Bibelvers der Woche 26/2022

Und ihrer waren bei viertausend, die da gegessen hatten; und er ließ sie von sich.
Mk 8,9

Hier ist ein Link für den Kontext des Verses, zur Lutherbibel 2017. 

Freiheit von Angst

Das Brotwunder: an die viertausend Menschen standen, saßen und lagen bei Jesus in der wüstenähnlichen Umgebung des Sees Genezareth. Manche waren von weither gekommen. Sie hatten keine Vorräte und niemanden, an den sie sich wenden konnten. Hatten sie sich in eine Falle begeben, als sie ihrem inneren Ruf folgten und den großen Prediger hören wollten, von dem so viel die Rede war? Jesus löst das Problem — er lässt sieben Stück Brot und ein paar Fische verteilen, die viertausend essen und werden satt, und es bleiben sieben Körbe übrig. 

Worum geht es bei dieser Geschichte? 

Gestern fuhr ich wie jeden Tag mit meinem Fahrrad in die Bank. Seit einiger Zeit habe ich Schmerzen in der Schulter, ich versuche daher, die gebeugte Haltung zu vermeiden und berühre den Lenker nur mit den Spitzen der rechten Hand. Und oft, wo es geht, fahre ich ganz freihändig, das kann ich kilometerweit. Ich fahre viel Fahrrad, das Fahrrad ist mir so vertraut wie der Gang auf meinen Beinen, vielleicht vertrauter noch. 

Ich dachte über den Vers nach. Dabei war ich deprimiert und müde, viel läuft falsch zur Zeit. Und beinahe ohne es zu merken schloß ich die Augen — während ich freihändig Fahrrad fuhr. Ich war nicht etwa eingeschlafen, das ist unmöglich auf dem Fahrrad, es war so, wie wenn man redet und dabei für einige Sekunden die Augen schließt, um sich zu sammeln. Ich war ungeheuer überrascht, dass das ging. Ich musste es gleich danach noch ein paarmal probieren…

Machen Sie es bitte nicht nach. Eine pädagogisch wertvolle Erfahrung ist es nicht, es ist eben das, was ich gestern mit dem Vers erlebt habe. Technisch ist es kein Wunder. Auf dem Fahrrad verhindert man das Umfallen nicht, indem man immer wieder nachschaut, ob der Horizont noch waagerecht ist. Es sind die Signale von Innenohr und Po, die uns das Gleichgewicht halten lassen. Solange es kein Hindernis gibt, macht „eigentlich“ keinen Unterschied, ob man freihändig nun mit offenen oder geschlossenen Augen fährt. Wir können ja auch gehen mit geschlossenen Augen 

Aber hätte ich vorher darüber nachgedacht — ich hätte fest erwartet, dass Angst das unmöglich macht, dass ich sofort in den Lenker greifen muß, das ich das Gleichgwicht verliere, wie ein Schlafwandler, der auf dem Dachfirst balanciert und plötzlich aufwacht. .

Fliegen für Anfänger. Angstfreiheit. Jesus erklärt es im selben Abschnitt etwas später. Die Jünger haben selbst kein Brot, und machen sich Sorgen, und äußern Unverständnis, als Jesus in Gleichnissen mit ihnen spricht. 

Und er merkte das und sprach zu ihnen: Was bekümmert ihr euch, dass ihr kein Brot habt? Versteht ihr noch nicht, und begreift ihr noch nicht? Habt ihr ein erstarrtes Herz in euch? Habt ihr Augen und seht nicht und habt Ohren und hört nicht? Und denkt ihr nicht daran: Als ich die fünf Brote brach für die fünftausend, wie viele Körbe voll Brocken habt ihr da aufgesammelt? Sie sagten: Zwölf. Und als ich die sieben brach für die viertausend, wie viele Körbe voll Brocken habt ihr da aufgesammelt? Und sie sagten: Sieben. Und er sprach zu ihnen: Begreift ihr denn noch nicht? (Mk 8,17-21)

Glauben. Vertrauen und Freiheit von Furcht ermöglichen Dinge, zu denen wir ohne Glauben nicht fähig sind. Das gilt individuell, auf dem Fahrrad, und sehr viel mehr noch im Kollektiv.

Ich wünsche uns allen eine gesegnete zweite Jahreshälfte!
Ulf von Kalckreuth

Bibelvers der Woche 25/2022

Sie sitzen gern obenan über Tisch und in den Schulen.
Mat 23,6 

Hier ist ein Link für den Kontext des Verses, zur Lutherbibel 2017. 

Was tun? Und warum? 

Jesus ist im Tempel, kurz vor seinem Tod. Er spricht provozierend und ohne jegliche Rücksicht auf Verluste. Wie einer, der weiss, dass er nur noch wenige Tage zu leben hat. Vielleicht ist die Kausalität auch anders herum. 

Im Vers spricht er Personengruppen an — Pharisäer und Schriftgelehrte — und eine Haltung. Wie Jesus glauben die Pharisäer an Auferstehung und das ewige Leben und auch sie halten nichts von der etablierten Tempelbürokratie. Im Zentrum steht für sie das Verhalten des Einzelnen vor den Gottes Gesetz — „Was muss ich tun, um das ewige Leben zu erlangen“. Jesus weiß, dass sich diese Frage nicht durch feinsinnige und detaillierte Auslegung des Gesetzes beantworten läßt, dass eine unmittelbare, persönliche Beziehung zu Gott und den Mitmenschen nötig ist — Glaube, Liebe und der Heilige Geist. 

Ich bin nicht überzeugt, dass der Matthäusvers den Pharisäern als Gruppe insgesamt gerecht wird. Sie galten als unbestechlich und mit ihrem Leben Gott zugewandt, unter hohen persönlichen Kosten. Das machte ihren Erfolg aus. Sie sind die Vorläufer der Rabbinen, die nach dem Untergang des Tempels und des offiziellen Mainstreams die Grundlagen für das orthodoxe Judentum legten, wie wir es heute kennen. Sie meinten es ernst, ihr ‚Drive‘ kam nicht nur vom Wunsch, in den Lehrhäusern obenan zu sitzen.

Die Haltung aber, die Jesus charakterisiert, ist weit verbreitet, auch unter Christen. Wieviel religiöse Aktivität gäbe es, wenn sie in den Gemeinden nicht Ansehen verschaffte? Wieviele Blogs mit biblischen Themen gäbe es, wieviel Lobpreismusik und Chorgesang? Wieviel Theologiestudium, wieviel Spenden und gute Werke?

Es ist natürlich, wenn wir Ansehen bei den Menschen suchen, die uns wichtig sind. Wir sind soziale Wesen. Aber vielleicht werden wir am Ende genau das bekommen, was wir wollen, und nichts sonst? „Wahrlich, ich sage Euch, sie haben ihren Lohn schon gehabt“, sagt Jesus dazu in Mat 6,2.

Wir sollen verstehen, warum wir tun, was wir tun, sagt Jesus!

Ich wünsche uns eine gesegnete Woche,
Ulf von Kalckreuth

Bibelvers der Woche 24/2022

Ich kannte dich, ehe denn ich dich im Mutterleibe bereitete, und sonderte dich aus, ehe denn du von der Mutter geboren wurdest, und stellte dich zum Propheten unter die Völker.
Jer 1,5

Hier ist ein Link für den Kontext des Verses, zur Lutherbibel 2017. 

Ein Auftrag

Wie manche andere Berichte zu Propheten des Alten Testaments beginnt das Buch Jeremia mit einer Berufung: Aussonderung zum Dienst Gottes. Es ist eine Art Urteil. Jeremia wird nie eine Frau und Kinder haben und immer eine prekäre Existenz leben, unter Beobachtung stehen, von denen bedroht sein, deren Position er gefährdet. Das ahnt er, und er versucht, der Berufung zu entgehen. Er sei zu jung, diese Bürde zu tragen, sagt er. 

Unser Vers baut allen Ausflüchten vor: Gott hat Jeremia auf diese Berufung hin geschaffen. Mit anderen Worten: Jeremia kann gar nicht ablehnen. Und der Herr gibt seinem Propheten eine Vision an die Hand, die ihm zeigt, dass es nie zu viel werde, dass Gott ihn immer vor dem Äußersten schützen werde.   

Jeremia führte ein hartes Leben, und nicht viele würden mit ihm tauschen wollen. Aber er kannte seine Berufung. Er verzweifelte manches Mal an seinem Auftrag, aber er musste sich nie fragen, ob er wohl eine Aufgabe in der Welt habe. Es gibt im Judentum die Vorstellung, dass alle Menschen einen Auftrag von Gott haben, und dass niemand stirbt, bevor er diesen seinen besonderen Auftrag erfüllt hat. Niemand kommt umhin, seine Aufgabe im Rahmen des Schöpfungsganzen zu verrichten. 

Das ist eine faszinierende Idee. Was wohl wäre dann mein Auftrag? Ich bin fast 59 Jahre alt und weiss es nicht genau…!

Der Unterschied zwischen Jeremia und allen anderen Menschen bestünde nur darin, dass Jeremia seinen Auftrag kannte. Er sollte als Sprachrohr Gottes wirken, das kann nicht unbewusst geschehen. Ich weiss nicht, wie verbreitet diese Vorstellung im Judentum ist. Ich habe sie bei meiner Hebräischlehrerin kennengelernt. Sie ist stimmig und konsequent — die Idee betont Gottes Allmacht und lässt auch alle Verantwortung bei ihm. Sie läuft damit quer zu unserer Vorstellung einer fast schrankenlosen Selbstbestimmung des Menschen, vor der Gott sich kleiner und kleiner machen muss. 

Ich wünsche uns für diese Woche, dass wir unseren Auftrag besser kennenlernen mögen,
Ulf von Kalckreuth

Bibelvers der Woche 23/2022

Ein zänkisches Weib und stetiges Triefen, wenn’s sehr regnet, werden wohl miteinander verglichen.
Spr 27,15

Hier ist ein Link für den Kontext des Verses, zur Lutherbibel 2017. 

Abperlen lassen!

Es gibt für mich wenig schlimmeres als diese Streitereien, die aus dem blauen Nichts entstehen, ins blaue Nichts führen und in der Zeit dazwischen alle Beteiligten regelrecht aufreiben. Das Buch der Sprüche ist ein Schulbuch, und zwar ein besonderes. Es enthält Lehr- und Merksätze der Weisheitslehre zum Auswendiglernen, als Teil eines Curriculums, siehe den BdW 50/2020. Die Weisheitslehre war die Lehre der Lebenskunst. Die dazugehörigen Lektionen gab es mündlich, sie stehen uns nicht mehr zur Verfügung. Wir können aber versuchen, sie uns anhand der Merksätze zu erschließen. Hier ist zunächst die ganze Sinneinheit, zitiert aus der Lutherbibel 2017:

Ein zänkisches Weib und ein stetig tropfendes Dach, wenn’s sehr regnet, lassen sich miteinander vergleichen: Wer sie aufhalten will, der will den Wind aufhalten und will Öl mit der Hand fassen.

Der Vergleich mit dem tropfenden Dach findet sich auch in Sprüche 19,13: Ein törichter Sohn ist seines Vaters Herzeleid, und eine zänkische Frau wie ein stetig tropfendes Dach. Das Bild vom „Haschen nach Wind“ für vergebliches Tun kennen viele aus Prediger, einem eng verwandten und sehr eindrücklichen Text der Weisheitsliteratur. 

Der Duden gibt ‚zänkisch‘ mit rechthaberisch, streitsüchtig und unverträglich wieder. Darüber hinaus hat das Wort im Deutschen eine Konnotation mit dem weiblichen Geschlecht. Als Anwendungsbeispiel gibt der Duden „zänkisches altes Weib“ an. Rechthaberische, streitsüchtige und unverträgliche alte Männer gibt es auch, aber einen zänkischen alten Mann würde man sich irgendwie weiblich vorstellen. So weit kann ich folgen, es gibt wohl wirklich eine weibliche Variante der Streitsucht. Aber die männliche ist nicht schöner, und auf sie würde der Vergleich mit dem Dach ebenso gut passen. Die geschlechtliche Konnotation ist somit überflüssig.

Im hebräischen Original steht ein Wort, das ‚zanken‘, ’sich streiten‘ bedeutet, aber auf eine Wurzel zurückgeht, die ‚richten‘, ‚Recht schaffen‘ bedeutet. Es geht also um Menschen, die sich zwanghaft im Recht wähnen, bzw. ihr Recht ständig durch andere verletzt sehen. Eigentlich sehr deutsch. Nicht einmalige Ausbrüche sind gemeint, sondern eine Verhaltenstendenz, die autonom und unveränderlich ist, eben wie ein stetig tropfendes Dach. Sichtbar wird das Tropfen nur bei Regen, undicht aber ist das Dach auch, wenn die Sonne scheint. Die Unfähigkeit, etwas ab- und von sich wegzuhalten ist gemeint. Und die Auseinandersetzung mit solchen Menschen, so der Vers, ist sinnlos und Zeitverschwendung

Aggressive Negativität hat etwas Sündhaftes. Sie trägt innere Unruhe und Unfrieden nach aussen und überträgt sie wie einen Virus auf Menschen der Umgebung. Diese sollten sich davon so frei wie nur möglich machen, die Ansteckung vermeiden — auch aus epidemiologischen Gründen: das Beziehungsgeflecht muß geschützt werden. Die Auseinandersetzung führt zu nichts.

Ich wünsche uns ein gesegnetes Pfingstfest, eine Woche in innerer Ruhe und Frieden, mit Gottes Hilfe, 
Ulf von Kalckreuth