Bibelvers der Woche 13/2021

So kehret nun wieder, ihr abtrünnigen Kinder, so will ich euch heilen von eurem Ungehorsam. Siehe wir kommen zu dir; denn du bist der HErr, unser Gott.
Jer 3,22

Hier ist ein Link für den Kontext des Verses, zur Lutherbibel 1984.

Ruf ohne Antwort

Früh im Buch Jeremia spricht Gott zu seinen beiden Völkern, Israel und Juda. Israel, das Nordreich mit Hauptstadt Samaria, war reichlich 100 Jahre zuvor von den Assyrern in seiner staatlichen Existenz ausgelöscht worden. Viele Menschen waren deportiert worden, umgekehrt hatten die Assyrer auf dem Gebiet des Nordreichs fremde Völker angesiedelt, deren Nachkommen nun neben den Nachkommen der Hebräer lebten. Juda, dem Südreich mit Hauptstadt Jerusalem, steht ein ähnliches Schicksal durch die Babylonier kurz bevor. Das ganze Buch handelt davon, die ersten Kapitel stehen im Zeichen einer Warnung.

Gott will Israel verzeihen und ruft sein Volk. Die Abschnitte enthalten eine vorweggenommene Vision von der Rückkehr aus dem Exil. Wo sie auch sind, sollen sie kommen und sich in Jerusalem versammeln und dort gemeinsam mit Juda Leuchtturm aller Völker sein. Wer eine frohe Botschaft sucht, kann sie hier finden — noch 100 Jahre nach dem Untergang gedenkt der Herr seines Bundes und seines Volks. 

Im ersten Satz ruft Gott sein Volk, es möge zurückkommen. Im zweiten Satz imaginiert er die Antwort: ein freudiges Ja, verbunden mit tiefer Reue. In der Übersetzung von 2017 lautet der Text im Zusammenhang der folgenden beiden Verse:

Kehrt zurück, ihr abtrünnigen Kinder, so will ich euch heilen von eurem Ungehorsam. »Siehe, wir kommen zu dir; denn du bist der Herr, unser Gott. Wahrlich, es ist ja nichts als Betrug mit den Hügeln und mit dem Lärm auf den Bergen. Wahrlich, es hat Israel keine andere Hilfe als am Herrn, unserm Gott. Der schändliche Baal hat gefressen, was unsere Väter erworben hatten, von unsrer Jugend an, ihre Schafe und Rinder, Söhne und Töchter. So müssen wir uns betten in unsere Schande, und unsre Schmach soll uns bedecken. Den wir haben gesündigt wider den Herrn, unsern Gott, wir und unsere Väter, von unsrer Jugend an bis auf den heutigen Tag, und haben nicht gehorcht der Stimme des Herrn, unseres Gottes.«

Die in der neuen Übersetzung hinzugefügten Anführungszeichen erhellen den Text und verdunkeln ihn zugleich. Sie trennen sauber zwei Ebenen: das Rufen Gottes und die imaginierte Antwort seines Volks. Eigentlich ist beides eines: Gott ruft, weil er diese Antwort erhofft. Wie ein Vater, der nach seinem Kind ruft. 

Der Vers ist tragisch. Die Antwort kommt nicht. Es kommt gar keine Antwort. Vielleicht ist auch niemand mehr da, der antworten könnte. Gott, der Herr der Welt, zeigt sich hier hilflos und verletzlich. Er, dessen Wort die Wirklichkeit schöpft, spricht, und was er sagt, kommt leer zurück. Ich muß an König Lear denken, wie er auf der Heide im Sturm seine Töchter ruft — und Jeremia ist Zeuge, als hilfloser Narr.

Der Herr geleite uns durch diese Karwoche!
Ulf von Kalckreuth

Bibelvers der Woche 12/2021

Siehe, ich sende euch wie Schafe mitten unter die Wölfe; darum seid klug wie die Schlangen und ohne Falsch wie die Tauben.
Mat 10,16

Hier ist ein Link für den Kontext des Verses, zur Lutherbibel 1984.

Von Schafen und Wölfen

Wir stellen uns Jesus gern inmitten seines Gefolges von Jüngern vor. Aber die Evangelien berichten von einer Zeit, in der die Jünger ohne ihren Meister unterwegs waren, selbständig predigten und Wunder wirkten, schon vor Ostern. Im Matthäusevangelium steht die Begebenheit etwas isoliert: die Jünger werden mit einer langen Rede ausgesandt, sind aber in den folgenden Kapiteln weiter bei Jesus,. Von ihrer Rückkehr und ihren Erlebnissen erfährt man nichts. Lukas berichtet von zwei Aussendungen, einmal der Zwölf (Lk 9), ein anderes Mal von 72 Jüngern (Lk 10). Bei der zweiten Aussendung fallen viele der Worte, die wir auch bei Matthäus finden. 

Was Jesus seinen Jüngern in der Aussendungsrede sagt, ist harte Kost — Passionskost. Sie werden Verfolgung erleiden, sagt er ihnen, von ihren nächsten Verwandten verraten, und alle Welt wird sie hassen. Wenn sie vor Gericht gestellt würden, sollten sie sich nicht sorgen, der Heilige Geist werde ihnen eingeben, was zu sagen sei. Wie ernst das gemeint war, konnten die Jünger nicht wissen. Ich muss an Stephanus denken, an seine große Rede und an sein Ende, siehe den BdW 3/2019

Unser Vers stellt eine schwer zu erfüllende Forderung. Sie wird in ein Paradoxon gekleidet, ein Bild mit vier Tieren. Jesu Jünger seien wie Schafe, die unter Wölfen leben müssten. Sie sollen daher listig sein wie Schlangen, aber doch wie Tauben, ganz ohne Falsch. Sie sollen sein, was sie sind, dabei aber ihre Fähigkeiten und ihr Wissen um menschliches Verhalten bestmöglich nutzen. 

Wenn ich darüber nachdenke, fällt mir ein Held meiner Jugend ein, ein bekennender Atheist übrigens: Michail Sergejewitsch Gorbatschow. Nach einer Bilderbuchkarriere in der KPdSU wurde er Generalsekretär des ZK. Nach zwei rasch verstorbenen Interimsführern wollte die Partei Reformen, aber in Maßen — alles sollte sich ändern, damit alles so bleiben könne, wie es war. Gorbatschows Auftrag war, den Repressionsapparat zu stabilisieren und zukunftsfähig zu machen. Er kannte diesen Apparat genau, konnte sich frei darin bewegen, konnte ihn steuern und für seine Ziel nutzen. Mental war er zu gewaltsamen Lösungen durchaus fähig.

Und — oder besser aber — auf fast magische Weise setzte er Jesu Forderung um. Seine Ziele legte er offen, ohne Falsch wie die Tauben, und wie eine Schlange gelang es ihm, das Wichtigste davon umzusetzen und so lange an der Macht und am Leben zu bleiben, bis der Prozess unumkehrbar war. Ein Wunder in Zeitlupe, vor laufenden Kameras. Das Risiko kannte er, auch sein persönliches. Sechs Jahre nach seinem Amtsantritt war die Gewaltherrschaft in Ost- und Mitteleuropa fast gewaltfrei beendet und die Länder konnten ihren Weg selbst wählen. „Fast“ — denn in Litauen und in Aserbaidschan setzte er die Armee tatsächlich ein und hunderte Menschen starben. 

Gorbatschow war nicht wirklich Schaf im Wolfspelz, eher wohl Leitwolf unter Wölfen, der verstanden hatte, dass Schafe besser leben. Ein Wolf mit einer großen Idee. Der Bezug auf ihn aber mag zeigen, wie schwer die Forderung Jesu ist. Fast eine Quadratur des Kreises: in der Welt leben und überleben mit dem Wissen um die Welt, doch aber dem treu, worum es wirklich geht. Und diese Forderung richtet sich an uns alle, jeden Tag neu. In unserem eigenen Leben und dem unserer Nächsten sind wir die Spitzenpolitiker. Die nötige Kraft aber muss der Herr verleihen.

In zwei Wochen ist Ostern. Der Herr geleite uns durch diese Passionszeit!
Ulf von Kalckreuth

Bibelvers der Woche 11/2021

Seine Augen sind wie eine Feuerflamme, und auf seinem Haupt viele Kronen; und er hatte einen Namen geschrieben, den niemand wusste denn er selbst.
Off 19,12

Hier ist ein Link für den Kontext des Verses, zur Lutherbibel 1984.

Namen

Die Offenbarung des Johannes beschreibt den Untergang der alten Welt und die Heraufkunft einer neuen. In Kapitel 19 hat der Endkampf den Höhepunkt erreicht. Die Hure Babylon, sie steht für das römische Weltreich, ist untergegangen. Nun tritt Christus selbst auf. Er führt seine Heiligen und Engel in den Kampf gegen „das Tier“, den Antichrist. Jener führt ein mächtiges Bündnis der Könige der Welt, er steht vielleicht für die Macht der Welt an sich. Vor ziemlich genau einem Jahr, in Woche 13 /2020, hatten wir einen Vers aus demselben Kapitel gezogen.

Vor der Entscheidungsschlacht steht die Vorstellung des Protagonisten. Wir hatten ihn kennengelernt als Heiler, Prediger, Lehrer, Prophet und leidender Gottesknecht. In diesem Abschnitt aber ist er Kämpfer, Führer, König — ganz Messias. Er richtet und kämpft mit Gerechtigkeit, so heißt es. Im Endkampf von Gut und Böse ist von Liebe, Mitleid, Erbarmen und Gnade keine Rede. Hier ist der ganze Abschnitt: 

Und ich sah den Himmel aufgetan; und siehe, ein weißes Pferd. Und der darauf saß, hieß: Treu und Wahrhaftig, und er richtet und kämpft mit Gerechtigkeit. Und seine Augen sind wie eine Feuerflamme, und auf seinem Haupt sind viele Kronen; und er trug einen Namen geschrieben, den niemand kannte als er selbst. Und er war angetan mit einem Gewand, das in Blut getaucht war, und sein Name ist: Das Wort Gottes. Und ihm folgten die Heere im Himmel auf weißen Pferden, angetan mit weißer, reiner Seide. Und aus seinem Munde ging ein scharfes Schwert, dass er damit die Völker schlage; und er wird sie regieren mit eisernem Stabe; und er tritt die Kelter, voll vom Wein des grimmigen Zornes Gottes, des Allmächtigen, und trägt einen Namen geschrieben auf seinem Gewand und auf seiner Hüfte: König aller Könige und Herr aller Herren. (Off 19, 11-16)

Dem Christus werden Namen beigegeben. Nach alter Tradition offenbaren Namen die Eigenschaften des Bezeichneten. Sie stehen für seine Identität, und machen ihn in gewisser Weise verfügbar. Die Nennung steht in Entsprechung, aber auch in gewissem Kontrast zu Jes 9,5: „Denn uns ist ein Kind geboren, ein Sohn ist uns gegeben, und die Herrschaft ist auf seiner Schulter; und er heißt Wunder-Rat, Gott-Held, Ewig-Vater, Friede-Fürst“. 

Die hier genannten Namen sind „Treu und Wahrhaftig“, „Wort Gottes“ und „König aller Könige, Herr aller Herren“. Im gezogenen Vers ist darüber hinaus von einem vierten Namen die Rede. Er wird nicht genannt, weil er nicht genannt werden kann, weil niemand ihn weiß denn er selbst. 

Gott hat viele Namen in der Bibel. Als er sich offenbaren, nahbar machen will, stellt er sich Mose mit seinem Eigennamen vor. Wir haben diesen Namen teilweise vergessen: Die Konsonanten kennen wir noch, nicht mehr die Vokale. Das setzt der Verfügbarkeit Grenzen. Mit der Gestalt des Christus ist es vergleichbar. Wir sind mit ihr vertraut — dafür stehen die bekannten Namen. Aber Wesentliches an ihr bleibt unverfügbar, bleibt ein Geheimnis.

Die Bilder des Abschnitts sind in mancherlei Hinsicht erschreckend. Aber ich denke an den Reiter auf dem weissen Pferd, dem die Heere des Himmels folgen, sie alle angetan mit weisser Seide, und ich empfinde in eigentümlicher Weise Trost dabei. Oh when the saints go marching in… Vielleicht kommt es am Ende auf das an, was wir nicht wissen.

Gottes Segen sei mit uns in dieser Woche und immer
Ulf von Kalckreuth

Bibelvers der Woche 10/2021

Und der HErr sandte einen Engel, der vertilgte alle Gewaltigen des Heeres und Fürsten und Obersten im Lager des Königs von Assyrien, dass er mit Schanden wieder in sein Land zog. Und da er in seines Gottes Haus ging, fällten ihn daselbst durchs Schwert, die von seinem eigenen Leib gekommen waren.
2.Ch 32,21

Hier ist ein Link für den Kontext des Verses, zur Lutherbibel 2017.

„Aber“-Glauben

Erinnern Sie sich noch an den Vers der letzten Woche? Der jetzt gezogene Vers führt uns in fast dieselbe Situation, aber die Ergebnisse sind spektakulär verschieden. 

Im Vers der vergangenen Woche erhält Hesekiel von Gott die Nachricht, dass die Belagerung des weit entfernten Jerusalems durch die Truppen des babylonischen Großkönigs Nebukadnezar begonnen habe. Das war der Anfang vom Ende des judäischen Reichs und König Zedekias, der versucht hatte, die Oberhoheit der Babylonier loszuwerden und die Großmächte der Zeit gegeneinander auszuspielen.

Und jetzt haben wir einen Vers, der die Errettung Jerusalems verkündet, aus derselben auswegslosen Lage. Allerdings 120 Jahre früher, im Jahr 701 vor Chr. Der judäische König ist Hiskia, der Belagerer Sanherib, Großkönig von Assyrien, und Jesaja ist der Prophet. Sanherib steht mit einem riesigen Heer vor Jerusalem, weil Hiskia ihm in den Rücken gefallen war. Die Assyrer hatten bereits eine Schneise der Verwüstung durch das Land gezogen, die Festungen waren gefallen, nur Jerusalems Mauern stehen noch. Und eigentlich ist alles vorbei. Doch dann geschieht ein veritables Wunder: Eine große Zahl assyrischer Soldaten sterben über Nacht. 2 Kön 18f gibt mehr Details. Es wird gesagt, dass 185.000 assyrische Soldaten umkommen. Sanherib bricht den Feldzug ab. Viele Jahre später wird er durch seine eigenen Söhne getötet.

Ich will nicht unerwähnt lassen, dass assyrische Quellen die Geschehnisse anders berichten und von einem Sieg mit großer Beute sprechen. Mir ist die Historizität hier weniger wichtig als die Aussage an sich, die bibelimmanente Wahrheit sozusagen. Wie in einem Laborexperiment zeigen uns die Bibelverse dieser und der vergangenen Woche zweimal dieselbe Situation, mit entgegengesetztem Ausgang. Während der babylonischen Belagerung erinnerten sich die Bewohner Jerusalems durchaus an die wundersame Errettung vor den Assyrern und zogen daraus Hoffnung, es könne auch diesmal gut gehen. Aber es ging nicht gut. 

Was will das heissen? Straft Gott oder rettet er? 

Bibelverse uneingeschränkt zufällig zu ziehen, stellt Erzählstränge nebeneinander, die sonst getrennt sind. Wenn man es aushält, kann das eine Stärke sein. Die Propheten, besonders die drei „großen Propheten“, Jesaja, Jeremia und Heskiel, verkünden ja beides — Strafe und Gnade, Vernichtung und Erlösung. Die Geschichtswerke der Bibel stützen dies Bild einerseits und versuchen es andererseits zu ordnen, zu erklären, welche Verfehlungen welcher Könige das Unheil heraufbeschwören und wie es sich immer wieder auch abwenden lässt. Wie etwa durch Hiskia übrigens, dem Reformkönig, der den Gottesdienst neu ordnet und auf dessen Gebet hin Gott die Zeiger der Weltuhr zurückdreht, siehe 2. Kön 20.

Beides also, Unheil und Erlösung. Auch im Neuen Testament ist beides präsent, am deutlichsten in der Apokalypse und bei Johannes. Gott rettet nicht ständig, sonst sähe die Welt anders aus. Aber er hat auch keinen unbedingten Vernichtungswillen. Selbst nach der Katastrophe von 586 v. Chr. fand sich das Judentum im fernen Exil geistlich neu, und 2000 Jahre nach einer weiteren Katastrophe, nach Diaspora und Shoa, gibt es einen lebendigen Staat Israel, welcher der Welt in manchem Respekt abnötigt. 

Regenfall und Sonne an der Saalburg, UvK 2021
Regenfall und Sonne an der Saalburg, UvK 2021

Unter Christen hat es sich eingebürgert, Unheil und Erlösung zeitlich und in der Realitätsebene zu ordnen — die Welt als Ganze geht dem Untergang entgegen, die Rettung erfolgt „nachher“, in der Transzendenz. Aber geht es hier nicht auch im Kern um die Bedingtheit des menschlichen Lebens zwischen Geburt und Tod, zwischen Wachstum und Katastrophe? Legt nicht immer eines den Keim des anderen, auch in den menschlichen Gemeinschaften? Gehören sie nicht zusammen wie Zwillinge und damit notwendigerweise zu Gott, wenn er Schöpfer der Welt und des Lebens ist? Muß nicht Gott Herr zugleich von Licht und Dunkel sein, wenn er Herr der Welt ist? 

Es kann also nicht genügen, in jeder Lebenslage auf Rettung zu vertrauen. Ein solches Vertrauen würde am Ende enttäuscht. Ich denke, es geht statt dessen darum, sich in beidem, Unheil und Erlösung, in Gott geborgen zu fühlen. Ein Freund von mir bezeichnet diese paradoxe Haltung als „Aber“-Glauben. In 2 Kor 4, 8-9 schreibt Paulus: Wir sind von allen Seiten bedrängt, aber wir ängstigen uns nicht. Uns ist bange, aber wir verzagen nicht. Wir leiden Verfolgung, aber wir werden nicht verlassen. Wir werden unterdrückt, aber wir kommen nicht um. 

Gottes Segen sei mit uns in dieser Woche, ob nun die Mauer fällt oder nicht!
Ulf von Kalckreuth