Bibelvers der Woche 45/2020

Gott, du hast mich von Jugend auf gelehrt, und bis hierher verkündige ich deine Wunder.
Ps 71,17

Hier ist ein Link für den Kontext des Verses, zur Lutherbibel 2017.

Kinder, Kindeskinder und ehemalige Kinder

Psalm 71 betet ein Mensch, der alt geworden ist und sich des Bodens versichern will, auf dem er steht, vielleicht neu versichern muss. Der Betende sei für viele wie ein Zeichen, lesen wir. Er ist Tempelmusiker, und diese waren in der ältesten Zeit den Priestern gleichgestellt. Nun ist da die Angst zu fallen, in der zunehmenden Schwäche den Widersachern ein Opfer zu werden. Er will bauen, worauf er immer gebaut hat: auf Gott den Herrn, starker Held. 

Der Vers steht in inniger Beziehung zum folgenden, daher hier beide gemeinsam:

Gott, du hast mich von Jugend auf gelehrt,
und noch jetzt verkündige ich deine Wunder.
Auch im Alter, Gott, verlass mich nicht,
und wenn ich grau werde,
bis ich deine Macht verkündige Kindeskindern
und deine Kraft allen, die noch kommen sollen.

Der Psalmist gelobt Treue — er will nicht aufhören, Gottes Wunder zu verkündigen — und er bittet seinerseits um die Treue Gottes, damit er dies Werk noch bei den Kindeskindern fortsetzen kann. Das ist der Bundesgedanke, einfacher kann man ihn nicht ausdrücken. 

Da ist ein Lebenszyklus: Der Betende hat in seiner Jugend empfangen, Gott hat ihn gelehrt, und was er gelernt hat, gibt er nun weiter und will dies auch in Zukunft tun. Scheinbar besteht eine Asymmetrie. Er selbst wurde in seiner Jugend von Gott gelehrt, irgendwie, seine Kinder und Kindeskinder aber erhalten ihr Wissen vermittelt durch ihn, den Psalmisten. Das „irgendwie“ ist entscheidend: man kann sich vorstellen, dass auch das Wissen des Psalmisten durch Menschen vermittelt wurde. Aber von Gott mag es dennoch stammen — ist es denn zufällig, wem wir begegnen und wer Einfluß auf uns hat?

Die zehn Gebote stehen in einer gewissen Ordnung. Die ersten drei beziehen sich auf das Verhältnis zwischen Mensch und Gott, die anderen sieben auf das Verhältnis von Menschen untereinander. Das vierte Gebot — Du sollst Vater und Mutter ehren! — ist eine Art Bindeglied. Ein jüdischer Freund erklärte mir, warum. Wir beziehen unser Wissen über Gott und seine Gebote von den Eltern, und sie stehen daher zwischen uns und dem Schöpfer. Ausserdem, so würde ich ergänzen, sind die Eltern sehr unmittelbar Werkzeug der Schöpfung: Der Mensch ist zunächst einmal nach dem Bild der Eltern geschaffen. Biologisch, sprachlich, mental, sozial, materiell, spirituell. Dieser Umstand erlegt den Eltern große Verantwortung auf und Ökonomen wissen, dass er Quelle großer Ungleichheit, vielleicht auch Ungerechtigkeit sein kann.

Wenn das so ist, mag man sich fragen, warum es kein Gebot für die Eltern gibt, sich um ihre Kinder zu kümmern und ihnen Wissen von Gott und der Welt zu vermitteln. Eine solche Weisung könnte im vierten Gebot selbst angelegt sein: Wenn Gott von den Kindern fordert, die Eltern zu ehren, fordert er gleichzeitig von den Eltern, ihren Kindern festen Grund zu geben. Oder setzt Gott voraus, dass sie das tun, weil es in biblischer Zeit Selbstaufgabe bedeutet hätte, sich nicht um seine Kinder zu kümmern? Oder ehren wir Eltern und Gott gerade dadurch, dass wir den manchmal steinigen Weg mit den Kindern bereitwillig gehen? Der Dienst am Kind als Dienst an Gott? Dann gar als Ausprägung des ersten Gebots? In den beiden Versen oben kann ich das deutlich lesen.  

Der Psalmist sieht sich als Empfangender und Gebender zugleich. Und wenn wir richtig zuhören, können wir auch selbst von unseren Kindern lernen. Kennen Sie das Lied Teach your children well? Ich wünsche uns, unseren Eltern und unseren Kindern eine Woche in Gottes Segen,
Ulf von Kalckreuth

Bibelvers der Woche 44/2020

Stein zerstreuen und Steine sammeln, herzen und ferne sein von Herzen,…
Pred 3,5

Hier ist ein Link für den Kontext des Verses, zur Lutherbibel 2017.

Alles hat seine Zeit

Ein Vers, wie er aktueller nicht sein könnte. Kohelet, der Prediger, ist populär auch jenseits von Kirchengemeinden und Synagogen, vielleicht sogar in erster Linie dort, und seine Popularität konzentriert sich auf den Abschnitt im dritten Kapitel, aus dem wir gezogen haben. Hier ist Prediger 3,1-8; ich wähle die Übersetzung von Schlachter, die genauer ist als die von Luther: 

Alles hat seine bestimmte Stunde, und jedes Vorhaben unter dem Himmel hat seine Zeit:
Geborenwerden hat seine Zeit, und Sterben hat seine Zeit; 
Pflanzen hat seine Zeit, und das Gepflanzte ausreißen hat seine Zeit;
Töten hat seine Zeit, und Heilen hat seine Zeit; 
Zerstören hat seine Zeit, und Bauen hat seine Zeit;
Weinen hat seine Zeit, und Lachen hat seine Zeit; 
Klagen hat seine Zeit, und Tanzen hat seine Zeit;
Steineschleudern hat seine Zeit, und Steinesammeln hat seine Zeit; 
Umarmen hat seine Zeit, und sich der Umarmung enthalten hat auch seine Zeit;
Suchen hat seine Zeit, und Verlieren hat seine Zeit; 
Aufbewahren hat seine Zeit, und Wegwerfen hat seine Zeit;
Zerreißen hat seine Zeit, und Flicken hat seine Zeit; 
Schweigen hat seine Zeit, und Reden hat seine Zeit;
Lieben hat seine Zeit, und Hassen hat seine Zeit; 
Krieg hat seine Zeit, und Frieden hat seine Zeit.

Schauen Sie sich unseren Vers 5 an. Ganz wörtlich übersetzt lautet er: Zeit, Steine zu werfen und Zeit, Steine zu sammeln. Zeit, zu umarmen und Zeit, der Umarmung fernzubleiben. In der Tat!

Die Verse von Kohelet 3 bringen in vielen Menschen eine Saite zum Schwingen. Ich habe Ihnen einige Links zusammengestellt. Sehr bekannt ist die wörtliche Vertonung des Texts durch die Byrds, in Turn, turn, turn. Auch von den Puhdies aus der DDR gibt es ein Lied mit Worten aus Kohelet 3, das mich sehr anspricht: Wenn ein Mensch lebt. U2 haben Anfang der neunziger Jahre gemeinsam mit Luciano Pavarotti ein Video über eine Schönheitskönigin im eingeschlossenen Sarajewo geschaffen, mit Worten aus Kohelet 3, Miss Sarajewo. Statt den Triumph ihres Sieges auszukosten, entrollt sie vor laufenden Kameras ein Banner mit den Worten „Don’t let them kill us all“. Kohelet 3 steht als Name für ein spannendes Trio von Instrumentalisten zwischen Klezmer und Jazz… Und der Text von „Dust in the Wind“ von Kansas ist zwar aus Kapitel 1, aber schööön — Kuschelrock aus den Siebzigern.

Der Philosoph wollte aber durchaus keinen Kuschelrock vertexten, er hat eine Aussage. Im Orient glaubte man, dass die Dinge „ihre Zeit“, „ihre Stunde“ haben. Ob ein Vorhaben in Liebe, Krieg oder Wettkampf gelingt, hängt davon ab, ob die Umstände günstig sind. Das Zusammentreffen von Umständen im Bedingungskranz einer Entwicklung nannte man „Konjunktur“. Allgemein wurde geglaubt, dass es möglich sei, die Konjunktur zu enträtseln, etwa durch Beobachtung der Sterne oder Lesen aus den Eingeweiden von Opfertieren. Das Schicksal der Menschen lief synchron mit den Ereignissen in der Natur, und wer das eine zu lesen verstand, wusste auch das andere. 

Der Prediger hält das für Unfug — Haschen nach Wind. Die Konjunktur der Lebensdinge gibt es zwar, alles hat seine Zeit, ebenso wie sein Gegenteil, aber sie liegt beim Schöpfer verborgen, und niemand versteht’s, weil Gott sich nicht äußert. Der Philosoph rät dazu, sich nicht zu verkämpfen, denn letztlich sei das Streben aussichtslos oder nur durch Zufall erfolgreich. Statt dessen solle man das Leben zu genießen, und zwar hier und jetzt, in der Jugend. Das Alter beschreibt Kohelet als Geisterbahnfahrt in ein amorphes Totenreich. Wirklich kein Kuschelrock.

In den Worten Kohelets gibt es aber auch eine Mikroperspektive. Er zählt Gegensatzpaare auf. Stets hat beides seinen Platz im Leben, und manches ist nicht ohne sein Gegenteil denkbar. Eine Dynamik aus gegenseitiger Bedingtheit wird spürbar, aus Lieben und Hassen, Geborenwerden und Sterben. Alles trägt als Keim sein Gegenteil in sich und bringt ihn zum Wachsen, so verkehren die Dinge sich in ihr Gegenteil und wieder zurück. Wenn wir wieder in den Lockdown abtauchen müssen, hat dies durchaus mit zu großer körperlicher Nähe zu tun. Und wenn wir der Umarmung fernbleiben, ist vielleicht bald wieder mehr solcher Nähe möglich…. Fast möchte man mit Marx und Hegel meinen, dass es genügen könnte, diese Dynamik zu verstehen, um der Konjunktur der Dinge am Ende doch näher zu kommen.

Kohelet, der Prediger, spricht nicht viel von Gott. Was er sagt, ist indirekt. Gott ist der große Verursacher, der sich nicht in die Karten blicken lässt und mit allem auch sein Gegenteil enthält. Dunkel und abgründig. Das müssen wir aushalten. 

Ja, es ist dies eine Zeit, der Umarmung fernzubleiben, und eine Zeit Steine zu sammeln. Aber die Zeit für Nähe gibt es auch, und in beiden Zeiten können wir mit Gottes Hilfe glücklich sein. Ich wünsche uns eine gesegnete Woche, 
Ulf von Kalckreuth

Bibelvers der Woche 43/2020

Dies sind die Könige des Landes, die Josua schlug und die Kinder Israel, diesseit des Jordans gegen Abend, von Baal-Gad an auf der Ebene beim Berge Libanon bis an das kahle Gebirge, das aufsteigt gen Seir (und Josua gab das Land den Stämmen Israels einzunehmen, einem jeglichen sein Teil,…
Jos 12,7

Hier ist ein Link für den Kontext des Verses, zur Lutherbibel 1984.

Einunddreißig Könige

Das ist ein sehr langer Vers, und der Satz ist noch nicht einmal vollständig. Er erstreckt er sich über fast den ganzen Rest des zwölften Kapitels. Zwei Dinge laufen hier zusammen. Zum einen leitet der Vers eine Art Lebensbilanz Josuas ein: es folgt nämlich eine Liste von nicht weniger als einunddreißig Königen, die Josua im Rahmen der Landnahme für das Volk Israel besiegt hat, beginnend mit dem Kampf um Jericho. Die Liste ist eine Art Inhaltsverzeichnis für das Buch Josua bis Kap. 12. Zum anderen wird im Vers vorweggenommen, was im 13. Kapitel folgt: Josua verteilt nämlich das gewonnene Land an die Stämme der Israeliten. 

Die Bilanz ist beindruckend. Einunddreißig Könige!  Ich habe vor kurzem einen Spiritual wiedergefunden, den ich als Kind im Chor gesungen habe: Little David, play on yo‘ harp — hier ist ein Link zur Version von Kenneth Spencer. Die zweite Strophe lautet:

Oh Josua was the son of Nun,
He never would stop till his work was done!

Aber eigentlich stimmt das gar nicht. Am Ende der Eroberungen ist die Arbeit nicht getan. Kap. 13 beginnt damit, dass Gott aufzählt, was noch alles einzunehmen bleibt; die Liste ist ebenso lang wie die Liste der besiegten Könige. Nun sei aber Josua alt und hochbetagt, und er solle daher das Land verteilen. Das tut Josua: er verteilt Land, das den Israeliten in weiten Teilen gar nicht gehört. 

John Steinbeck erzählt in „Of Mice and Men“ die Geschichte zweier sehr unterschiedlicher Männer, die miteinander als Wanderarbeiter umherziehen, weil sie einen großen gemeinsamen Traum haben: einst sich Land mit Haus, Kühen, Schweinen, Hühnern und Kaninchen zu kaufen und „to live off the fat of the land“. Der Hof ist ständig gegenwärtig. Er hält sie zusammen und sichert ihr seelisches Überleben, auch im tragischen Ende noch, als ein Freund den anderen erschießt.

Die Landverteilung an die Stämme ist Angelpunkt im Alten Testament. Mit der Zuweisung des Raums schafft sie Identität. Auf dem Weg durch die Wüste war die Landverteilung ein Versprechen, um das herum das Volk sich scharte. So blieb es auch nachher lange, bis zur Errichtung des Großreichs durch David und Salomo — für diese Wasserscheide der biblischen Geschichte siehe den BdW 02/2019. Die Nachfolgestaaten aber waren bald bedroht und in ihrer Existenz gefährdet und nacheinander wurden sie ausgelöscht. Da war das versprochene Land zum Bezugspunkt in der Vergangenheit geworden, der aber wiederum Identität für die Zukunft stiften sollte. Die Verfassung Hesekiels für das neue Jerusalem, den künftigen Gottesstaat unter der Führung des Messias, enthält eine neue Verteilung des Lands an die Stämme. So ist das Gelobte Land für die Juden bald Zukunft, bald Vergangenheit und wieder Zukunft, dabei aber immer höchst real, ein wenig wie der Gottessohn für die Christen. 

Was ist unser Bild für das Leben, unser Auftrag vielleicht? Und wohin sind wir gelangt? Am Ende von Josuas Leben stößt in diesem Vers das, was ist, gegen das, was sein soll. Einunddreißig Könige, und es reicht nicht, könnte man sagen. Welchen Sinn haben die Siege, wenn das Land nicht verteilt werden kann? Gott aber sagt: Doch! Es ist gut! Verteile alles!

So endet ein gesegnetes Leben. Und uns allen wünsche ich schon einmal eine gesegnete Woche, 
Ulf von Kalckreuth

Bibelvers der Woche 42/2020

Alsdann werdet ihr an euer böses Wesen gedenken und an euer Tun, das nicht gut war, und wird euch eure Sünde und Abgötterei gereuen.
Hes 36,31

Hier ist ein Link für den Kontext des Verses, zur Lutherbibel 1984.

Wüste bei Eilat

Und die Wüste wird blühen

In eigentümlicher Weise spiegelt unser Vers die Worte von Paulus über den Geist Gottes und das Gesetz im Vers der vorletzten Woche 40/2020. Hesekiel wurde von den Babyloniern verschleppt zu einer Zeit, als es das judäische Reich noch gab, an den Fluß Kebar in Mesopotamien. Er verfolgte den Untergang des Reichs und seiner Hauptstadt Jerusalem aus großer Entfernung, anders als Jeremia, der zur gleichen Zeit auf die Innenperspektive festgelegt war. Nach seiner Berufung zum Propheten war Hesekiel verstummt und musste sich mit seiner Umwelt mit Zeichen und Zeichenhandlungen auseinandersetzen — sprechen konnte er nur, wenn er Worte Gottes wiederzugeben hatte. 

Dann erreichte ihn die Nachricht vom Untergang der Stadt. Die Mauern gefallen, die Häuser verbrannt, der Tempel zerstört, die Einwohner der Willkür der Eroberer preisgegeben, soweit sie Feuer, Pest und Schwert überlebt hatten. Als geschehen war, vor dem er gewarnt hatte, löste seine Zunge sich und er konnte wieder frei sprechen. Wie einfach wäre es nun, zu verkünden, wie recht er doch hatte!

Statt dessen beginnt er über Dinge zu reden, die niemand sich jetzt vorstellen konnte: Eine Zeit, in der Israel und Judäa sich wieder sammeln aus vielen Völkern. Gottes große Gnade für sein Volk, das ihn so enttäuscht hat. Einen König wie David, von Gott gesandt. Ein neues Reich. Die Auferstehung der Toten. Ein Feldzug der Mächte des Bösen gegen die Kinder Gottes, der spektakulär scheitert (siehe Vers der Woche 35/2020). Und schließlich das neue Jerusalem, neue Grenzen, ein neuer Tempel. Wasser fließt daraus, es macht die Wüste fruchtbar — bis hin zum Toten Meer, das vor Fischen wimmelt. Immer eindrücklicher wird Hesekiels Beschreibung einer Welt, die niemand sieht außer ihm…

Aber wie ist das möglich? Hat nicht Hesekiel selbst unbarmherzig immer wieder auf die dramatischen Verfehlungen des Volks hingewiesen und die unabwendbare Vergeltung der verletzten und enttäuschten Gottheit? Das sichere Ende? Denen widersprochen, die sagten, Gott werde sein Volk nicht im Stich lassen und am Ende könne nichts schiefgehen?

Gott spricht zu Hesekiel. Der Fall sei tatsächlich hoffnungslos, das Volk entehre den heiligen Namen des Herrn, wohin es auch kommt. Und daher — um seines heiligen Namens willen, und nicht etwa, weil das Volk gut sei — werde Gott dem Volk einen neuen Geist geben und ein neues Herz. Er werde es von seiner Sünde erlösen und rein machen, ihm das Land zurückgeben, es zu einem Paradies machen. Und dann, so sagt der Vers, wird das Volk erkennen, wie sehr es gefehlt hat! 

Die übliche Reihenfolge ist hier auf den Kopf gestellt. Die Vergebung erfolgt nicht aus dem Bewusstsein und dem Bekenntnis der Schuld, sondern die Verzeihung ist geschenkt, gänzlich a priori, nicht nur ohne Verdienst, sondern sogar ohne Schuldbewusstsein seitens der Menschen. Das Bewusstsein der Schuld folgt der Verzeihung, zeitlich und sachlich.

Das ist überraschend. Hesekiel spricht sonst meist von Schuld und Sühne. Aber es ist auch realistisch. Wenn Konflikte zwischen Eltern und Kindern eskalieren, funktioniert der einfache Mechanismus aus Schuldbewusstsein und Bitte um Verzeihung nicht. Er setzt innere Distanz voraus, die dem Kind in der Hitze des Gefechts völlig fehlt. Die Eltern sind schuld! Wenn dann Verzeihung nicht vorauseilt, findet gar kein Austausch mehr statt und die Bitte um Verzeihung wäre im schlimmsten Fall gelogen, ein Tribut an die größere Macht der Eltern. 

Hier ist es also wieder, rund 630 Jahre vor Paulus. Dieses sonderbare Versprechen vor dem Hintergrund der Katastrophe: Einen neuen Geist, ein neues Herz will ich euch geben und ihr werdet rein vor mir sein. Nicht euer Tun wird das zuwege bringen, sondern meines. Und die Wüste wird blühen!

Ich wünsche uns eine gesegnete Woche,
Ulf von Kalckreuth

Bibelvers der Woche 41/2020

Wer bei einem Vieh liegt, der soll des Todes sterben.
Ex 22,18

Hier ist ein Link für den Kontext des Verses, zur Lutherbibel 1984.

Der Weg des Gesetzes

Der Vers ist eine typische Mitzwah, eine Bestimmung der Torah. Im Judentum bestimmen die fünf Bücher Mose die Regeln für ein gottgefälliges Leben — Gott hat seinem Volk gesagt, welchen Weg es gehen sollen. Diese Regeln sind eine Gnadengabe Gottes am Sinai, in ihrer Gesamtheit beschreiben sie einen Heilsweg. Rabbinische Gelehrte zählen in den fünf Büchern Mose insgesamt 613 Bestimmungen: 248 Gebote und 365 Verbote. Die Mitzwot haben oft keinen im engeren Sinne religiösen Charakter, sondern regeln Fragen des Lebens, die in modernen Gesellschaften unter das Zivilrecht, das Strafrecht, das Familienrecht oder die Sozialgesetzgebung fallen könnten. Unter diesem Link finden Sie die Auflistung der Mitzwot nach Maimonides, dem großen jüdischen Religionsgelehrten des Mittelalters.

Die rabbinische Tradition hat Prinzipen entwickelt, diese Gebote auszulegen und auch das zu regeln, wofür es keine ausdrücklichen Bestimmungen gibt. Die 613 Mitzwot spannen damit einen normativen Raum auf, der das Gottgefällige vom Sündigen unterscheidet. „Ihr sollt heilig sein, denn ich bin heilig“ (3. Mose 19,2). Die Befolgung der Mitzwot ist eine lebenspraktische, tägliche Übung, die uns näher zu Gott bringen und an seiner Seite halten sollen. 

Daraus ergibt sich unmittelbar, wie unser Vers als Mitzwah zu lesen ist: Du bist ein Mensch, sollst heilig sein und dich nicht selbst zum Tier machen.

Die Haltung der christlichen Kirchen zur Torah und den Mitzwot ist nicht einfach zu verstehen. Die Torah wurde nicht in Gänze übernommen und verbindlich gemacht — Paulus legt dar, dass der Versuch, sich durch Befolgung aller Gebote das Heil zu sichern, in die Irre führen muss. Die jüdischen Speisegebote etwa haben im Christentum keine Geltung, die Gebote zu den Feiertagen nur ansatzweise. Aber auch ein Leben mit und aus Christus braucht am Ende Wegweiser und Jesus selbst verweist oft auf die Torah. Die zehn Gebote und das Doppelgebot der Liebe sind Kern christlicher Ethik. Und mit ihnen wurden viele Wertungen des Judentums übernommen, anderes wurde ergänzt. Der Weg des Gesetzes wird auch im Christentum gegangen, bei den Katholiken mehr als bei den Protestanten, und das richtige Maß ist bis heute Stein des Anstoßes. 

Die Wertungen der Torah zur Sexualethik wurden im Christentum vollständig übernommen. Paulus verweist auf sie als Ganzes, vgl. den BdW 2018/42. Viele davon sind auch heute vertraut und natürlich — die Bestimmungen zum Verkehr unter Verwandten etwa oder das Verbot, die eigene Tochter zu Hurerei anzuhalten — aber es sind darunter auch Bestimmungen wie die folgende (Lev 20,15):

Wenn jemand bei einem Mann schläft wie bei einer Frau, so haben sie beide getan, was ein Gräuel  ist, und sollen des Todes sterben; ihre Blutschuld komme über sie. 

Die Strafbarkeit von Sodomie wurde in der alten Bundesrepublik 1969 aufgehoben, wegen Bedeutungslosigkeit. Im Jahr 2012 wurde Sodomie wieder verboten — als Ordnungswidrigkeit im Rahmen der Tierschutzgesetzgebung. Eine Verfassungsbeschwerde zweier Sodomisten wegen Verletzung des Rechts auf sexuelle Selbstbestimmung scheiterte im Jahr 2016. Der Schutz des Tiers habe seinerseits Verfassungsrang. 

Noch einmal zurück zum Weg des Gesetzes. Ich bin tief gespalten. Sodomie mag in unserem Leben keine Rolle spielen. Der Vers und sein Umfeld illustrieren aber, dass der Weg des Gesetzes keine Autobahn ist, einfach zu fahren und schnelle Verbindung zum Ziel. Wir steinigen keine Ehebrecher (Lev 20,10) und wir töten keine Zauberinnen (Ex 22,19). Ich habe nicht gelernt, ein Leben im einundzwanzigsten Jahrhundert nach Regeln aus der Eisenzeit zu führen. Um das tun zu können, mit einem akzeptablen Ergebnis, braucht man eine lange und ganzheitliche religiöse Erziehung. Dazu muss gehören, die Bestimmungen als Richtschnur für das eigene Leben anzunehmen, nicht aber als Basis für das Urteil über andere. Auch verstehe ich die Warnung Paulus‘ vor den Fallstricken der Gesetzlichkeit gut.

Aber die Torah kann Gottes Willen erhellen wie ein Schlaglicht! Nur zwei Beispiele: den Vers der Woche 41/2018 — aus demselben Abschnitt wie der Vers dieser Woche vor genau zwei Jahren — und den Vers der Woche 48/2019. Wie will man darauf verzichten?

Wenn nun Gott sich uns Menschen zweimal in Gnade zugewandt hat: mit seinem Gesetz und mit dem Erlöser, seinem Sohn, und wenn dieser Erlöser immer und immer wieder auf das Gesetz verweist — wie schön wäre es dann für mich, genauer zu wissen, was denn Gottes Wille in meinem Leben ist! Nicht alles ist ja so leicht zu entscheiden wie die Frage, ob Sodomie einen Platz darin hat… 

Heute ist Tag der Deutschen Einheit und Sukkot, das Laubhüttenfest. Der Herr möge mit uns sein!
Ulf von Kalckreuth