Bibelvers der Woche 34/2024

Und hatten siebenhundert und sechsunddreißig Rosse, zweihundert und fünfundvierzig Maultiere,…
Esr 2,66

Hier ist ein Link für den Kontext des Verses, zur Lutherbibel 1984.

Eröffnungsbilanz

Der Vers enthält eine Aufzählung von Reittieren, welche die Rückkehrer aus dem babylonischen Exil nach Jerusalem brachten. Sonderbar genug ist diese Aufzählung auf zwei Verse verteilt. Hier ist der ganze Satz, Vers 66+67, nach der Lutherbibel 1984: 

Und sie hatten 736 Rosse, 245 Maultiere, 435 Kamele und 6720 Esel.

Die beiden Bücher Esra und Nehemia erzählen die Geschichte des Neubeginns der Remigranten in der Heimat der Vorfahren. Nur wenige unter ihnen hatte Jerusalem und Juda noch selbst als Heimat erlebt. Unser Vers steht in der sog. Heimkehrerliste, einer Liste der ersten Remigrationswelle. Familie für Familie, Großverband für Großverband. 42.350 Rückwanderer werden gezählt, ohne Sklavinnen und Sklaven. Von ihnen gibt es 7337. Auch 200 Sängerinnen und Sänger sind in der Gesamtzahl nicht enthalten und werden gesondert aufgeführt. Die Liste wird in Neh 7 wiederholt, einschließlich auch unseres Verses.

Was hat es auf sich mit diesem sonderbaren Vers? Zur Buchhaltung eines Unternehmens, der systematischen Aufzeichnung aller Geschäftsvorfälle, gehören Anfangsbilanz und Schlussbilanz eines Geschäftsjahres. Bilanzen sind Aufstellungen aller Vermögenswerte, sachlich und finanziell, und aller Verbindlichkeiten. Zwischen der Anfangsbilanz eines Jahres und seiner Schlussbilanz steht die laufende Buchhaltung. Die Anfangsbilanz des laufenden Geschäftsjahres ist dabei identisch mit der Schlussbilanz des vorhergehenden. 

Was aber, wenn es kein vorhergehendes Geschäftsjahr gibt? Dann muss die Eröffnungsbilanz durch dingliche Erfassung der Vermögenswerte und Schulden erstellt werden. Genau das geschieht in der Rückkehrerliste. Sie erfasst, wieviele Menschen aus welchen Stämmen und Familien in das Heilige Land zurückkehren, ihre Sklaven und Reittiere (unser Vers) und welche Vermögenswerte sie bereit sind, für den Aufbau eines neuen Tempels zur Verfügung zu stellen. 

Mit dieser Eröffnungsbilanz startet der Bericht einer neuen Zeit. Jeder Esel zählt, jeder Sklave. Und auch jede Sängerin.

Ich wünsche uns Gottes Segen und den Mut, dort neu zu beginnen, wo es dem Leben dient!
Ulf von Kalckreuth

Bibelvers der Woche 15/2024

Und es wurden gefunden unter den Kindern der Priestern, die fremde Weiber genommen hatten, nämlich unter den Kindern Jesuas, des Sohnes Jozadaks, und seinen Brüdern Maaseja, Elieser, Jarib und Gedalja
Esr 10,18

Hier ist ein Link für den Kontext des Verses, zur Lutherbibel 1984.

Unterscheidungen und Unterschiede

Nach dem Ende des babylonischen Exils, als viele Einwohner Jerusalems in ihre Heimat zurückgekehrten, wurde der Aufbau eines zweiten Tempels in Angriff genommen. Schließlich wird er eingeweiht. Ein Gott, ein Volk, ein Tempel — dies ist wieder in greifbarer Nähe. Aber Esra, der Hohepriester, sieht eine große Gefahr. Viele der Zurückgekehrten hatten in der Fremde nichtjüdische Frauen geheiratet und Kinder mit ihnen gezeugt. Esra  setzt durch, dass diese sich von ihren Kindern und ihren Nachkommen trennen. Im Vers der Woche werden die Priesterfamilien genannt, in denen sich ausländische Frauen finden. Vor einigen Jahren, in Woche 02/2018, haben wir Esr 10, 24 gezogen, einen analogen Vers, der sich auf Türhüter bezog.

Es ist eine erbarmungswürdige Szene: im strömenden Regen versammeln sich alle Männer in Jerusalem und müssen geloben, sich von ihren Frauen und Kindern zu trennen, wenn diese nicht dem Volk angehören. Die schwierigen Einzelheiten werden von den Sippenältesten geregelt, getrennt nach Tempeldienern — Priestern, Sängern, Türhütern — und den übrigen Israeliten. 

Es wird uns nicht mitgeteilt, was mit Männern geschieht, die sich weigern. Jedenfalls hatten sie kein Recht, den ihrer Familie zustehenden Platz in der sich neu formierenden Gesellschaft einzunehmen, zum Beispiel als Priester, siehe den BdW 34/2023. Welchen Platz gab es für sie? Auch wird nicht gesagt, was mit den Frauen und Kindern derjenigen geschieht, die Esras Aufruf gehorchen. Die Torah sieht vor, dass geschiedene Frauen einen Scheidebrief erhalten und zu ihrer Familie zurückkehren. Wenn es denn eine gibt, so weit entfernt von Babylon. Die Kinder gehören dem Volk nicht an. Sie können versklavt werden, siehe Lev 25,45, und den BdW 15/2018. Das mutet heute schlicht absurd an. 

Die Bibel gibt Unterscheidungen großes Gewicht. Die Schöpfung Gottes besteht im Kern darin, Dinge zu trennen und damit kenntlich zu machen, die vorher unterschiedslos waren: Licht und Dunkel, Tag und Nacht, Wasser und Land, Mann und Frau, Gut und Böse. Das war Thema in den Versen der Woche 09/2023. und 29/2020. Unterscheidungen aber führen zu Unterschieden, und Unterschiede sind angreifbar und potentiell ungerecht. Wir ebnen lieber ein. Im Zweifel sagen wir, dass Unterscheidungen keine objektive Realität zukomme, sie vielmehr soziale Konstrukte seien. 

Überraschenderweise ist das immer wahr. Unterscheidungen gibt es nicht in der Natur, nur im Kopf und in der Sprachgemeinschaft, und Sprache ist in der Tat ein soziales Konstrukt. Aber sollten wir deshalb keine Unterscheidungen treffen? Was tun wir ohne Kategorien? Zurück in die Begrifflosigkeit? Was hätten Platon, Aristoteles, Hegel, Marx und Rosa Luxemburg zu den Diskussionen gesagt, die wir über Geschlechtsidentitäten führen? Auch hier gibt es eine Grenze zum Absurden.

Beide Pole lassen frösteln. Der Herr helfe uns, die Unterscheidungen zu treffen, die dem Leben dienen. 
Ulf von Kalckreuth

Bibelvers der Woche 30/2020

…und drei Reihen von behauenen Steinen und eine Reihe von Holz; und die Kosten sollen vom Hause des Königs gegeben werden;
Esr 6,4

Hier ist ein Link für den Kontext des Verses, zur Lutherbibel 2017.

Drei Reihen von behauenen Steinen und eine Reihe von Holz

Nach einigen Versen aus den letzten Wochen zum Bau des ersten Tempels und dessen Zerstörung: hier ist einer zum Neubeginn! 

Es geht um die Anlage des zweiten Tempels nach dem Exil. Er wuchs in den folgenden Jahrhunderten zu einer riesigen Kultstätte. Der Anfang aber war klein und bescheiden: drei Reihen von behauenen Steinen und eine Reihe von Holz, lesen wir im Vers.

Was war geschehen? Der persische König Kyros hatte der von den Babyloniern verschleppten judäischen Elite die Rückkehr erlaubt. Die Nachkommen der Verschleppten hatten in Babylon eine neue Heimat gefunden; sie nahmen sogar gesellschaftliche Schlüsselstellungen ein, siehe den BdW 8/2020. Synagogen waren entstanden und Zentren der Gelehrsamkeit. Man muss sich die „Rückkehr“ als einen lange währenden Vorgang vorstellen, der nie ganz abgeschlossen war, wie einen Strom, eine lebendige Verbindung zwischen den Siedlungen jüdischer Intellektueller in Babylon und dem Stammland in Kanaan. Babylon blieb noch mehr als tausend Jahre geistiges Zentrum des Judentums.

Bald nach dem Edikt des Kyros im Jahr 539 v. Chr. wurde von den ersten Rückkehrern dem Gott Israels in Jerusalem ein Altar errichtet, so dass wieder Opfer gebracht werden konnten. Doch dabei blieb es zunächst. Der gezogene Vers beleuchtet den Versuch, auch einen Tempel zu errichten. Es gab spannende administrative Auseinandersetzungen darüber, ob den Juden dies eigentlich erlaubt sein solle oder nicht — hierzu siehe die Betrachtung zum BdW 38/2018. Nach Konsultation der Archive entschied König Darius, dass ein neuer Tempel gebaut werden solle. Wenn es sich um Darius II handelt, dem Nachfolger von Artaxexes, der den Bau des Tempels zunächst untersagt hatte, so geschah dies 423-404 v. Chr. — also mehr als hundert Jahre nach dem Beginn der Rückkehr! 

Aber was haben uns die Geschichten von Errichtung, Zerstörung und neuerlicher Errichtung der Tempelgebäude in Jerusalem eigentlich zu sagen? 

Der Tempel ist Ort der Gegenwart Gottes unter den Menschen. Tempel in diesem Sinne sind die beiden Völker Gottes. Für Johannes ist Jesus Christus der Tempel Gottes. Paulus spricht davon, dass die Gemeinden der Tempel Gottes seien. Und für die Mystiker des Mittelalters ist die Seele selbst, jedes einzelnen Menschen, Wohnsitz Gottes!

Wir lesen also nicht nur von einem Bau aus längst vergangener Zeit, sondern auch vom immer wieder erneuten Willen Gottes, mit seinem Volk zu leben, und dem Versuch der Menschen, ihrem Gott Raum zu geben. Und wir lesen, dass diese Versuche bescheiden und trotzdem erfolgreich sein können. Das ist ermutigend.

Das religiöse Leben in unserem Land unterliegt einem mächtigen Wandel, der durch Corona beschleunigt und aktualisiert wird. Viele Gemeinden werden an den Rand des Untergangs geführt, manche wohl auch darüber hinaus. Aber es wird Neubeginn geben. Und vielleicht ist das der Weg: Drei Reihen von behauenen Steinen und eine Reihe von Holz

Ich wünsche uns eine gesegnete Woche,
Ulf von Kalckreuth

Bibelvers der Woche 23/2020

… des Sohnes Abisuas, des Sohnes Pinehas, des Sohnes Eleasars, des Sohnes Aarons, des obersten Priesters.
Esr 7,5

Hier ist ein Link zum Kontext in der Lutherbibel 2017

Auf den Trümmern des Alten — Neues beginnen!

Resilienz unterscheidet den, der wieder aufsteht, von dem, der liegenbleibt. Es ist die Fähigkeit, sich von persönlichen oder kollektiven Katastrophen zu erholen und dabei die neuen Gegebenheiten in konstruktiver Weise aufzunehmen.  

Jeremia und Hesekiel erzählen vom Untergang Jerusalems und des judäischen Staats, Esra und Nehemia von Rückkehr, Neubesiedlung und Wiederaufbau, viele Jahre später. Vor rund drei Monaten hatten wir einen Vers aus Esra in unmittelbarer Nachbarschaft des BdW für diese Woche, siehe BdW 08/2020. Persien übernimmt das babylonische Reich und in einer radikalen Abkehr von der Politik der alten Großmacht erlaubt Kyros die Rückkehr exilierter Nationen und gibt religiöse Autonomie. Oben ist der Kyros-Zylinder abgebildet, eine allererste Charta der Freiheit, 2500 Jahre alt. Sie ist nicht das Ende, sondern der Beginn eines langen nation building. Nach Rückkehr einer Anzahl von Familien und Sippen in das zerstörte Jerusalem beginnen Aufbauarbeiten, auch für einen neuen Tempel, und nach vielen Windungen kann der Tempel eingeweiht werden. Es kann losgehen. Aber was kann losgehen? Und wie?

Jetzt erst betritt Esra die Bühne. Er ist mandatiert vom persischen König, der gezogene Vers verleiht ihm aber eine eigenständige Autorität. Der Vers ist Zielpunkt einer Genealogie, die Esra als direkten Nachkommen von Aaron ausweist, des ersten Hohepriesters, von Gott selbst eingesetzt. Ein wenig wie der Papst als Nachfolger Petri. Anders als der Papst teilt Esra seine Stellung mit allen Angehörigen der Priesterkaste. Dennoch wird die Rückbindung an die Fundamente im Text aufwendig durchdekliniert: sie ist für seine Rolle als Erneuerer von großer Bedeutung. 

Es gibt keinen unabhängigen jüdischen Staat mehr. Um so wichtiger ist die religiöse Identität, die auch rechtliche, soziale und kulturelle Identität umfasst. Esra kehrt zu den Wurzeln zurück, und schafft dabei radikal Neues. Bis zum Exil war der Gott der Herr einer unter mehreren im Land der Hebräer: daneben wurden Gottheiten wie Baal und Astarte verehrt und ihre Feste gefeiert, nicht nur vom Volk, sondern ganz offiziell auch am Königshof. Es gab gar die Vorstellung, Jahwe sei der Gefährte Astartes. Die kanaanäischen Gottheiten hatten Altäre im Jerusalemer Tempel. Und dieser Tempel war nur einer unter mehreren, geopfert wurde zudem an vielen heiligen Stätten ausserhalb der Ortschaften. 

Esra knüpft an die Vergangenheit an und macht gleichzeitig nachhaltig Schluss mit ihr. Unter ihm erhält das Judentum in groben Umrissen die Gestalt, die es zur Zeit Jesu hatte. Ein Gott und sein eines Volk, ein Tempel, eine Opferstätte! Nach der Zerstörung des zweiten Tempels wiederholt sich die Geschichte auf merkwürdige Weise unter anderen Vorzeichen. Die Juden werden zerstreut, sammeln sich aber geistig und schaffen mit dem Talmud die Grundlagen für ein neues Judentum: dasjenige, welches wir heute kennen. Eine scheinbar konservativ ausgerichtete Identität, die aber ohne Tempel auskommt, ohne Opfer, körperlos beinahe, ohne feste Orte. Diese Identität ist auf ein Leben inmitten vieler Völker ausgerichtet ist und betont die Familie und den Zusammenhalt. 

Wenn wir nach einer Katastrophe verstehen, was unverzichtbar ist, wird gleichzeitig klar, was wir über Bord werfen können, damit Leben und Wachstum möglich bleiben. 

Corona bedroht die Gemeinden im Kern. Gemeinschaft ist für Gemeinde unverzichtbar, das sagt schon das Wort. Darin liegt die Herausforderung. Wie wir Gemeinschaft leben können, müssen wir jetzt neu finden, Schritt für Schritt. Viel von dem, was Gemeinde ausmacht, wird in der Diskontinuität untergehen: Chöre, Gruppen, Gebetskreise. Vielleicht geht der Gottesdienstbesuch nochmals radikal zurück. Wenn in einigen Monaten das ganze Ausmaß des Schadens offenbar wird, müssen wir bereits verstanden haben, was unverzichtbar ist und wie wir es in einer neuen Zeit leben. Resilienz eben! 

Heute ist Pfingsten, das Fest des Heiligen Geists, den der Herr uns schickt. Wie vor 2000 Jahren wird auch Schawuot gefeiert, das Fest der Gabe der Torah. Die Jünger Jesu trafen sich in Jerusalem, um dieses Fest zu feiern. Aber sie hatten ihren Rabbi und Messias verloren — die Grundlage ihrer Gemeinschaft. Erfüllt vom Geist blieben sie zusammen und konnten ihre Kräfte auf die neue Zeit ausrichten. Meine Gemeinde hat heute Gottesdienst gefeiert. Nicht viele, dreiundzwanzig Menschen mit Gesichtsmasken. Großer Abstand, kein Gemeindegesang, keine Gespräche mit Kaffee und Kuchen. Eine Predigt gab es, ein Gebet, ein Interview und den Segen. Ein ganz kleines Musikteam war da, und ich sang „Nun bitten wir den Heiligen Geist“ — der Geist möge uns leiten auf der Rückkehr zum Vater. Es war ein schöner, ein intimer Gottesdienst. Anders, an die neuen Umstände angepasst: Gut.

Ich wünsche uns ein frohes Pfingstfest – וחג שמח שבועות!
Ulf von Kalckreuth

Bibelvers der Woche 20/2020

Urim und Thummim

Und der Landpfleger sprach zu ihnen, sie sollten nicht essen vom Hochheiligen, bis ein Priester aufstände mit dem Licht und Recht.
Esr 2,63

Hier ist ein Link zum Kontext in der Lutherbibel 2017.

Das Los werfen

Ein besonderer Vers für jemanden, der zufällig Bibelverse zieht, um dadurch über die Zeit ein neues Bild zu gewinnen! Es geht um die Orakelsteine Urim und Thummim, mit denen der Hohepriester direkt Gottes Wille erfragen konnte, siehe 2.Mose 28,30. Ihr Name wird von Luther etwas ungenau mit „Licht und Recht“ übersetzt, richtiger wäre „Lichter und Vollkommenheiten“.  

Als die Judäer sich siebzig Jahre nach der Verschleppung durch die Babylonier in Jerusalem wieder sammeln durften, mussten sie das Judentum neu konstituieren. Hierfür steht das Buch Esra. Wer gehörte dazu, wer nicht? Siehe hierzu BdW 2/2018, aus demselben Abschnitt gezogen. Besonders kritisch musste diese Frage bei den Leviten gestellt werden. Nur Abkömmlinge des Stammes Levi durften Tempeldienste verrichten. Der Abstammungsnachweis gelang nach so langer Zeit nicht allen Familien mehr. Es war aber durchaus möglich, das der Anspruch der betroffenen Familien berechtigt war. Der Landpfleger zieht sich aus der Affäre: Der Anspruch wird nicht abgelehnt, sondern nur suspendiert, bis die Frage mit Hilfe der beiden Orakelsteine durch ein Gottesurteil gelöst werden konnte. Diese waren nach dem Exil leider verschwunden. Bis sie wieder auftauchen, durften die fraglichen Familien also an der Durchführung der Opfer nicht mitwirken.

Der Landpfleger zeigt Führung, wie man heute sagt — irgendwie müssen Sachfragen eben beantwortet werden. Aber wenn es nun die Orakelsteine noch gäbe? Beim Werfen waren drei Ausgänge möglich: „ja“, „nein“ und „keine Antwort“. Wer die Steine besaß, hatte große Macht: einen unmittelbaren Zugang zu Gottes Wille und zur Wahrheit, dann jedenfalls, wenn die beiden Steine auf die gestellte Frage tatsächlich antworten, mit „ja“ oder „nein“. 

Eine faszinierende Vorstellung! 

Wie würden wir die Steine nutzen? Man müsste lange über die Formulierung der Frage nachdenken, das zur Entscheidung stehende Problem so gut wie möglich vorbereiten und sich dabei ganz auf dasjenige konzentrieren, was wichtig und offen ist, und zwar gegeben alles relevante Wissen — Unwichtiges oder im Grunde Bekanntes hat in einer Frage an die mit göttlicher Kraft begabten Steine keinen Platz. Bereitet man sein Anliegen in dieser konsequenten Weise auf, kann man so viel lernen, dass die Steine vielleicht gar nicht mehr nötig sind…

So können wir aber auch ohne Urim und Thummim vorgehen und dann, falls am Ende doch eine Frage übrig bleibt, auf Gottes Antwort warten. Sie wird zu uns gelangen — wenn es denn sein soll, denn auch die Steine haben am Ende ja nicht jede Frage beantwortet. 

Ich wünsche uns in dieser Woche die Antwort auf eine Frage, die wichtig und offen ist, und dabei Gottes Segen. 

Ulf von Kalckreuth

Bibelvers der Woche 08/2020

Und er kam gen Jerusalem im fünften Monat, nämlich des siebenten Jahres des Königs.
Esr 7,8

Hier ist ein Link zum Kontext in der Lutherbibel 2017.

Jahr und Tag

Manchmal ist ein Ereignis so wichtig, dass Menschen sich seiner versichern müssen. Jahr und Tag oder auch der Ort eines Sieges, einer Gründung oder einer Katastrophe werden dokumentiert, mit Urkunden, Feiertagen, Denkmälern. 

In Abschnitt 7 des Buchs Esra geschieht das nicht weniger als dreimal hintereinander. Der Schriftgelehrte Esra ist auf seiner Reise von Babylon nach Jerusalem dort angekommen. Vers 7 gibt das Jahr der Reise an, Vers 8 — unser Bibelvers der Woche — gibt Jahr und Monat an, und Vers 9 noch einmal Jahr, Monat und Tag der Ankunft. Die Tatsache dieser Reise wird in den Versen vorher bereits zweimal bekräftigt, in Zusammenhang mit dem Stammbaum Esras und seinem königlichen Auftrag.

Ganz gewiss ist es geschehen: Wir kennen Name, Stammbaum und Auftrag des Mannes, und Jahr, Monat und Tag seiner Ankunft in Jerusalem! Es ist eigentümlich: unser Vers ist, auch formal, das Gegenstück eines anderen BdW vor zwei Jahren, 2018 KW 11, erinnern Sie sich?

Am zehnten Tage des fünften Monats, welches ist das neunzehnte Jahr Nebukadnezars, des Königs zu Babel, kam Nebusaradan, der Hauptmann der Trabanten, der stets um den König zu Babel war, gen Jerusalem…
Jer 52,12, wortgleich in 2. Kö 25,8

Nebusadaran kam aus Babylon, um den Tempel zu zerstören. Nun kommt Esra auf demselben Weg, um den Dienst im zweiten Tempel einzurichten und den Glauben neu zu institutionalisieren. Das Rad der Mühle dreht sich wieder. Aber es ist eine neue Mühle, mit anderen Müllern darin.

Das Buch Esra und das Buch Nehemia erzählen von der Rückkehr wichtiger Teile des Volks Israel aus dem babylonischen Exil, rund siebzig Jahre nach ihrer Verschleppung. Das entspricht etwa der Zeit, die bis heute seit der Bombardierung Dresdens und der Vertreibung der Deutschen aus Schlesien und Böhmen vergangen sind. Und die Hebräer hatten es in ihrer neuen Umgebung nicht schlecht getroffen, den Klageliedern in den Psalmen zum Trotz. Sie waren von der Peripherie ins Zentrum gekommen, ein wenig so, ob heute jemand aus Mittelamerika oder Südosteuropa nach Palo Alto in Kalifornien kommt. Viele von ihnen stiegen in die Führungsschicht auf, erst des babylonischen Reichs, dann der persischen Macht. Jüdische Gelehrsamkeit blühte, wichtige redaktionelle Arbeiten an den Schriften setzten ein, eine neue Theologie entstand. Viele wanderten nicht zurück. Babylon blieb ein Zentrum jüdischer Gelehrsamkeit bis weit ins erste Jahrtausend nach Christus. Die wichtigere der beiden Fassungen des Talmuds wurde dort erstellt. 

Warum eigentlich zurückkehren in die Trümmerwelt der Vorfahren? Mit wenigen Ausnahmen waren die Rückkehrer in Babylon geboren, nicht in Palästina. Und keiner dort wartete auf sie. Wie viele Deutsche sind nach Schlesien zurückgekehrt, als dies möglich wurde? In den beiden Büchern wird die erste Zeit aus der Perspektive zweier wichtiger Protagonisten beschrieben, des jüdischen Statthalters Nehemia und des Hohepriesters Esra. Die Rückwanderung verlief in Wellen, und es war anfangs nicht klar, wer eigentlich „dazu“ gehörte und wer nicht. Wichtige äußere Bezugspunkte waren der Neubau des Tempels und der Stadtmauer, in Wahrheit aber musste eine ganze Gesellschaft neu aufgebaut werden. Diesen Vorgang leitet Esra ein. Der BdW sagt uns, dass es wirklich geschehen ist — ab dem fünften Monat im siebten Jahr des Königs. Und zweieinhalbtausend Jahre später sollten die Juden es wiederholen…

Die Rückkehr wird in Esra und Nehemia erzählt wie ein zweiter Exodus. Wenn wir uns auf das besinnen, was eigentlich zu uns gehört und es zurückholen in unser Leben, dann kann das Mut erfordern, als ginge es um Neuland. Einen Grund hat es für die Trennung ja immer gegeben. Den Mut zur Rückkehr kann Gott geben. 

Am Samstag, als ich dies schrieb, kreiste eine Gruppe Kraniche laut rufend in der Thermik über unserer Siedlung in Praunheim und flog dann weiter nach Nordosten. 

Ich wünsche uns eine gesegnete Woche, 
Ulf von Kalckreuth

Bibelvers der Woche 38/2018

…der Brief, den ihr uns zugeschickt habt, ist deutlich vor mir gelesen.
Esr 4,18

Hier ist ein Link zum Kontext in der Lutherbibel 2017

Drei Könige und zwei Briefwechsel

Das sprichwörtliche Gesetz der Meder und Perser: niemand kann es aufheben, selbst derjenige nicht, von dem es ausgeht. So kann man es bei Daniel 6 nachlesen. Und wenn sich das Gesetz widerspricht? 

Der persische König Kyros hatte das babylonische Reich zerschlagen und erlaubte dann den Juden, aus ihrem Exil heimzukehren und ihren Tempel wieder aufzubauen. Er gab ihnen zu diesem Zweck sogar das von den Babyloniern geraubte Tempelgold zurück. 

Soweit die Überschrift — sozusagen der Vorstandsbeschluss. Aber ein solcher Beschluss allein bewegt noch nichts. Schnell ist zwar ein Brandopferaltar gebaut, doch als die Juden Anstalten machen, tatsächlich einen Tempelbau in Angriff zu nehmen, sieht die Linie Probleme. Ein Tempel ist ein großes Bauwerk, ein zentraler Ort fürs Volk, und er braucht eine Stadtmauer. Beides gemeinsam würde Jerusalem wieder zum Machtfaktor machen und Unruhe schaffen. Als Kyros gestorben ist, schreibt Rehum, der Oberbefehlshaber der Truppen in Samarien im Namen der regionalen Administration einen Brief an Artaxerxes, einen der Nachfolger von Kyros, und erinnerte ihn daran, wie aufsässig die Stadt einst war. In den Chroniken sei es nachzulesen. Der König möge den Bau unterbinden.

Die Antwort kommt prompt. Man habe den Brief genau gelesen (das ist der gezogene Vers), die Angelegenheit geprüft und sei zu dem Ergebnis gekommen, dass das Anliegen berechtigt sei: der Bau müsse gestoppt werden. Bis weitere Befehle folgen.

An dieser Stelle könnte es zu Ende sein. Das ist das Schicksal vieler Projekte, selbst wenn sie grünes Licht von ganz oben haben: sie müssen in der Ebene durchgesetzt werden, und dort kostet ihre Realisierung die aktuell Mächtigen das, was sie nicht aufgeben wollen: Macht. 

Aber die jüdischen Organisatoren des Baus, Serubabbel und Jeschua, haben einen langen Atem. Sie stellen sich gut mit der lokalen Regierung. Für diese ist die Situation unangenehm: es gibt einen Befehl von Kyros, zu bauen, und einen Befehl von Artaxerxes, zu warten. Als die Zeit reif ist, d.h. noch eine Regentschaft später, schreiben Tattenai, der Statthalter Babylons, und seine Beamten ihrerseits einen Brief an Darius, den Nachfolger von Artaxerxes, und erinnern den König an die Erlaubnis, die sein Vorvorgänger gegeben hat. Und fügen ein zweischneidiges Argument hinzu: Kyros habe den Juden ja bereits eine große Menge Goldes gegeben, um die Planungen umzusetzen! Das appelliert an das Bedürfnis der persischen Macht, überzeitliche Konsistenz im Regierungshandeln herzustellen. Der Adressat könnte es aber auch als Einladung verstehen, das erste Edikt zu bekräftigen und das Tempelgold einzuziehen. 

Aber das Gambit gelingt. Auch Darius lässt die Archive prüfen. Auch die Aussage Tettais wird bestätigt. Darius muss sich zwischen zwei Inkonsistenzen entscheiden. Und er befiehlt, dass weitergebaut werden soll. 

Zwei Briefe mit gegenteiligen Anliegen, beide faktisch korrekt begründet, beides jeweils durch die Archive geprüft und belegt. Ganz nebenbei: hier präsentiert sich eine voll ausgebildete Schriftkultur, zu einem Zeitpunkt der uns früh erscheinen mag: Xerxes regierte zwischen 465 und 424 vor Christus. 

Am Ende, nach mehreren Regierungswechseln, wird das Gesetz der Meder und Perser aufgehoben, um dem Gesetz der Meder und Perser Geltung zu verschaffen. Mit Gottes Hilfe und mit sehr langem Atem kann es gelingen, der Bürokratie in die Speichen zu greifen. 

Und am Ende steht der Tempel wieder da!

Ich wünsche uns eine Woche mit langem Atem! 
Ulf von Kalckreuth

Bibelvers der Woche 02/2018

…unter den Sängern: Eljasib; unter den Torhütern: Sallum, Telem und Uri.
Esr 10,24

Hier ist ein Link zum Kontext in der Lutherbibel 2017.

EntSCHEIDUNG!

Nachdem ein größer Teil der jüdischen Elite aus der babylonischen Gefangenschaft nach Jerusalem und Juda zurückgekehrt ist, organisiert Esra die Wiedereinsetzung des Tempeldienstes und konstituiert dabei das Judentum neu. Es wird offenbar, dass viele Familien sich zwischenzeitlich oder schon vor dem Exil mit Angehörigen autochthoner Völker verbunden haben, indem sie ihre Frauen Männern anderer Völker gegeben haben oder sich Frauen dieser Völker als Ehefrauen genommen haben. Die Torah untersagt das strikt.

Esra setzt durch, dass die Juden sich von diesen Frauen trennen. Die Sippenältesten ermitteln, wer solche Ehen eingegangen ist und die betroffenen Männer  geloben, sich von ihren Frauen und den mit ihnen gezeugten Nachkommen zu scheiden. Unter ihnen sind auch Angehörige der Priesterschaft, und — in der Aufzählung des gezogenen Vers — ein Tempelsänger und drei Torhüter. 

Der Vers in seinem Kontext ist ein drastischer Appell, Reinheit, Prinzipien und den Bund mit Gott über persönliche Beziehungen auch allerengster Art zu stellen. Die Zuspitzung erschließt sich, wenn man sich die rechtliche Stellung geschiedener Frauen im Judentum vergegenwärtigt. In vielen Fällen wird eine Rückkehr der Frauen in ihre Familien nicht möglich gewesen sein. Die konsequente, aber wenig menschenfreundliche EntSCHEIDUNG erklärt sich aus der existenziellen Angst Esras und der Sippenältesten, die gerade wieder gefundene Gnade ihres Gottes aufs Neue zu verlieren. 

Eine Woche ohne Angst und in Gottes Segen wünscht uns allen
Ulf von Kalckreuth