Bibelvers der Woche 49/2020

…und Abidan, der Sohn des Gideoni, über das Heer des Stammes der Kinder Benjamin.
Num 10,24

Hier ist ein Link für den Kontext des Verses, zur Lutherbibel 1984.

Auf dem Weg

Wir bewegen uns weiterhin in der Torah — in den letzten drei Wochen hatten wir nacheinander Verse aus den Büchern Genesis, Exodus und Leviticus. Nun also Numeri, und immer noch die Wüste.  Aus Numeri 10 hatten wir schon einmal gezogen; erinnern Sie sich an die schöne Stelle mit den zwei Trompeten in Woche 17/2019? Nun erleben wir die Trompeten in Aktion — es wird der Aufbruch vom Sinai beschrieben, der Beginn der langen, kreisförmigen Wanderung. 

Die Wolke, die für die Gegenwart Gottes steht, erhebt sich von der Stiftshütte — vor zwei Wochen erst hatten wir ihrem Bau beigewohnt. Die Hütte wird zerlegt und getragen. Für die Stiftshütte selbst sind andere Gruppen verantwortlich als für die schweren heiligen Geräte. Die Heerscharen der einzelnen Stämme brechen nacheinander auf, nach Stämmen und Heeresgruppen getrennt. Die jeweiligen Führer der Großverbände werden genannt — unser Vers bezeichnet den Aufbruch des Stammes Benjamin unter der Leitung von Abidan. Die Wolke indiziert einen neuen Ort, die Stiftshütte wird dort aufgebaut und die heiligen Geräte folgen. Die Wanderung des ganzen Volks wird angeführt von der Bundeslade.

Dies ist ähnlich wie beim Zug aus Ägypten hin zum Sinai, und doch ganz anders. Auf dem Weg aus Ägypten durch das Schilfmeer in die Wüste hatte die Wolke tags geführt und eine Feuersäule nachts. Immer noch sind die Israeliten in der Wüste und wandern. Aber als Ergebnis der Offenbarung gibt es nunmehr die Lade mit ihren Gesetzestafeln und die Stiftshütte mit dem Allerheiligsten und den Kultgegenständen, mit genauen Anweisungen für ihren Gebrauch. Eine neu gestiftete, geoffenbarte Religion — sie ist gleichzeitig Staats- und Zivilordnung — verbindet die Stämme. Als entlaufende Bausklaven waren sie zum Sinai gekommen, nun sind sie Nation, die sich auf eine Landnahme vorbereitet. Verband nach Verband bricht auf, in fester Ordnung, verlässt das Lager, zieht gemeinsam, lässt sich wieder nieder. 

Und so wird es bleiben während der nächsten vierzig Jahre. Die Wanderung, zunächst Übergang von einem Ort zum anderen, wird selbst Heimat. Fast alle, die wir hier aufbrechen sehen, werden auf der Wanderung ihr Leben beenden,. Erst die Kinder und Kindeskinder erreichen das versprochene Land. 

Das kann ein Bild für das Leben sein. Sie sind auf dem Weg. Die Orte, an denen sie sich aufhalten, sind vorläufig und letztlich unwichtig. Ihre eigentliche Realität tragen sie mit sich: Gott, das Gesetz und die Beziehungen untereinander. An „Social Distancing“ ist nicht zu denken — das Lagerleben ist eng, und in der Wüste ist die Sippe lebensnotwendig. 

Ein faszinierendes, sehr altes Bild. Und es ist so gar nicht das, was wir zu leben versuchen. Ist das gut für uns oder schlecht? Was soll unser Leben sein, Zustand oder Weg? Ein Zustand, als „So-sein“, ist seinem Wesen nach vergänglich. Wege können viel dauerhafter sein: die Römerstraßen und die antiken Handelswege werden oft heute noch genutzt. Der Begriff ‚Ewigkeit‘ ist für mich Chiffre eher für einen Weg als für einen Zustand.

Auf unserer Reise wünsche ich uns eine gesegnete Woche,
Ulf von Kalckreuth

Bibelvers der Woche 48/2020

Es ist euer großer Sabbat, dass ihr eure Leiber kasteiet. Am neunten Tage des Monats zu Abend sollt ihr diesen Sabbat halten, von Abend an bis wieder zu Abend.
Lev 23,32

Hier ist ein Link für den Kontext des Verses, zur Lutherbibel 2017.

Jom Kippur

Der Vers und sein Umfeld setzen das höchste der jüdischen Feiertage ein — Jom Kippur, den Versöhnungstag. Es ist eines der drei „Hohen Feiertage“, die im frühen Herbst dicht aufeinanderfolgen und zu denen außerdem Rosch ha-Schana, das jüdische Neujahrsfest und Sukkot, das Laubhüttenfest gehören. Haben wir den Vers also zur Unzeit gezogen? 

Der Versöhnungstag der Juden ist ein strenger Buß- und Fastentag, Höhepunkt von zehn Tagen, die der Reue und der Umkehr gewidmet sind. Es geht um Gottes Gericht und um Entsühnung. Man sagt, Gott öffne zu Beginn des Jahres drei Bücher: eines für die ganz schlechten Menschen, eines für die Heiligen und eines für diejenigen, die weder das eine noch das andere sind. Die Schicksale der ersten beiden Gruppen stehen von vornherein fest, über die letzte Gruppe, zu der wir alle wohl gehören, wird zu Jom Kippur entschieden. Das ist ein altes Bild, es findet sich ähnlich bei Daniel und fast ebenso in der Offenbarung des Johannes, 20,11f: 

Und ich sah einen großen, weißen Thron und den, der darauf saß; vor seinem Angesicht flohen die Erde und der Himmel, und es wurde keine Stätte für sie gefunden. Und ich sah die Toten, Groß und Klein, stehen vor dem Thron, und Bücher wurden aufgetan. Und ein andres Buch wurde aufgetan, welches ist das Buch des Lebens. Und die Toten wurden gerichtet nach dem, was in den Büchern geschrieben steht, nach ihren Werken

Ein Gebet, das „Unetaneh tokef“, wird zu Neujahr und an Jom Kippur gesprochen, darin heisst es: 

An Rosch ha-Schana wird es eingeschrieben, und an Jom Kippur wird es besiegelt – wie viele vergehen und wie viele geboren werden, wer leben und wer sterben wird, wer zu seiner Zeit und wer durch einen vorzeitigen Tod, wer durch Wasser und wer durch Feuer, wer durch Schwert und wer durch wildes Tier, wer durch Hunger und wer durch Durst, wer durch Erdbeben und wer durch Pest, wer durch Erwürgen und wer durch Steinigung stirbt, wer in Ruhe leben wird und wer herumirren muss, wer in Frieden leben wird und wer verfolgt wird, wer heiter sein kann und wer gequält wird, wer verarmt und wer reich wird, wer entwürdigt und wer erhöht wird. Aber Buße, Gebet und Rechtschaffenheit können die Schwere des Urteils abwenden.

Fällt Ihnen auf, wie sehr dies den Versen aus Kohelet gleicht, aus denen wir in Woche 44/2020 gezogen haben? Leonard Cohen hat das Gebet als Who by fire vertont. Jom Kippur ist ein Gedenken an das persönliche Ende und das Ende der Welt, wie wir sie kennen.

Ins Christentum hat Jom Kippur keinen Eingang gefunden. Oder doch? Das Lebensgefühl des Tags hat Ähnlichkeit mit Karfreitag. An diesem Tag geht für Christen eine Welt zu Ende, ohne dass die andere schon begonnen hätte. Unterer Totpunkt. Inhaltlich gibt es eine Entsprechung gerade in diesen Tagen. Vergangenen Mittwoch war Buß- und Bettag, und evangelische Christen feiern morgen Ewigkeitssonntag und Totensonntag. Der Totensonntag blickt zurück auf die Menschen, die von uns gegangen sind, und gleichzeitig, am selben Tag, blickt der Ewigkeitssonntag nach vorn. 

Also doch ein Vers für diese Woche. Zu Jom Kippur wünscht man sich: „Mögest du eingeschrieben und besiegelt sein im Buch des Lebens“. Das wünsche ich von Herzen uns allen in diesen Tagen!
Ulf von Kalckreuth

Bibelvers der Woche 47/2020

Bezaleel, der Sohn Uris, des Sohnes Hurs, vom Stamme Juda, machte alles, wie der HErr dem Mose geboten hatte,…
Ex 38,22

Hier ist ein Link für den Kontext des Verses, zur Lutherbibel 1984.

Eine Flaschenpost

Erinnern Sie sich noch an die Verse der Wochen 24, 25, 26 und 27 dieses Jahres, die alle auf den ersten Tempel Bezug nahmen, seinen Bau, seine Einweihung und seine Zerstörung? Die Abschnitte rund um den Vers dieser Woche lesen sich sehr ähnlich. Aber wir haben aus dem zweiten Buch Mose gezogen, der Schauplatz ist die Sinai-Wüste, ein unwirtlicher Ort, in dem das Volk Israel vierzig Jahre isoliert umherzog.

Und dort, mitten in der Wüste, entsteht etwas, das dem Tempel Salomos gleicht wie ein kleiner Bruder — allerdings, und das ist der springende Punkt, kann es abgebaut und seine Einzelteile auf Rindern und Maultieren transportiert werden. Die Rede ist von der Stiftshütte. Bezaleel ist der Meister, der alles möglich macht, wie ein Zwilling des großen Hiram von Tyros, des Tempelbaumeisters, der die gewaltigen Ressourcen, die Salomo ihm stellte, wie mit Zauberkraft in einen Tempel verwandelte. 

Ich glaube, wir sollen diesen Text nicht als sachliche Beschreibung lesen, so ist er nicht intendiert. Der Bau wäre zu groß, zu schwer und zu teuer für die Wanderer in der Wüste. In den Bau der Stiftshütte seien fast 30 Zentner Gold eingegangen, mehr als 100 Zentner Silber und über 70 Zentner Bronze, rechnet die Bibel vor. Die in die Wüste geflohenen hebräischen Bausklaven können über derartige Mengen Edelmetalls nicht verfügt haben. Das Gewicht allein des Edelmetalls im Bauwerk macht seinen Transport auf der Wanderung unmöglich. Wenige Seiten vorher, in Gen 33,7ff, wird die Stiftshütte denn auch als einfaches Zelt ausserhalb des Lagers beschrieben, in dem Mose sich mit Gott besprach, „wie ein Mann mit seinem Freund redet“. Das Bauwerk Bezaleels ist eine Allegorie. Aber wofür? 

Bezaleel baut etwas, dass zwar in jeder Hinsicht einem Tempel gleicht und dieselben Funktionen erfüllt, aber dezidiert kein Tempel ist. Es geht auch ohne Tempel, sagt uns der Vers, mindestens vorübergehend jedenfalls und in bestimmten Situationen. Die Stiftshütte war Heim der Bundeslade und der Gegenwart des Herrn während der Wüstenwanderung. Wo sie war, war der Herr, und sie zog mit dem Volk. Wichtig war also nicht der Ort, sondern der Bund mit dem Herrn und das Befolgen der Regeln dieses Bundes. Ein greifbares Zeichen für eine Vorstellung, die schwer fassbar war in einer Zeit, als die Macht von Göttern mit Orten und Territorien verbunden wurde. 

Die prachtvolle Stiftshütte Bezaleels, gebaut wie der Herr dem Mose geboten hatte und getragen vom ganzen Volk und nicht von einem König — sie ist eine Botschaft, wie eine Flaschenpost: Der Bund mit dem Herrn ist der Ort, wo ihr ihm begegnet. Bleibt dem Bund treu, und der Herr ist mit euch, wo ihr auch hingeht. 

So sei es für uns auch in dieser Woche! 
Ulf von Kalckreuth

Bibelvers der Woche 46/2020

…dass er viel Gut hatte an kleinem und großem Vieh und ein großes Gesinde. Darum beneideten ihn die Philister.
Gen 26,14

Hier ist ein Link für den Kontext des Verses, zur Lutherbibel 1984.

Vom Zuschütten und vom Wiederausgraben 

Hier zunächst die Ergänzung des Fragments: Und er [Isaak] wurde ein reicher Mann und nahm immer mehr zu, bis er sehr reich wurde, sodass er viel Gut hatte an kleinem und großem Vieh und ein großes Gesinde. Darum beneideten ihn die Philister.

Isaak, einer der Stammväter Israels, macht sich in Kanaan heimisch, das Land, in das sein Vater Abraham eingewandert war. Man sollte sich Abraham, Isaak und Jakob in diesen Erzählungen nicht (nur) als Einzelperson vorstellen: in den Vätergeschichten stehen viele Akteure für größere Gruppen, manchmal ganze Völker. Abraham, Isaak und Jakob sind Protagonisten einer Einwanderung, die zumeist friedlich verläuft, in einer manchmal kritischen, manchmal kooperativen Koexistenz mit dem Völkergemisch Kanaans. Das ist eine Alternative zur Erzählung von der Landnahme mit Feuer und Schwert, siehe den Vers der Woche 33/2019

Die Geschichte, die der Vers einleitet, führt uns mitten hinein. Der steil ansteigende Reichtum Isaaks führt bei der einheimischen Bevölkerung zu Widerstand und Neid. Ein embryonales Pogrom ist die Folge: die Philister schütten Isaaks Brunnen zu, die er braucht, um sein Vieh zu tränken, und König Abimelech zieht seine schützende Hand von ihm ab. Isaak und seine vielen Knechte müssen fortgehen, nach Gerar. Dort gräbt er die Brunnen seines Vaters Abraham wieder aus, die nach dessen Tod gleichfalls zugeschüttet worden waren. Und um die neuen, alten Brunnen gibt es sofort wieder Streit…!

Liest man diese Geschichte von Einwanderung, zunehmendem Reichtum, gewaltsamer Reaktion und erzwungenem Ausweichen im Deutschland der Gegenwart, dann stellen sich unweigerlich Assoziationen ein. Da ist ein uralter Mechanismus, der in vielen Konstellationen und in allen Zeiten funktioniert. Aber nicht immer auf dieselbe Weise: Isaaks Leben unter den Philistern bleibt auf prekäre Weise stabil. Philisterkönig Abimelech schützt ihn wieder, es kommt gar zu einem feierlich beeideten Bund, und Esau, sein erster Sohn, heiratet zwei Töchter aus hetitischen Familien. Das hat seinen Preis: Die Bibel berichtet, dass diese Ehen Anlass für bitteren Gram bei den Eltern Isaak und Rebekka sind. 

Die Vätergeschichten erzählen, wie Einwanderer auf sehr vielfältige Weise auf den Druck der Umwelt reagieren, mal angstvoll oder ausweichend, mal mit Integration, mal auch selbstbewusst und konfrontativ. Gott lässt sie nicht in großen Schlachten siegen, lässt keine Mauern einstürzen. Er hilft beim Überleben in den Gemeinheiten des Alltags und den Rückschlägen einer Existenz am Rand der Mehrheitsgesellschaft. Das Narrativ der Vätergeschichten hat sich in der Bibel nicht durchgesetzt. Der Rest der Thora berichtet von der Zeit mit Gott in der Wüste, einfach und rein, erhaben fast, und ohne Berührung mit den Einwohnern Kanaans. Die Väter und die komplizierte erste Zeit im Heiligen Land voller Kompromisse sind vergessen. Die Landnahme wird schließlich zu einem reinen Gewaltakt. 

In welcher der Großerzählungen können wir Gott klarer sehen? Wenn Menschen meine Brunnen verschütten, möge mich Gott an andere Brunnen erinnern und mir dann die Kraft geben, sie wieder auszugraben!

Gottes Segen sei mit uns in dieser Woche,
Ulf von Kalckreuth