Bibelvers der Woche 05/2022

Auch legt man die Hand an die Felsen und gräbt die Berge um.
Hiob 28,9

Hier ist ein Link für den Kontext des Verses, zur Lutherbibel 2017.

Weisheit — und wie man sie findet

Das ist orientalisch: die Hälfte des Kapitels wird auf eine Hinführung verwendet, bei der das, worum es eigentlich geht, nicht erwähnt wird. Zwölf lange Verse hindurch gibt Hiob ein Beispiel nach dem anderen für Dinge, die ihre versteckte Orte haben, und die man doch findet, mit großer Mühewaltung und Kunst. Der Vers ist ein Teil dieser Beschreibung, die schließlich zu dem führt, worum es eigentlich geht (Vers 9-12):  

Auch legt man die Hand an die Felsen und gräbt die Berge von Grund aus um. Man bricht Stollen durch die Felsen, und alles, was kostbar ist, sieht das Auge. Man wehrt dem Tröpfeln des Wassers und bringt, was verborgen ist, ans Licht. Wo will man aber die Weisheit finden? Und wo ist die Stätte der Einsicht?

Zu finden ist sie nicht, und zu kaufen auch nicht. Weisheit wird als inkommensurabel mit Gold und Gütern bezeichnet — man kann sie nicht bezahlen, weil es keinen Betrag gibt, der ihrem Wert entspricht. Das ist eine Botschaft, die wir aus dem Buch der Sprüche schon kennen, siehe den BdW 50/2020. Gibt es sie dann überhaupt? Ja, sie ist bei Gott. Und Gott schuf sie nicht einfach. Bei der Schöpfung der Welt „sah er sie und verkündete sie, bereitete sie und ergründete sie“ (V. 27). Sie ist Gott zwar nachgeordnet, aber ebenso ewig wie er. In der Einleitung des Buchs der Sprüche spricht die Weisheit selbst (Spr 8, 22- 31):   

Der HERR hat mich schon gehabt im Anfang seiner Wege, ehe er etwas schuf, von Anbeginn her. Ich bin eingesetzt von Ewigkeit her, im Anfang, ehe die Erde war. Als die Tiefe noch nicht war, ward ich geboren, als die Quellen noch nicht waren, die von Wasser fließen. Ehe denn die Berge eingesenkt waren, vor den Hügeln ward ich geboren, als er die Erde noch nicht gemacht hatte noch die Fluren darauf noch die Schollen des Erdbodens. Als er die Himmel bereitete, war ich da, als er den Kreis zog über der Tiefe, als er die Wolken droben mächtig machte, als er stark machte die Quellen der Tiefe, als er dem Meer seine Grenze setzte und den Wassern, dass sie nicht überschreiten seinen Befehl; als er die Grundfesten der Erde legte, da war ich beständig bei ihm; ich war seine Lust täglich und spielte vor ihm allezeit; ich spielte auf seinem Erdkreis und hatte meine Lust an den Menschenkindern.

Die Weisheit spielt mit Gott und er mit ihr, es ist dies eine sehr vertraute Beziehung. Uns hingegen ist sie unsichtbar und unzugänglich — das Wühlen im Berg als Bild für ein mühsame Erarbeiten hilft ebensowenig wie der Versuch, sie zu kaufen. So spricht ein Text, der geschrieben ist von Menschen, denen Weisheit das kostbarste war. 

Hiob kommt zu einer sehr einfachen Conclusio: Dem Menschen selbst ist die Weisheit nicht zugänglich und sie ist bei Gott. Wenn Gott also dem Menschen geneigt ist, dann führt ein Weg zu ihr über Gottes Gebote: „Siehe: die Furcht des Herrn, das ist Weisheit und meiden das Böse, das ist Einsicht“.

Weisheit ist im Kern praktische Lebenskunst, siehe den BdW 16/2019. Gottes Gebote sind von Weisheit durchdrungen und der Weg zu gutem Leben. Wenn du sie befolgst, so sagt das Kapitel, verhältst du dich weise, auch wenn deinem Verstand die dafür eigentlich nötige Einsicht fehlt. Du brauchst die analytische, die intellektuelle Einsicht gar nicht: befolgst du die Gebote Gottes, tust du ebendas, was du auch tun würdest, wenn du diese Einsicht hättest. Gottesfurcht ist ein damit Surrogat, mehr noch, ein Äquivalent zur Weisheit, im Ergebnis nicht von ihr zu unterscheiden.

Philosophisch interessant ist folgendes: der Mensch gelangt so auf einem Umweg tatsächlich zu Weisheit — wenn die Brücke trägt, wenn Gott sein Freund ist. Der Hermeneutiker würde nämlich sagen, dass wahre Weisheit auch die eigenen geistigen Beschränkungen berücksichtigt und den bestmöglichen Umgang damit. Und der Empiriker könnte feststellen, dass zwei Dinge nicht verschieden sind, wenn sie sich nicht unterscheiden lassen.

Das Buch Hiob ist eine Übung in Dialektik. Jede seiner Wahrheiten wird zur Waffe für den Verfechter der gegenteiligen Position. Manchmal will es mir scheinen, das Buch sei darin wie die Welt selbst. Hiob entwickelt seinen Freunden das Konzept von der in Gottes Geboten eingebetteten Weisheit, um damit seine finale Anklage vorzubereiten. Gott hält sein Versprechen nicht, sagt er, denn Hiob gerät ins Unglück, obwohl er sein Leben ganz auf Gottes Gebote gebaut hat. Die Brücke trägt nicht!

Aber am Ende leuchtet Gott wie die Sonne, ohne sich auf einen einfachen Zusammenhang reduzieren zu lassen. Er lässt sich nicht berechnen und ergreift Hiob, nimmt ihn einfach mit. Im Grunde macht er damit Hiobs Worte über die Weisheit wahr.

Ich wünsche uns eine Woche, in der Weisheit in unserem Tun liegt, auch wenn unser Verstand sie nicht erreicht,
Ulf von Kalckreuth

Ulf von Kalckreuth, Niederursel, 6. April 2021

Bibelvers der Woche 04/2022

…wie geschrieben steht: „Der viel sammelte, hatte nicht Überfluss, der wenig sammelte, hatte nicht Mangel.”
2 Kor 8,15

Hier ist ein Link für den Kontext des Verses, zur Lutherbibel 2017.

Die Bibel und Karl Marx

Der Bibelvers der Woche wird zufällig gezogen, aber manchmal arbeitet der Zufallsgenerator in meinem Computer wie ein Herausgeber: Heute geht es noch einmal um die große Sammlung für die Gemeinde in Jerusalem, aber aus einer anderen Perspektive!

In der letzten Woche sind wir Paulus auf seiner letzten Reise begegnet. Die Gemeinde in Jerusalem war in Not geraten, und er wollte den Brüdern eine große Gabe der heidenchristlichen Gemeinden überbringen, als Zeichen der Einheit. Der Vers dieser Woche stammt aus einer Werbeschrift für ebendiese Sammlung. Im armen Makedonien war sie erfolgreich abgeschlossen, und nun wirbt Paulus im reichen Korinth dafür — das ist Kapital 8 und 9 des zweiten Korintherbriefs. Dabei zieht er alle Register. Die Gemeinde sammelte seit dem letzten Jahr, und Paulus will nun gern auch ein Wollen erkennen, sagt er, sie sollen nun aber das Tun vollenden, damit es nicht beim Wollen bleibe. 

„Nicht, dass die anderen (in Jerusalem) Ruhe haben und ihr Not leidet, sondern dass es zu einem Ausgleich komme (V. 13). Und dann er gebraucht er ein Bild, aus dem sich eine Ethik der Gleichverteilung ableiten lässt. Unser Vers oben ist ein Zitat aus Exodus, er erinnert an die Erzählung vom Manna, das in der Wüste den hungrigen Israeliten Nahrung brachte. Als das Manna erstmals vom Himmel fiel, hieß Mose die Kinder Israel sammeln, und gab ihnen dazu eine Verteilungsregel: 

Das ist’s aber, was der Herr geboten hat: ein jeder sammele, soviel wie er zum Essen braucht, einen Krug voll für jedem nach der Zahl der Leute in seinem Zelte. Und die Israeliten taten’s und sammelten, der eine viel, der andere wenig. Aber als man’s nachmaß, hatte der nicht darüber, der viel gesammelt hatte, und der nicht darunter, der wenig gesammelt hatte. Jeder hatte gesammelt, soviel er zum Essen brauchte. (2. Mo 16,16-18)

Was Mose hier fordert und Paulus mit ihm, ist deckungsgleich mit dem Diktum von Karl Marx: „…, jedem nach seinen Bedürfnissen“. Dieses Diktum hat aber auch den ersten Teil: „Jeder nach seinen Fähigkeiten,…“. Der real existierende Sozialismus ist an der Frage gescheitert, wie diese Forderungen zugleich zu erfüllen seien: wenn alle dasselbe erhalten, unabhängig von ihrem Beitrag, dann fehlen den Leistungsfähigen die nötigen Anreize. Es ist jetzt fast genau vierzig Jahre her, dass ich meine erste volkswirtschaftliche Vorlesung hörte, aber wie die beiden Teile des Marx’schen Diktums zu vereinen seien, weiss ich immer noch nicht. 

In der Laborsituation der Wüste Sinai aber funktioniert es! Nichts muss produziert werden — Gott gibt, und alle können nach ihren Bedürfnissen versorgt werden. Manna ist zudem nicht lagerfähig, wer sich also mehr nimmt, als er essen kann, muß zusehen, wie das Ersparte in der Glut des Mittags verdarb. Mose hätte die Verteilungsregel gar nicht verkünden müssen, eine andere ist kaum denkbar — oder vielleicht doch? Jedem nach seiner Kraft und der Länge seines Schwerts, wäre schließlich eine denkbare Alternative. Aber nur für schnelle Esser…

Jedem nach seinen Bedürfnissen — Paulus wirbt dafür, im Verhältnis der christlichen Gemeinschaften ebenso zu verfahren, Und er sieht ausserdem den großen geistlichen Strom, der von Jerusalem aus zu den Heiden gekommen ist, siehe auch den BdW 28/2018. Die große Gabe ist also ausgleichende Gerechtigkeit in einem doppelten Sinne. 

In Kapitel 9 setzt er noch anders an: Gott hat einen fröhlichen Geber lieb, und das Gegebene kommt in verwandelter Gestalt an uns zurück.

Das Verhältnis des Apostels zu der von ihm gegründeten Gemeinde in Korinth war ausgesprochen gespannt, fast vergiftet. Der zweite Brief an die Korinther ist voll Polemik und Reaktion auf Polemik. Man sieht manchmal die zwei Hälften eines zerschnittenen Tischtuchs vor sich. Aber hier, in den Kapiteln 8 und 9, ist Paulus bei sich und seinem großen Projekt. Sein Argument ist ruhig, souverän und überzeugend.  

Ich wünsche uns eine gesegnete Woche, in der wir nach unseren Fähigkeiten geben und nach unseren Bedürfnissen erhalten,
Ulf von Kalckreuth

Bibelvers der Woche 03/2022

Und nun siehe, ich weiß, dass ihr mein Angesicht nicht mehr sehen werdet, alle die, bei welchen ich durchgekommen bin und gepredigt habe das Reich Gottes.
Apg 20,25

Hier ist ein Link für den Kontext des Verses, zur Lutherbibel 2017.

Abschied

Dies ist wieder ein Vers zu Paulus schicksalhafter letzter Reise, die ihn zunächst freiwillig nach Jerusalem führte und dann gefangen nach Rom. Hierzu hatten wir früher bereits Bibelverse der Woche: 18/2018, 30/2018, und 20/2019.

Entlang der Küste reiste Paulus vom griechischen Festland Richtung Syrien, teils zu Wasser, teils zu Lande. Auf dem Weg nahm er Abschied von den Ältesten der Gemeinde in Ephesos, wo er drei Jahre lang gelebt hatte. Wegen eines Aufruhrs, in dessen Mittelpunkt er selbst stand, hatte er nach Norden ausweichen müssen und war dort einige Monate geblieben. Auf der langen Durchreise nach Süden nun kam er nach Milet, etwa 50 km entfernt von Ephesos. Er verzichtete auf den zeitraubenden und gefährlichen Umweg, den die Reise nach Ephesos für ihn bedeutet hätte und bat statt dessen die Ältesten, zu ihm nach Milet zu kommen. 

Warum Abschied? Er war sich sicher, dass er nicht zurückkehren würde. Paulus stand, wie man sagt, auf „verlorenem Posten“, seine Position war unhaltbar. Er selbst hatte sie unhaltbar gemacht. Seine Missionsarbeit war sehr erfolgreich, er hatte dem Christentum in den griechisch geprägten Städten eine große Zahl Anhänger werben können. Eine neue Religion war im Entstehen, sie war nicht länger mehr nur ein neuer Weg im Judentum. Gegen Ende von Paulus Wirken war der Vorgang vielleicht schon unaufhaltsam. Warum also stand er auf verlorenem Posten? 

In der Mission war er auf die Proselyten zugegangen — Heiden, die den Gott der Juden kannten und verehrten, aber wegen ihrer nichtjüdischen Abstammung keine vollen Mitglieder der jüdischen Gemeinden sein konnten. Ihnen und auch den Juden hatte er gesagt, dass mit Christus das Gesetz und seine Notwendigkeit überwunden sei. Ein Erfolgsgeheimnis, ja, aber schon für Judenchristen sehr schwierig. Für fromme Juden öffnete Paulus die Heilsgemeinschaft für Menschen, die nicht dazugehörten und diskreditierte gleichzeitig das Gesetz. Das war unerträglich; umso unerträglicher, je erfolgreicher die Bewegung wurde. Paulus, der Torahlehrer, der Pharisäer, verstand das gut.

Paulus war die Einheit des Christentums wichtig, er wollte nicht Spalter sein. Die Einheit konnte es nur mit den Brüdern in Jerusalem geben, der Urgemeinde, nicht gegen sie. Vor Jahren hatte er sich dort im Apostelkonzil weitgehend durchgesetzt — die vielen Bestimmungen der Torah sollten für Heidenchristen nicht gelten, bis auf einen kleinen Kern, siehe Apg 15, 20-29 und 21,25. Das hatte zur Folge, dass Judenchristen und Heidenchristen sehr unterschiedlich lebten, vergleichbar den Unterschieden zwischen heutigen Christen und messianischen Juden in Israel. 

Paulus wollte nach Jerusalem gehen, um persönlich eine große Gabe zu bringen, die die heidenchristlichen Gemeinden für die „Heiligen“ der Urgemeinde gesammelt hatten, als Zeichen der Zusammengehörigkeit in der Verschiedenheit. In Jerusalem erwarteten ihn Gegner unter den Judenchristen und bittere Feinde unter den religiösen Juden. Und es gab die Militärmacht der Römer, die jederzeit Gewalt anzuwenden bereit war, um die Pax Romana aufrecht zu halten. Diese Kombination hatte einst seinem Meister das Leben gekostet. Schon auf dem Weg bis Milet hatte es gewaltsame Zusammenstöße gegeben, und das weitere Geschehen zeigt, dass die Maschine noch genauso funktionierte wie 25 Jahre zuvor, alle Rädchen griffen perfekt ineinander. Aber Paulus musste hinein — es zu verweigern, hätte geheissen, kein Zeugnis abzulegen und seinem Christus nicht zu folgen. Er hätte sich irgendwo in der griechischen Welt verstecken müssen., um sich zu retten. Schwer vorstellbar bei Paulus. 

Paulus sah also in Umrissen, was ihm bevorstand. Es war abgemacht und ausweglos, er wusste, was er tat. Und er war traurig, seine Gemeinde in eine ungewisse Zukunft zu entlassen: 

So habt nun acht auf euch selbst und auf die ganze Herde, in der euch der Heilige Geist eingesetzt hat zu Bischöfen, zu weiden die Gemeinde Gottes, die er durch sein eigenes Blut erworben hat. Denn das weiß ich, dass nach meinem Abschied reißende Wölfe zu euch kommen, die die Herde nicht verschonen werden. Auch aus eurer Mitte werden Männer aufstehen, die Verkehrtes reden, um die Jünger an sich zu ziehen. 
Apg 20,28-30 

Den Ältesten ging es ebenso, sie waren (V 38) „am allermeisten betrübt durch das Wort, das er gesagt hatte, sie würden sein Angesicht nicht mehr sehen“.

Eine eigentümliche Szene, dieser Abschied, eine extreme Situation. Aber wir selbst erleben ähnliches, wenn wir uns bei Menschen verabschieden, die wir nicht mehr sehen werden. Und entspricht das Bild nicht auch unserem Wissen um die Endlichkeit unserer Existenz, ein Wissen, das umso konkreter und präziser wird, je älter wir werden? Für Paulus verband sich das alles mit einem selbstgewählten Ziel, das ihm mit vielen Bildern und der Erfahrung langer Jahre deutlich vor Augen stand, und das ihn mit seinem Herrn verband, den er lebend nie gesehen hatte: Jerusalem.

Ich wünsche uns eine gesegnete Woche auf unserer eigenen Reise nach Jerusalem,
Ulf von Kalckreuth

Jerusalem, Altstadt, 2017, Ulf von Kalckreuth

Bibelvers der Woche 02/2022

…samt den Schwellen, den engen Fenstern und den drei Umgängen ringsumher; und es war Tafelwerk allenthalben herum.
Hes 41,16

Hier ist ein Link für den Kontext des Verses, zur Lutherbibel 2017.

Unverständliches verstehen

Hesekiel beschreibt etwas, das niemand als er selbst je gesehen hat: den Neuen Tempel, wie er im Reich Gottes stehen wird. Hesekiel beschreibt dieses Reich Gottes vom Tempel ausgehend. Er wird von einem Boten Gottes durch den Tempel geführt, der Bote nimmt vor seinen Augen überall Maß, damit Hesekiel sich diese Maße notieren kann. Und es scheint, als würde Hesekiel dabei so konkret wie nur immer möglich. 

Wenn der gezogene Vers ein Fragment ist, stelle ich ihn auch im Zusammenhang ein, meist mit der Lutherübersetzung 2017, die leichter verständlich ist als die alte Übersetzung von 1912. Wie sie sich mit dem Link oben selbst überzeugen können, unterscheidet sich i vorliegenden Fall die neue Übersetzung erheblich von der alten. In solchen Fällen greife ich als erstes zu der für das Alte Testament zuverlässigen und texttreuen katholischen Einheitsübersetzung, hier ein Link. Zu meiner Überraschung ist dort die Wiedergabe der alten Lutherübersetzung ähnlicher als der neuen. Ich schaue auf den hebräischen Urtext — der Text strotzt vor bautechnischen Termini und ich kann ihn auch mit einer Interlinearübersetzung nicht wirklich lesen.  

Was ist hier geschehen? Die Einheitsübersetzung gibt Hinweise. Viele Verse in Kapitel 41 tragen Fußnoten, man sei an dieser Stelle in der Übersetzung der Septuaginta (der antiken griechischen Übersetzung der jüdischen Schriften) gefolgt, weil der überlieferte hebräische Text nicht verständlich sei. Die Worte „waren getäfelt…“ zu Beginn von Vers 16 in der Einheitsübersetzung und der neuen Lutherbibel sind zum Beispiel der Septuaginta entnommen. Für den Folgevers 17 schreibt die Einheitsübersetzung schlicht: „Text unklar.“

Es scheint, als habe der Überlieferungsvorgang beim dutzend-, vielleicht hundertfach wiederholten Abschreiben den Text von Kap 41 so weit zerstört, dass der Inhalt nicht mehr eindeutig bestimmt werden kann. Weil den Neuen Tempel niemand kennt, waren Fehler schwer zu sehen und zu korrigieren. Die großen Übersetzungen gehen unterschiedlich weit darin, den überlieferten hebräischen Text durch besser verständliche alte Übersetzungen zu stützen — wobei unklar ist, ob sich die antiken Übersetzer nicht schon demselben Problem ausgesetzt sahen. 

Ist das tragisch? Ja und nein. Hier wird der Tempel im Reich Gottes beschrieben, in der neuen Welt, auf die Juden wie Christen warten, und wir verstehen die Beschreibung nicht! Aber vielleicht tritt hier auch etwas sehr Grundsätzliches zutage. Wenn Sie Kapitel 40 und 41 lesen, dann werden Sie erstaunt sein über die Fülle von Details, die genauen Maße überall. Es wirkt auf den ersten Blick, als sei der Text ein Plan, und man könne den Neuen Tempel damit bauen. Aber der Eindruck täuscht. Wenn Sie versuchen, sich das Beschriebene vorzustellen, werden Sie feststellen, dass es nicht gelingt — zu oft setzt der Prophet ein Vorwissen des Lesers, das dieser nicht haben kann. Man muß wissen, wie der Tempel aussieht, um ihn sich vorstellen zu können…!

Hesekiel kennt den alten, den salomonischen Tempel genau: er war als junger Priester darin ausgebildet worden. Vielleicht bezieht er sich einfach auf die (beim Leser als bekannt vorausgesetzte) Grundstruktur des alten Tempels? Aber als er schrieb, war der Tempel schon viele Jahre lang zerstört. Am Anfang von Kapitel 40 datiert er seine Vision auf das vierzehnte Jahr nach der Eroberung Jerusalems durch die Babylonier. Und die Menschen, für die er schrieb, waren bereits im ersten Exil nach Babylon gelangt, also noch einmal zehn Jahre zuvor. Nur die Alten unter ihnen konnten den Tempel noch gesehen haben. Einen Bauplan müsste Hesekiel für eine solche Leserschaft anders schreiben. 

Man muss den Tempel des Reichs Gottes kennen, um ihn nach dem Text bauen zu können… Und mir will scheinen, als sei dies oft in der Bibel so. Ein hermeneutischer Zirkel: ohne Vorwissen um die Bedeutung erschließt sie sich nicht. Dieses Wissen mag aus der religiösen Tradition kommen, oder Gott selbst muß helfen. Sola scriptura, sagt Luther — aber die Heilige Schrift allein führt in ein Spiegelkabinett. Das ist eine schwierige Erkenntnis, auch und gerade mit Blick auf das Projekt dieses Blogs.

Gott selbst könnte den Tempel bauen, Hesekiels Text sagt nichts darüber, wie er entsteht. Man kann es aber auch so lesen: es kommt eine Zeit, in der Menschen wissen, wie der neue Tempel zu bauen ist. Für einen Propheten eigentlich keine ungewöhnliche Vorstellung. Hesekiels Vision wäre dann ein Vorgriff, und würde helfen, den Plan zu erkennen, wenn er ausgeführt werden kann. 

Vielleicht also das: Wir brauchen Vertrauen in unsere Fähigkeit, das Entscheidende zu sehen, das Entscheidende zu tun, wenn die Zeit dafür reif ist. Christen erkennen darin den Heiligen Geist.

Ich will Ihnen zum Ende die Übersetzung von Rosenzweig und Buber anbieten. Sie ist sehr wörtlich und gibt den zerklüfteten Charakter des hebräischen Texts ungeschminkt wieder. Auch sie interpretiert natürlich, so sind etwa alle Satzzeichen Hinzufügungen, es gibt sie im hebräischen Quelltext nicht. Lesen Sie und verzichten Sie für diesmal auf ein genaues Verständnis. Vielleicht können Sie durch die Worte hindurch doch einen kleinen Blick in das Innere der Halle des Neuen Tempels werfen: 

15Und er maß die Länge des Gebäudes vor dem Abgetrennten, das an seiner Hinterseite ist, und seine Altane hüben und drüben: hundert Ellen. Und die Halle, und das Innere, und die Flursäle des Hofs, 16die Schwellen und die abgeblendeten Fenster und die Altane rings an den dreien, gegenüber der Schwelle Holzgetäfel rings ringsum, und der Boden, und bis zu den Fenstern [die Fenster aber gedeckt], 17bis über dem Einlaß und bis ins innere Haus und nach außen, und an der Wand überall, rings ringsum, im Innern und im Äußern, nach Maßen, 18da wars gemacht: Cheruben und Palmen – je eine Palme zwischen Cherub und Cherub, und der Cherub hat der Antlitze zwei, 19ein Menschenantlitz nach der Palme hüben und ein Löwenantlitz nach der Palme drüben – , gemacht an all dem Haus rings ringsum, 20vom Boden bis über dem Einlaß sind die Cheruben und die Palmen gemacht an der Wand. 
Hes 41,15-20

Die Reihe von Palmen und zwiegesichtigen Cheruben ringsum sehe ich jedenfalls klar vor mir. Vielleicht weil ich ähnliches kenne: das babylonische Ischtar-Tor im Berliner Pergamon-Museum. Und ich wünsche uns eine gesegnete Woche, mit Einsicht zur rechten Zeit, am rechten Ort…
Ulf von Kalckreuth