Bibelvers der Woche 18/2020

Die Kinder des Weibes Hodijas, der Schwester Nahams, waren: der Vater Kegilas, der Garmiter, und Esthemoa, der Maachathiter.
1 Chr 4,19

Hier ist ein Link zum Kontext in der Lutherbibel 2017.

Menschen, ihre Großfamilien und ihre Orte

Das Buch Chronik gibt den Inhalt von Teilen Samuels und der beiden Königsbücher aus einer alternativen, stark auf den Tempel und das Südreich bezogenen Sicht wieder. Am Anfang des ersten Chronikbuchs steht die „genealogische Vorhalle“. Hier werden, Stamm für Stamm, die Beziehungen zwischen den wichtigen Sippen, Siedlungsgebieten und Städten erörtert. Dabei werden Städte und Landschaften wie Menschen behandelt: sie werden mit ihren Gründern identifiziert und sind in nachvollziehbar Weise verwandt miteinander; es lassen sich Verhältnisse von Über- und Unterordnung feststellen und begründen. Das gleiche Prinzip finden wir im Buch Genesis. Israel ist der Name eines Mannes, nicht nur eines Volks, Juda ebenso. Reihenweise werden Völker, Stämme, Städte auf einzelne lebende Menschen zurückgeführt.

Der gezogene Vers stammt aus einem von mehreren Abschnitten, in denen die Familien, Städte und Landschaften Judas behandelt werden. Den genauen Wortlaut des gezogenen Verses verstehe ich leider im einzelnen nicht, trotz großer Mühewaltung. Hodija wird vorher und nachher nirgends sonst erwähnt, auch Naham nicht, es ist nicht klar, wie die beiden Männer im Stamm Juda überhaupt verankert sind. Und bei Kegila (Keïla) und Esthemoa kann es sich um Menschen handeln oder auch um die Städte gleichen Namens: das alte Hebräisch gebraucht für Stammvater / Gründer nämlich das Wort für einen biologischen Vater, אב. Die Zuschreibungen „Garmiter“ und „Maachatiter“ können sich auf die Herkunft eines Menschen beziehen oder auf die Zuordnung zu einer Sippe oder einem Volk. 

Mit diesen Ambivalenzen im Originaltext sind die mir zugänglichen Bibelübersetzungen sehr unterschiedlich umgegangen. Ich will hier nur die Lösung der katholischen Einheitsübersetzung erwähnen. Dort geht man davon aus, dass das Wort Hodija gar nicht der Name eines Mannes ist, sondern das Resultat eines Übertragungsfehlers: am Anfang des Worts ist der Buchstabe Jod verloren gegangen. Dann nämlich heißt es jehudiah — von Juda –, und man erhält als Konjektur eine Lösung, die zum Text vorher gut passt: ein Mann namens Mered hatte zwei Frauen, eine ägyptische Frau, die Tochter des Pharao, und eine Frau aus Juda. Die judäische Frau war Schwester von Naham, des Gründers der Städte Kegila und Esthemoa.  

Vielleicht ist die Ambivalenz gerade der Schlüssel zu dem, was der sonderbare Vers uns heute sagen kann. Menschen leben in Landschaften und Städten, und die Landschaften und Städte sind durch Menschen geprägt, und sind in der Geschichte miteinander und mit ihren Bewohnern untrennbar verbunden. Die Bibel behandelt in einer heute politisch inkorrekt wirkenden Weise geographische Einheiten konsequent wie Menschen. 

Menschen, ihre Großfamilien und ihre Orte. Die Kalckreuths pflegen eine Familiengeschichte. Sie wird auf der Grundlage einer großen Arbeit aus dem Ende des neunzehnten Jahrhundert fortgeführt. Vor einigen Wochen erreichte mich eine Anfrage eines Mannes aus den Niederlanden, der seine Familie erforscht und dabei auf eine geborene Kalckreuth gestoßen ist. Ihr Name, Barbara Dorothea, taucht in unserer Familiengeschichte nicht weniger als viermal auf, immer im Umfeld desselben Guts. Zwei der Einträge beziehen sich vermutlich auf dieselbe Person, die anderen beiden aber lebten nicht zur gleichen Zeit. Hier gibt es eine überzeitliche Beziehung zwischen einem Ort und mehreren Menschen gleichen Namens. Es wäre schön, mehr über das Gut und die Familien zu wissen, deren Leben um den Ort kreiste. Der holländische Ahnenforscher war jedenfalls sehr erfreut über das, was er aus unserer Familiengeschichte erfuhr, und gemeinsam konnten wir die Gesuchte identifizieren.

Menschen, ihre Großfamilien und ihre Orte sind die grundlegenden Einheiten, aus denen die biblische Welt sich zusammensetzt. In der siebenten Woche der Kontaktbeschränkungen sind Bildschirme das wichtigste, beinahe einziges Interface zur Wirklichkeit geworden. Über Bildschirme haben wir Kontakt zu anderen Menschen, die ihre Welt ihrerseits ganz genauso erleben, und es gilt gleich, ob sie in Frankfurt, Jerusalem, London oder Paris leben. Das wird Folgen haben. Es tut gut, sich daran zu erinnern: Die Welt setzt sich aus Menschen zusammen, aus ihren Familien und aus Orten, in denen sie interagieren — miteinander und gegeneinander. Corona löst diesen Zusammenhang in unseren Köpfen nachhaltig auf. Vielleicht ist dies die eigentliche Krankheit.

Ich wünsche uns eine Woche mit so viel Realität in den Köpfen wie möglich: Menschen, ihre Familien und ihre Orte. Gott sei mit uns,
Ulf von Kalckreuth

Bibelvers der Woche 17/2020

Der wird groß sein und ein Sohn des Höchsten genannt werden; und Gott der Herr wird ihm den Stuhl seines Vaters David geben;
Lk 1,32

Hier ist ein Link zum Kontext in der Lutherbibel 2017.

Sohn des Höchsten — Menschensohn

Jesus selbst nennt sich oft den Menschensohn. Schon während seiner Lebenszeit und mehr noch danach gibt es Fragen und Auseinandersetzungen über seine Identität — Rabbi? Prophet? Messias? König? Sohn Gottes? Inkarnation des Herrn? Da steht er — wer ist er? 

Lukas trifft seine Festlegung ganz am Anfang, in einem Bericht aus der Zeit vor Jesu Geburt. Maria wird von einer Vision quasi überfallen: ein Bote Gottes besucht sie und spricht zu ihr:  

Fürchte dich nicht, Maria! Du hast Gnade bei Gott gefunden. Siehe, du wirst schwanger werden und einen Sohn gebären, dem sollst du den Namen Jesus geben. Der wird groß sein und Sohn des Höchsten genannt werden; und Gott der Herr wird ihm den Thron seines Vaters David geben, und er wird König sein über das Haus Jakob in Ewigkeit, und sein Reich wird kein Ende haben.

In ähnlich abrupter Weise waren kurz zuvor Zacharias und Elisabeth von der Ankündigung der Geburt Johannes des Täufers überrascht worden. Elisabeth und Maria waren verwandt, und Lukas erzählt später, wie die beiden Frauen sich treffen. 

Lukas gibt uns hier zwei Bilder: Sohn des Höchsten und König an der Stelle Davids. Das ist stimmig — die Könige Israels wurden Söhne Gottes genannt. Lukas aber führt das Bild weiter: er berichtet von einer jungfräulichen Geburt und einer Zeugung durch den Heiligen Geist. Hier wird eine Verschränkung angedeutet, die über das Symbolische weit hinausgeht. Die Sohnschaft Jesu wird in Lukas‘ Bericht von Gott selbst zweimal bestätigt: in den Erzählungen zur Taufe Jesu durch Johannes, Lk 3,22 und seiner Verklärung, Lk 9,35.

Mit der Christologie gibt es in der Theologie ein Lehrgebäude, das sich mit dem Wesen und der Natur Christi auseinandersetzt und versucht, die vielen unterschiedlichen Zuschreibungen zu integrieren. Wahrer Mensch und wahrer Gott? Manchmal bin ich froh, kein Theologe zu sein. An dieser Stelle hätte ich vielleicht mein Studium abgebrochen. 

Aber der Bibelvers der Woche verlangt nicht so viel: immer nur ein Aspekt. „Gottes Sohn“ ist eigentlich vertraut. Wir alle selbst sind Kinder Gottes. In 3,23f listet Lukas den Stammbaum Jesu auf. Von Josef aus geht er über David zurück zu Adam, über 76 Generationen. Und zu Adam heißt es dann lapidar „Der war Gottes“. In besonderer Weise waren Söhne Gottes die Gesalbten, die von Gott mit einem Auftrag versehenen Könige. Und zuallererst derjenige, der das Reich Gottes in Israel und der Welt aufrichten soll, als König und Sohn Davids, Statthalter des Herrn.

Jesus teilt mit seinem Vater das Geheimnis. Und in Jesus sehen wir den Vater, in seinem Lichte sehen wir das Licht.

Ich wünsche uns eine gesegnete Woche,
Ulf von Kalckreuth

Bibelvers der Woche 16/2020

Und wenn ihr schon schlüget das ganze Heer der Chaldäer, so wider euch streiten, und blieben ihrer etliche verwundet übrig, so würden sie doch, ein jeglicher in seinem Gezelt, sich aufmachen und diese Stadt mit Feuer verbrennen.
Jer 37,10

Hier ist ein Link zum Kontext in der Lutherbibel 2017.

Ruhe vor dem Sturm

Die Auseinandersetzung des judäischen Reichs mit der babylonischen Supermacht nähert sich dem Höhepunkt. Nebukadnezar hatte zuvor den widerspenstigen Vasallen bereits einmal zur Raison gebracht — er war in Jerusalem einmarschiert, hatte viele Bewohner als Gefangene weggeführt, einen Teil des Tempelschatzes geplündert und einen neuen König eingesetzt, Zedekia. Zum Amtsantritt schwor er Nebukadnezar einen Treueeid. Aber nach einigen Jahren schon will sich Zedekia sich selbständig machen — er baut auf die Unterstützung Ägyptens, des strategischen Gegners von Babylon und stellt die Tributzahlungen an Babylon ein. Nebukadnezar reagiert schnell und eilt mit einem Heer nach Judäa, besetzt das Umland und belagert Jerusalem.

Der Prophet Jeremia warnt schon lange Zeit vor dem Ränkespiel Zedekias, mit Visionen, die immer dringlicher und katastrophaler werden. Er zieht damit den Hass des Königs und der politischen Elite auf sich. Immer stärker gerät er unter Druck. Am Ende muß er in einer mit Schlamm gefüllten Zisterne um sein Leben kämpfen, so wie im Großen die eingeschlossene, untergehende Stadt.

Aber vor diesem Endspiel gibt es eine eigenartige Entspannung, ein retardierendes Moment. Die Ägypter nämlich halten ihre Zusage ein und schicken dem babylonischen König ein großes Heer entgegen. Nebukadnezar vermeidet die offene Schlacht, zieht sich ins Umland zurück und wartet einfach ab. Jerusalem ist scheinbar wieder frei.

Zedekia schickt Emissäre zu Jeremia. Vielleicht haben sich die schrecklichen Visionen Jeremias der neuen Situation angepasst? Vielleicht lässt sich der Bruch mit dem wortmächtigen und bekannten Propheten nun heilen?

Nein, sagt Jeremia, nichts da, der Untergang ist beschlossen, das Schicksal Jerusalems steht fest. Selbst wenn es den Truppen Judäas gelänge, die Babylonier in der Feldschlacht zu schlagen — ein Ding der Unmöglichkeit angesichts der Kräfteverhältnisse –, so würden die verwundeten Feinde aus ihren Zelten sich erheben wie Zombies und die Stadt dennoch niederbrennen!

Das klingt endzeitlich, und so ist es auch gemeint. In Jer 32-38 lassen sich die Bilder, die Jeremia in sich trägt, in der Auseinandersetzung mit Gott nachvollziehen. Die Prophezeiungen zum Untergang der Stadt ist unbedingt geworden, nicht wie früher an das Verhalten der Bewohner geknüpft. Aber genauso unbedingt mischt sich nun ein zweiter Klang in den ersten: die Stadt wird neu gebaut, wird wieder aufstehen, man wird (Jer 33,11) darin wieder hören den Jubel der Freude und der Wonne, die Stimme des Bräutigams und der Braut und „Und ich will einen ewigen Bund schließen, dass ich nicht ablassen will, ihnen Gutes zu tun, und will ihnen Furcht vor mir ins Herz geben, dass sie nicht von mir weichen“ (Jer 32,40).

Dieser Zweiklang eigentlich unvereinbarer Töne ist die bleibende Botschaft Jeremias — beide Teile dieser Botschaft haben sich erfüllt und erfüllen sich immer wieder neu, auch in unserem persönlichen Leben. Sie sind wie Karfreitag und Ostern, unvereinbar und doch untrennbar.

Ich wünsche uns eine gesegnete Osterwoche in unserer belagerten Zeit, 
Ulf von Kalckreuth

Bibelvers der Woche 15/2020

Der Sünder müsse ein Ende werden auf Erden, und die Gottlosen nicht mehr sein. Lobe den HErrn, meine Seele! Halleluja!
Ps 104,35

Hier ist ein Link zum Kontext in der Lutherbibel 2017.

Riß in der Welt

Unser Vers ist das Ende von Psalm 104, dem sogenannten Schöpfungspsalm, lang und berauschend schön. Lesen Sie ihn. Sein Anfang lautet wie folgt:

1 Lobe den HErrn, meine Seele!
HErr, mein Gott, du bist sehr groß; in Hoheit und Pracht bist du gekleidet.
2 Licht ist dein Kleid, das du anhast. 
Du breitest den Himmel aus wie ein Zelt;
3 du baust deine Gemächer über den Wassern. 
Du fährst auf den Wolken wie auf einem Wagen und kommst daher auf den Fittichen des Windes,…

Es geht um Vollkommenheit: Gott ist groß. Wir können ihn nicht sehen — empirisch erweist sich seine Größe dadurch, dass seine Schöpfung großartig ist. Der Psalm führt den Beweis, indem er diese Schöpfung einfach beschreibt. 

Aber doch gibt es auch unerträgliche Unvollkommenheiten. Der Psalmist spricht sie nicht direkt an, aber seine Hörer sind erwachsene Menschen und kennen das Leben, kennen ihre Mitmenschen und auch sich selbst. Die Schöpfung ist nicht vollkommen, weil die Menschen in ihr nicht vollkommen sind. Sünde ist Gottesferne. 

Deshalb ist es konsequent, wenn der Psalmist am Ende des Lobpreis ein scheinbar ganz neues Thema anschlägt und unvermittelt fordert, dass den Sündern der Garaus gemacht werde. Es geht allerdings — so verstehe ich es — nicht um wirkliche und lebende Sünder, die aus der Welt verabschiedet werden sollen, sondern um die Sünde an sich, diese nagende Unvollkommenheit, die gemäß der Logik des Psalms ja auch eine Leugnung oder Minderung Gottes darstellt. Denn das Argument lässt sich natürlich herumdrehen — wie kann ein vollkommener Gott eine unvollkommene Welt schaffen oder dulden? Der Psalmist bittet Gott also, diesen Riß in der Welt zu heilen. Im Kirchenjahr hat der Riß seinen Platz und seinen Namen: Karfreitag. 

Pessach ist das Fest der Befreiung von Zwang, ein Abschied von der Sklaverei. Den Menschen wird ihre Würde (zurück)gegeben. Ostern geht noch weiter: Gott heilt den Riß in der Welt, führt die Bruchstücke zusammen. Die Sünde verschwindet nicht, aber sie verliert ihre Relevanz, sie wird im Grunde unwichtig. Das Reich Gottes bricht an, und uns Menschen ist Erlösung und Gnade geschenkt. 

Frohe Ostern also und chag pessach sameach: Lobe den HErrn, meine Seele! Halleluja!
Ulf von Kalckreuth