Bibelvers der Woche 35/2021

Und der HErr sprach zu Mose: Fürchte dich nicht vor ihm; denn ich habe ihn in deine Hand gegeben mit Land und Leuten, und du sollst mit ihm tun, wie du mit Sihon, dem König der Amoriter, getan hast, der zu Hesbon wohnte.
Num 21,34

Hier ist ein Link für den Kontext des Verses, zur Lutherbibel 2017.

Fürchte dich nicht!

Die Wüstenwanderung ist zu Ende. Fast vierzig Jahre lang ist das erwählte Volk durch den Negev gezogen, in einer großen Kreisbewegung um das Seïr-Gebirge. Nun macht es, noch unter Mose, einen Ausbruch nach Osten, um dann auf der transjordanischen Seite nach Norden zu ziehen.  

Die Landnahme beginnt. Die Israeliten wollen das Land von Sihon durchqueren, dem König eines Amoriterreichs. Sie versprechen, nur durchzuziehen und auf der Königsstraße zu bleiben und für das Wasser zu zahlen, dass sie nutzen. Einige Zeit vorher waren sie mit demselben Anliegen bei den Edomitern gescheitert, diese hatten den Durchzug verweigert. Auch Sihon weigert sich und zieht den Israeliten entgegen. Mose greift an und Sihon wird furchtbar geschlagen. Die Israeliten nehmen sein Land ein und ziehen weiter Richtung Norden nach Baschan, einem anderen Amoriterreich östlich des Jordan. Auch dessen König, Og genannt, stellt sich ihnen entgegen. 

Die Heere stehen sich gegenüber. Das der zwölf Stämme und das Heer König Ogs, letzteres kleiner wohl, aber vielleicht besser geordnet und bewaffnet. An dieser Stelle steht der Bibelvers: Mose wird den Kampf gewinnen, sagt der Herr, und er soll das Land Baschan einnehmen, gerade so, wie er es mit dem Land König Sihons in Heschbon getan hat. Und so geschieht es. Aus dem Land der beiden Amoriterreiche erhalten die Stämme Ruben und Gad sowie der halbe Stamm Manasse ihr Erbteil — noch vor der Überquerung des Jordan bei Jericho.

Auch das Deuteronomium berichtet von den Geschehnissen. Dtn 2 und 3 sind zugespitzter als Num 21. Man erfährt, dass König Og einer der letzten der vorzeitlichen Riesen war, und man liest auch, dass die Israeliten an allen Bewohnern beider Königreiche den Gottesbann vollstreckten: Männern, Frauen und Kindern.

Die Länder Sihons und Ogs waren organisierte Reiche mit festen Städten, hier ist ein Link. Eine Eroberung „im Vorbeigehen“, unter Auslöschung der gesamten Bevölkerung gar, ist schwer vorstellbar. Ich möchte aber auf etwas anderes aufmerksam machen: den erstaunliche Kontrast zum Beginn der Wüstenwanderung. Die Ägypter hatten ein Volk von Bausklaven in die Wüste getrieben und mit ihrer Armee verfolgt, gerade so wie es die Deutschen mit den Hereros taten. Nur ein Wunder konnte das wehr- und hilflose Volk retten. In existenzieller Gefahr rief Mose den Israeliten zu: 

Fürchtet Euch nicht. Steht fest und seht zu, was für ein Heil der Herr heute an euch tun wird. Denn wie ihr die Ägypter heute seht, werdet ihr sie niemals wieder sehen. Der Herr wird für euch streiten, und ihr werdet stille sein (Gen 14,13f).

Fürchtet Euch nicht! Fast ebenso beginnt im gezogenen Bibelvers Gottes Wort an Moses, aber was für ein Unterschied im Kontext! Den Amoritern hilft kein Wunder. Etwas Großes, etwas Grundsätzliches ist geschehen während des jahrzehntelangen Zugs durch die Wüste. Unter der Führung eines Mannes und seines Gottes ist aus einem Volk von Sklaven ein Heer kampferprobter Eroberer geworden. Die Landnahme hat begonnen. Das Buch Josua berichtet, mit welch furchtbarer Effizienz sie sich weiter vollzieht. Vieles kann man darin sehen. Auch den Segen und die Treue des Herrn und die Erfüllung eines Versprechens. Keine Frage, der Text verlangt diese Lesart. Mir fällt sie schwer.

Ich wünsche uns allen den Frieden Gottes, in dieser Woche und immer,
Ulf von Kalckreuth

Nachtrag, 28. August:
Vielleicht muß ich nicht immer auf den ganz großen Zusammenhang schauen. Ich bin ja kein Theologe. Man kann den Vers auch einfach als Ermutigung in einer bevorstehenden Auseinandersetzung lesen, nicht wahr? Wie es sich wohl anfühlt, im Auftrag Gottes unterwegs zu sein?

Bibelvers der Woche 34/2021

Es sprach aber einer aus dem Volk zu ihm: Meister, sage meinem Bruder, dass er mit mir das Erbe teile.
Lk 12,13

Hier ist ein Link für den Kontext des Verses, zur Lutherbibel 2017.

Wenn du nur an eines denken kannst…

If God had a name, what would it be?
And would you call it to his face, 
if you were faced with him?
In all his glory, what would you ask,
if you had just one question?

So beginnt ein Lied, das ich sehr mag, „One of us“ von Joan Osborne. Was wäre die Frage, die wir stellen würden? Sie beträfe sicherlich dasjenige, was uns am allerwichtigsten ist. In dieser kurzen Geschichte geschieht es. Jesus steht vor vielen Menschen und predigt. Ein Mann steht auf. Vor allen anderen bittet er Jesus, ihm gegen seinen Bruder zu helfen, mit dem er wegen des Erbes im Streit liegt (Lk 12, 13-15):

Es sprach aber einer aus dem Volk zu ihm: Meister, sage meinem Bruder, dass er mit mir das Erbe teile. Er aber sprach zu ihm: Mensch, wer hat mich zum Richter oder Schlichter über euch gesetzt? Und er sprach zu ihnen: Seht zu und hütet euch vor aller Habgier; denn niemand lebt davon, dass er viele Güter hat.

Es ist eine traurige Geschichte. Die Erbsache ist, was diesen Mann von Grund auf bewegt — die Sonne will nicht untergehen über der Bitternis, die diese Ungerechtigkeit in ihm nährt. Und jetzt steht der Messias vor ihm. Er kann diese Welt ändern — und tut es nicht! Macht ihm noch Vorwürfe, vor allen anderen. Ich kann mir vorstellen, mit welchem Gesicht der Mann zurück geht in sein ärmliches Haus. Aufgewachsen war er vielleicht in einem großen Haus, aber das enthält sein Bruder ihm nun vor. 

In meiner Bibel ist die Geschichte überschrieben mit „Warnung vor Habgier“. Das ist leicht gesagt. Wie soll der Mann denn da herausfinden? Gut möglich, dass er im Streit mit seinem Bruder gar „recht“ hat, das macht es noch schwieriger.

Denn die Dinge heilen nicht, sie werden nicht von selbst gut. Man muß sie verlassen, hinter sich lassen können. Sonst läuft man an seinem Messias vorbei. Du sollst nicht begehren… das ist eines der zehn Gebote. Aber ich fürchte, es ist einigermaßen sinnlos, sich diesbezüglich gute Vorsätze zu machen. Man kann es, oder man kann es nicht. Es ist eine Gnade. Es gibt viele Alpträume, aus denen man ohne diese Gnade nicht herausfindet. 

Hier ist ein Link zu „One of us“

Ich wünsche uns allen eine gesegnete Woche, 
Ulf von Kalckreuth

Bibelvers der Woche 33/2021

…darum habe ich auch mich selbst nicht würdig geachtet, dass ich zu dir käme; sondern sprich ein Wort, so wird mein Knecht gesund.
Luk 7,7

Hier ist ein Link für den Kontext des Verses, zur Lutherbibel 2017.

Von ‚Abstandsregeln‘ und ihrer Überwindung

Der Hauptmann von Kapernaum, ein römischer Zenturio, bittet Jesus, seinen Knecht zu heilen, den er sehr liebt. Als Jesus in die Nähe des Hauses kommt, bittet er ihn ausserdem, nicht näherzutreten, sondern die Heilung aus der Entfernung zu bewirken, nur durch sein Wort.

Die Geschichte wird in Matthäus 8 und in Lukas 7 erzählt. Der parallele Vers aus Matthäus ist eine wichtige Formel in der katholischen Abendmahlsliturgie. Bei Lukas tritt das Motiv des Abstands viel deutlicher hervor. Hier bittet der Hauptmann nicht selbst, sondern lässt jüdische Freunde, Älteste in der Gemeinde, ein Wort für ihn einlegen. Die haben guten Grund, der Bitte Folge zu leisten: der Hauptmann hatte den Bau der Synagoge in Kapernaum finanziert. Jesus selbst hat dort schon gepredigt. Und als Jesus in die Nähe des Hauses kommt, spricht wiederum nicht der Hauptmann selbst ihn an. Er schickt vielmehr Freunde, die Jesus bitten, die Heilung aus der Ferne zu bewirken. Diesen Inhalt trägt unser Vers.

Der Hauptmann ist Zenturio, Chef einer Garnison der verhassten römischen Besatzungsmacht. Ihm sind selbst Beschränkungen im Umgang mit der einheimischen Bevölkerung auferlegt — wie in jeder Besatzungssituation gab es in der römischen Armee Fraternisierungsverbote. Aber das Problem ist wechselseitig: Juden durften nur sehr eingeschränkt Umgang mit Menschen haben, die nicht dem jüdischen Volk angehörten. Dabei galt der Umgang mit den römischen Besatzern in besonderer Weise als unmoralisch, schlimmer noch als der Kontakt mit Prostitutierten, Zöllnern und Dieben, die dem eigenen Volk angehörten.  

Für den Zenturio war dies zum Trauma geworden. Er „liebte“ die jüdische Gemeinde, schreibt Lukas. Der Zenturio war Proselyt, ein Mensch, der den Gott der Hebräer als seinen Gott anerkannte, ohne selbst Jude zu sein und ohne vollgültig der Gemeinde angehören zu können — und dies, obwohl er ihren Versammlungsort finanziert hatte. Er dürfte seine Erfahrungen mit religiösen Lehrern gemacht haben. Auch heute behandeln ultraorthodoxe Juden in Israel Andersgläubige gelegentlich mit ablehnender Indifferenz. Das kann verletzend sein, und diese Art Verletzung kann sich der Führer der Kommandantur am See Genezareth nicht leisten, auch aus politischen Gründen nicht. 

In seiner Verzweiflung versucht der Hauptmann die Quadratur des Kreises. Er bittet Jesus, an dessen Wirkmacht er glaubt, um Hilfe, und gleichzeitig um sicheren Abstand. Er selbst macht es vor: Älteste der jüdischen Gemeinde bitten für ihn, und dann Freunde. Jesus soll den Knecht aus der Entfernung heilen!

Sonst heilt Jesus mit körperlichem Kontakt. An dieser Stelle könnte die Handlung aus mehreren Gründen kippen. Der Hauptmann geht sehr weit, indem er Jesus sagt, wie dieser die erbetene Hilfe zu leisten hat. Ausserdem hat Jesus selbst sich um ‚Abstandsregeln‘ nie gekümmert und durch seinen unterschiedslosen Umgang mit Prostituierten, Zöllnern und anderen Sündern viel Anstoß erregt. Mit der Frage, warum denn der Zenturio es nicht ebenso halte, könnte er die Bitte mit einer klaren Botschaft abweisen. Stünde die Geschichte so im Evangelium, würde es nicht auffallen.

Aber frei wählt Jesus eine andere Interpretation. Er sieht die Not des Hauptmanns und erkennt, dass dieser das Unmögliche versucht. Jesus staunt, schreibt Lukas! Und er sagt laut: Ja, du hast recht, das Unmögliche ist möglich. Und genau darauf kommt es an. Dein erstaunlicher Glaube ist besser und tiefer als derjenige der rechtgläubigen Umstehenden. Und dann bewirkt er die Heilung, ganz genau so, wie der Hauptmann sie sich wünscht. 

Später, lange nach Jesu Tod, verbreitete seine Lehre sich besonders schnell und leicht unter den Proselyten der griechisch-römischen Welt. In gewisser Weise war der Hauptmann von Kapernaum der erste von vielen. Unten sind zwei Bilder, von den Resten des Fischerdorfs Kapernaum und vom See Genezareth. Es war Anfang April 2017. Bei diesem Licht fällt es leichter als anderswo, das Unmögliche für möglich zu halten! 

Ich wünsche uns allen eine gesegnete Woche, 
Ulf von Kalckreuth

Bibelvers der Woche 32/2021

Wenn uns der HErr Zebaoth nicht ein weniges ließe übrigbleiben, so wären wir wie Sodom und gleich wie Gomorra.
Jes 1,9

Hier ist ein Link für den Kontext des Verses, zur Lutherbibel 2017.

Das Pendel

Wir sind im ersten Kapitel des Jesajabuchs. Den Text bis Kapitel 6, wo Jesajas Berufung erzählt wird, kann man als Ouvertüre lesen, in der die wesentlichen Themen des Buchs vorgestellt werden. Auch diese Ouvertüre aber hat Ort und Zeit. In den Versen 7-9 kennzeichnet der Prophet die Situation seines Sprechens:  

Euer Land ist verwüstet, eure Städte sind mit Feuer verbrannt; Fremde verzehren eure Äcker vor euren Augen; alles ist verwüstet wie durch Fremde verheert. Übrig geblieben ist allein die Tochter Zion wie ein Häuslein im Weinberg, wie eine Nachthütte im Gurkenfeld, wie eine belagerte Stadt. Hätte uns der HERR Zebaoth nicht einen geringen Rest übrig gelassen, so wären wir wie Sodom und gleich wie Gomorra.

Was wird da beschrieben? Der Prophet ist in Jerusalem. Die Stadt ist eingeschlossen, das Umland ist von fremden Heeren besetzt, die anderen Städte des Reichs sind gefallen. Diese Situation gab es im Jahr 702 v. Chr., als der historische Jesaja schon alt war. Der Assyrer Sanherib führte einen Vernichtungskrieg gegen das unbotmäßige Juda. Dessen König Hiskia wollte sich aus der Oberhoheit des assyrischen Reichs befreien und hatte die Zahlung von Abgaben eingestellt. Nun heerte die gewaltige Armee des assyrischen Reichs über das Land, und es ging ums nackte Überleben.  

Es fehlt nur ein weniges, dann wären wir wie Sodom und Gomorrha: ganz vernichtet und ohne Rettung. Aber dies wenige macht den ganzen Unterschied. Beinahe rhythmisch wechselt Jesajas Buch hin und her zwischen Sünde und Katastrophe einerseits und Wiederherstellung und Verheissung des Heils andererseits. Das ist nicht zeitlich gemeint, Jesaja wechselt die Perspektiven. Aber käme es je zur gänzlichen Vernichtung, so bliebe dies Pendel stehen. Das ist eine sonderbare Vorstellung, wie der eigene Tod. In unserer Welt wird dies nicht geschehen, es wäre dann schon eine andere. 

Das wenige, was übrig bleibt, ist der Boden für Neubeginn, neue Orientierung und neues Wachstum. Die Ältesten unter uns haben das nach dem Krieg erlebt. Seither ist unser Land von großen Katastrophen verschont geblieben. Und die Struktur, die sich in den Jahren vor das Elend geschoben hat, ist eindrucksvoll, wenn auch an manchen Stellen brüchig…

Eine Freundin von mir ist Minimalistin. Sie versucht konsequent, sich und ihre Habe auf das nötigste zu beschränken. Das hat eine eigene Schönheit, die sofort vor Augen tritt, wenn man sich das Gegenteil vorstellt. Die Kraft des Minimalismus liegt in dem Raum und der Zeit, die mit Träumen oder neuen Realitäten gefüllt werden können. Unser Leben aber hat solche kargen Phasen auch, wo wir es nicht wollen: Krankheit, Arbeitslosigkeit, Tod des Partners, seelische Verwirrung. Quarantäne. Oder auch eine intensive Prüfungsphase. Wir erleben sie als Krisen, aber sie sind auch Räume für den nächsten Pendelschlag. 

Wie ging der Krieg aus? Die Historiker sprechen von einer schrecklichen Niederlage Hiskias, von der sich das Land nur schwer erholte, die Bibel hingegen in 2. Kö 19 von einem wunderbaren Sieg: Über Nacht starben 185.000 feindliche Soldaten, und die Belagerung Jerusalems musste abgebrochen werden. 

Vielleicht ist beides auf seine Weise richtig. Realität entsteht evolutorisch. Der nächste Schritt erfolgt stets auf Basis dessen, was übrig geblieben ist, und große Veränderungen brauchen Raum.

Beim Schreiben hatte ich zwei Menschen besonders vor Augen. Uns allen aber wünsche ich eine gesegnete Woche auf dem kosmischen Pendel, ob es nun gerade nach links schwingt oder nach rechts,
Ulf von Kalckreuth