

Im Vers spricht Jesus sehr kondensiert und konzentriert davon, dass es im Ergebnis darauf ankommt, den Willen Gottes zu tun. Vielleicht nicht als ersten Schritt zum Heil, aber wohl als wichtigsten Begleiter auf dem Weg dorthin.

Aber was will Gott von mir? Ich weiss es nicht. Wow! Wie wäre mein Leben, wenn ich es wüsste? Um das herauszufinden, sind sie in der Tat unabdingbar: Glaube, Gnade und die Schrift…!  

Ich wünsche uns allen Gottes besonderen Segen in der zweiten Adventswoche!
Ulf von Kalckreuth

Bibelvers der Woche 25/2022

Sie sitzen gern obenan über Tisch und in den Schulen.
Mat 23,6 

Hier ist ein Link für den Kontext des Verses, zur Lutherbibel 2017. 

Was tun? Und warum? 

Jesus ist im Tempel, kurz vor seinem Tod. Er spricht provozierend und ohne jegliche Rücksicht auf Verluste. Wie einer, der weiss, dass er nur noch wenige Tage zu leben hat. Vielleicht ist die Kausalität auch anders herum. 

Im Vers spricht er Personengruppen an — Pharisäer und Schriftgelehrte — und eine Haltung. Wie Jesus glauben die Pharisäer an Auferstehung und das ewige Leben und auch sie halten nichts von der etablierten Tempelbürokratie. Im Zentrum steht für sie das Verhalten des Einzelnen vor den Gottes Gesetz — „Was muss ich tun, um das ewige Leben zu erlangen“. Jesus weiß, dass sich diese Frage nicht durch feinsinnige und detaillierte Auslegung des Gesetzes beantworten läßt, dass eine unmittelbare, persönliche Beziehung zu Gott und den Mitmenschen nötig ist — Glaube, Liebe und der Heilige Geist. 

Ich bin nicht überzeugt, dass der Matthäusvers den Pharisäern als Gruppe insgesamt gerecht wird. Sie galten als unbestechlich und mit ihrem Leben Gott zugewandt, unter hohen persönlichen Kosten. Das machte ihren Erfolg aus. Sie sind die Vorläufer der Rabbinen, die nach dem Untergang des Tempels und des offiziellen Mainstreams die Grundlagen für das orthodoxe Judentum legten, wie wir es heute kennen. Sie meinten es ernst, ihr ‚Drive‘ kam nicht nur vom Wunsch, in den Lehrhäusern obenan zu sitzen.

Die Haltung aber, die Jesus charakterisiert, ist weit verbreitet, auch unter Christen. Wieviel religiöse Aktivität gäbe es, wenn sie in den Gemeinden nicht Ansehen verschaffte? Wieviele Blogs mit biblischen Themen gäbe es, wieviel Lobpreismusik und Chorgesang? Wieviel Theologiestudium, wieviel Spenden und gute Werke?

Es ist natürlich, wenn wir Ansehen bei den Menschen suchen, die uns wichtig sind. Wir sind soziale Wesen. Aber vielleicht werden wir am Ende genau das bekommen, was wir wollen, und nichts sonst? „Wahrlich, ich sage Euch, sie haben ihren Lohn schon gehabt“, sagt Jesus dazu in Mat 6,2.

Wir sollen verstehen, warum wir tun, was wir tun, sagt Jesus!

Ich wünsche uns eine gesegnete Woche,
Ulf von Kalckreuth

Bibelvers der Woche 07/2022

Jesus aber sprach zu ihm: „Du sollst lieben Gott, deinen Herrn, von ganzem Herzen, von ganzer Seele und von ganzem Gemüte.”
Mat 22,37

Hier ist ein Link für den Kontext des Verses, zur Lutherbibel 2017.

Das ganze Gesetz und die Propheten

Der Vers ist eine Antwort. Die Frage lautet „Was ist das höchste Gebot im Gesetz“. Jesus fügt hinzu: „Dies ist das höchste und erste Gebot“,. und fährt dann fort: „Das andere aber ist dem gleich: »Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst«. In diesen beiden Geboten, sagt er, hängt das ganze Gesetz und die Propheten.

Die Antwort besteht aus zwei Kernsätzen der Thora. Die erste Forderung, Gott unbedingt zu lieben, ist aus 5.Mo 6,5 und steht am Beginn des „Schma‘ Israel“, mit dem Juden den Herrn bekennen. Die Forderung, den Nächsten zu lieben wie sich selbst, steht in 3.Mo 19,18 geschrieben. Jesus fasst das Gesetz zusammen und er tut es für Christentum und Judentum gleichermaßen:

»Du sollst den Herrn, deinen Gott, lieben von ganzem Herzen, von ganzer Seele und von ganzem Gemüt«

»Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst«

Es sind zwei Gebote, die innig zusammengehören. Wir können Gott im Menschen lieben und den Menschen in Gott. Manchmal mag das eine im Vordergrund stehen, manchmal das andere.

Wie sie so vor uns stehen, beschreiben die Gebote einen Heiligen. Möge aber die kommende Woche einen Tag haben, an dem uns beides gleichermaßen gelingt.
Ulf von Kalckreuth

—————— In eigener Sache ———————————

Dieser Vers ist ein guter Abschluss. Ich fühle mich mit der Kommentierung überfordert. Der Bibelvers der Woche begleitet mich seit über vier Jahren durch die Woche — meist habe ich sonntags angefangen, Material, Ideen und Assoziationen zu sammeln, und am Freitagabend sollte es druckreif im Netz stehen. Jetzt gibt es 216 solcher Kommentare. Mit vielleicht anderthalb Seiten je Kommentar ist das ein stattliches Buch. 245 Bibelverse habe ich insgesamt gezogen, das sind fast 0,8% der ganzen Bibel!

Ich werde vielleicht einmal darüber schreiben, was ich dabei gelernt habe. Es ist viel. Als ich anfing, kannte ich die Bibel kaum, heute liegt sie wie eine Höhle voller Schätze vor mir, und ich halte ein Öllämpchen in der Hand, mit dem ich diese Schätze sehen kann — manches davon funkelt leuchtend, anderes schimmert schemenhaft im Hintergrund.

Die Website steht, und ich werde sie erhalten. Ich will auch vorerst weiter Verse ziehen. Vielleicht findet sich jemand, der einen Kommentar abgeben will, vielleicht sind Sie es? Technisch ist es ganz leicht, am Ende eines jeden Beitrags steht ein Kommentarfeld, Was Sie dort schreiben, steht unter dem Bibelvers, nach einer Freigabe durch mich.

Ich wünsche uns eine gute Reise durchs Leben,
Ulf von Kalckreuth

Bibelvers der Woche 12/2021

Siehe, ich sende euch wie Schafe mitten unter die Wölfe; darum seid klug wie die Schlangen und ohne Falsch wie die Tauben.
Mat 10,16

Hier ist ein Link für den Kontext des Verses, zur Lutherbibel 1984.

Von Schafen und Wölfen

Wir stellen uns Jesus gern inmitten seines Gefolges von Jüngern vor. Aber die Evangelien berichten von einer Zeit, in der die Jünger ohne ihren Meister unterwegs waren, selbständig predigten und Wunder wirkten, schon vor Ostern. Im Matthäusevangelium steht die Begebenheit etwas isoliert: die Jünger werden mit einer langen Rede ausgesandt, sind aber in den folgenden Kapiteln weiter bei Jesus,. Von ihrer Rückkehr und ihren Erlebnissen erfährt man nichts. Lukas berichtet von zwei Aussendungen, einmal der Zwölf (Lk 9), ein anderes Mal von 72 Jüngern (Lk 10). Bei der zweiten Aussendung fallen viele der Worte, die wir auch bei Matthäus finden. 

Was Jesus seinen Jüngern in der Aussendungsrede sagt, ist harte Kost — Passionskost. Sie werden Verfolgung erleiden, sagt er ihnen, von ihren nächsten Verwandten verraten, und alle Welt wird sie hassen. Wenn sie vor Gericht gestellt würden, sollten sie sich nicht sorgen, der Heilige Geist werde ihnen eingeben, was zu sagen sei. Wie ernst das gemeint war, konnten die Jünger nicht wissen. Ich muss an Stephanus denken, an seine große Rede und an sein Ende, siehe den BdW 3/2019

Unser Vers stellt eine schwer zu erfüllende Forderung. Sie wird in ein Paradoxon gekleidet, ein Bild mit vier Tieren. Jesu Jünger seien wie Schafe, die unter Wölfen leben müssten. Sie sollen daher listig sein wie Schlangen, aber doch wie Tauben, ganz ohne Falsch. Sie sollen sein, was sie sind, dabei aber ihre Fähigkeiten und ihr Wissen um menschliches Verhalten bestmöglich nutzen. 

Wenn ich darüber nachdenke, fällt mir ein Held meiner Jugend ein, ein bekennender Atheist übrigens: Michail Sergejewitsch Gorbatschow. Nach einer Bilderbuchkarriere in der KPdSU wurde er Generalsekretär des ZK. Nach zwei rasch verstorbenen Interimsführern wollte die Partei Reformen, aber in Maßen — alles sollte sich ändern, damit alles so bleiben könne, wie es war. Gorbatschows Auftrag war, den Repressionsapparat zu stabilisieren und zukunftsfähig zu machen. Er kannte diesen Apparat genau, konnte sich frei darin bewegen, konnte ihn steuern und für seine Ziel nutzen. Mental war er zu gewaltsamen Lösungen durchaus fähig.

Und — oder besser aber — auf fast magische Weise setzte er Jesu Forderung um. Seine Ziele legte er offen, ohne Falsch wie die Tauben, und wie eine Schlange gelang es ihm, das Wichtigste davon umzusetzen und so lange an der Macht und am Leben zu bleiben, bis der Prozess unumkehrbar war. Ein Wunder in Zeitlupe, vor laufenden Kameras. Das Risiko kannte er, auch sein persönliches. Sechs Jahre nach seinem Amtsantritt war die Gewaltherrschaft in Ost- und Mitteleuropa fast gewaltfrei beendet und die Länder konnten ihren Weg selbst wählen. „Fast“ — denn in Litauen und in Aserbaidschan setzte er die Armee tatsächlich ein und hunderte Menschen starben. 

Gorbatschow war nicht wirklich Schaf im Wolfspelz, eher wohl Leitwolf unter Wölfen, der verstanden hatte, dass Schafe besser leben. Ein Wolf mit einer großen Idee. Der Bezug auf ihn aber mag zeigen, wie schwer die Forderung Jesu ist. Fast eine Quadratur des Kreises: in der Welt leben und überleben mit dem Wissen um die Welt, doch aber dem treu, worum es wirklich geht. Und diese Forderung richtet sich an uns alle, jeden Tag neu. In unserem eigenen Leben und dem unserer Nächsten sind wir die Spitzenpolitiker. Die nötige Kraft aber muss der Herr verleihen.

In zwei Wochen ist Ostern. Der Herr geleite uns durch diese Passionszeit!
Ulf von Kalckreuth

Bibelvers der Woche 01/2021

Weh euch, Schriftgelehrte und Pharisäer, ihr Heuchler, die ihr das Himmelreich zuschließet vor den Menschen! Ihr kommt nicht hinein, und die hinein wollen, lasst ihr nicht hineingehen.
Mat 23,13

Hier ist ein Link für den Kontext des Verses, zur Lutherbibel 1984.

Wald und Bäume

Jesus steht für Liebe — der Kern seiner Ethik hebt den Gegensatz auf zwischen dem Individuum und seiner Umwelt. Ein besonders friedlicher Mensch war er dabei nicht. Er konnte scharf und verletzend sein und Hierarchien bedeuteten ihm nichts. Wäre ein konzilianter Jesus von Nazareth am Kreuz gestorben? Wohl kaum — wer hätte ein Interesse daran gehabt? 

Der für diese Woche gezogene Vers ist ein Satz von der Art, die den Kopf kosten können. Pharisäer und Schriftgelehrte vertraten eine am Wortlaut orientierte Sicht auf die Gebote der Thora — sie zogen einen ‚Zaun um die Thora‘, wie man heute sagt, damit sie nicht verletzt werde. Für Jesus war das ein Irrweg. Das Reich Gottes war nahe herbeigekommen, hatte im Kern schon eingesetzt und wer mit Äusserlichkeiten vom Eigentlichen ablenkt, versperrt den Weg. Pharisäern und Schriftgelehrten hingegen galten Führer wie Johannes und Jesus als Quelle von Disziplinlosigkeit und Chaos; schlimmer noch: als Schwarmgeister, die ihre Nachfolger dem Gesetz entfremdeten, das Gott uns anvertraut hat. 

Jesus konnte aus vielen einzelnen Vorschriften die Essenz ziehen, er sah den Wald und nicht die Bäume und wies den Weg: „Das Reich Gottes ist da und es ist nicht da — lebt es, dann ist es Wirklichkeit, für euch und durch euch“, und „Wie ihr übereinander urteilt, wird der Vater über euch urteilen“, und „Liebt Gott über alles und den Anderen wie euch selbst“. Schwer und gleichzeitig einfach. Seine Worte über Pharisäer und Schriftgelehrte in Mat 23 aber hatten nichts Versöhnliches mehr, das Tischtuch war zerschnitten. Der Schnitt tut weh, immer noch. 

Liest man den Text, mag man auch ins Heute schauen. Wer befördert mit seinen Feststellungen und Urteilen über Gottes Wort und Willen die eigenen Interessen, auf Kosten derer, die abgelenkt werden? Die Falle der Selbstgerechtigkeit steht aufgespannt da. Und da müssen auch kleine Blogger gut aufpassen…

Gottes Segen sei mit uns — im neuen Jahr und immer,
Ulf von Kalckreuth

Bibelvers der Woche 30/2019

Richtet nicht, auf dass ihr nicht gerichtet werdet.
Mat 7,1

Hier ist ein Link für den Kontext des Verses, zur Lutherbibel 2017.

Us and them

Unser Vers führt ins Zentrum der christlichen Ethik. Jesus gibt Antworten auf die beiden zentralen ethischen Fragen — erstens: Wie sollen wir uns anderen Menschen gegenüber verhalten? und zweitens: wie sollen wir das Verhalten anderer Menschen uns gegenüber bewerten?

Die Antwort auf die erste Frage ist die goldene Regel. Kurz hinter dem gezogenen Vers steht sie in der folgenden Form (Mt 7,12) 

Alles nun, was ihr wollt, dass euch die Leute tun sollen, das tut ihr ihnen auch! Das ist das Gesetz und die Propheten.

Weiter kommt auch Kant mit dem kategorischen Imperativ nicht. Die Goldene Regel ist im Doppelgebot der Liebe (Mk 12, 29) enthalten. In Mt 5,43ff wird sie zur Feindesliebe zugespitzt. Ökonomen können die Goldene Regel übrigens auf ihre eigene Art formulieren: „Wenn du entscheidest, ziehe alle Folgen deiner Handlungen in Betracht, bei dir selbst und bei anderen — es gibt in Wahrheit keine Externalitäten!“ Es ist evident, dass diese Regel „stimmt“, dass sie ein soziales Optimum beschreibt, wenn sich jeder daran hält!

Damit gibt Jesus die Frage, wie wir uns verhalten sollen, in überraschender Weise vollständig an uns selbst zurück. Dasselbe geschieht mit der zweiten Frage, wie wir das Verhalten anderer beurteilen sollen, siehe auch Lk 6, 36 ff. Die Kriterien, die wir selbst an andere anlegen, wird Gott an uns anlegen. Die Gleichsetzung ist sehr prominent im Vaterunser enthalten „Und vergib uns unsere Schuld, wie auch wir vergeben unseren Schuldigern“. Gott wird hier nicht aufgefordert, Schuld bedingungslos zu vergeben, sondern er wird aufgefordert, sich uns gegenüber als Richter so zu stellen, wie wir es untereinander tun. Im Gleichnis vom „Schalksknecht“ (Mt 18) wird die Analogie von richten und gerichtet werden in ein plastisches Bild gebracht, der Hörer des Gleichnisses wird dabei unversehens in die Rolle Gottes, des obersten Richters versetzt. 

Wir sollen uns also verhalten, als ob alle Folgen unseres Handelns uns selbst träfen. Das ist die Goldene Regel Und auf das Verhalten der anderen sollen wir so antworten, als ob es um unser eigenes Verhalten gehe. Dies sagt der gezogene Vers. Das muß nicht zwangsläufig bedeuten, dass es gar keine Antwort geben soll — auch an unser eigenes Verhalten stellen wir ja Forderungen. Aber die Forderungen sollen, ebenso wie die an unser  eigenes Verhalten, liebevoll sein. Im Ergebnis soll es keine Grenze geben zwischen uns und den anderen.

Wow! Ganz einfach und fast unmöglich. Aber das ist wirklich so gemeint!

Man kann ja mal üben. Im Familienkreis ist es richtig schwer. Aber aus diesem Kontext bezieht Jesus viele Analogien. Unter Kollegen — vielleicht sogar etwas leichter? Und ganz Fremden gegenüber? In der Auseinandersetzung mit echten Gegnern und Feinden? Nicht richten? Beobachten und Hinnehmen? Unsere Antworten werden sehr persönlich und individuell ausfallen. Umgekehrt aber sind es diese Antworten, die uns als Mensch charakterisieren. Das jedenfalls sagt der Vers in unnachahmlicher Kürze.  

Aber dann — zu manchen Zeiten geht es irgendwie, ist es schlicht einfacher als an anderen Tagen. Manchmal ist die Grenze zwischen uns selbst und anderen durchlässiger und das Üben fällt leichter. Auch hierin liegt Gnade. Eine solche Woche wünsche ich uns. 
Ulf von Kalckreuth