Bibelvers der Woche 01/2020

In der Gegend des Jordans ließ sie der König gießen in dicker Erde, zwischen Sukkoth und Zaredatha.
2.Ch 4,17

Hier ist ein Link zum Kontext in der Lutherbibel 2017.

Den Tempel bauen

Die Abschnitte rund um den Vers handeln davon, wie König Salomo den Tempel baut. Er macht es natürlich nicht selbst. Hunderttausende arbeiten zeitweilig daran, wie berichtet wird. Unter anderem werden alle „Fremden“ herangezogen, von mehr als hundertfünfzigtausend wird berichtet, um im Gebirge die Steine für den Tempel zu hauen und nach Jerusalem zu bringen. 

Die Einrichtung des Tempels, Bronzegefäße, Leuchter, der Altar, das „Meer“, in dem die Priester sich wuschen, die Cherubim im Allerheiligsten, und so viel anderes mehr, stand unter der Aufsicht von Hiram aus Tyrus. Diesen Baumeister, Kunsthandwerker und Berater schickte der König von Tyrus seinem Verbündeten Salomo für das große Werk. Der König, gleichfalls Hiram mit Namen, machte das Werk auch durch umfangreiche Lieferungen von kostbaren Hölzern aus dem Libanon möglich. Seine Stellung in der biblischen Erzählung kontrastiert sonderbar stark mit dem, was Jesaja über einen späteren König von Tyrus schreiben wird, siehe den BdW 50/2019. 

Hiram, der Baumeister war nur mütterlicherseits Hebräer, sein Vater kam aus Tyrus. Für die Freimaurer ist Hiram eine Art Heiliger, der besondere Einsichten hatte, und ein besonderer Mensch muss er in der Tat gewesen sein. Das Opfer war Gemeinschaft mit Gott, der Ort dafür war der Jerusalemer Tempel, und um diesen Tempel kreisen die Schriften des Alten Testaments in fast schon obsessiver Weise. Und die Geräte, immer wieder einzeln aufgezählt, wurden geschaffen von einem Ausländer. 

Ich selbst befinde mich gerade laut Google Maps rund 1600 Meter Luftlinie von der goldenen Kuppel des Felsendoms entfernt. Dort stand vermutlich das Allerheiligste des Tempels, mit den zwei großen Cherubim, die Hiram schuf. Der Tempel ist Vergangenheit und doch auch nicht — irgendwie kreist diese Stadt weiter um das Areal. Für Juden ist er als geistiges Objekt höchst präsent, und für Muslime ist der Felsen unter dem Dom der Ort, auf dem die Welt gegründet ist. 

Es ist dies ein schöner Vers für den Beginn des neuen Jahres. Ich habe trotz Internetrecherche nicht verstanden, wozu beim Bronzeguss „dicke Erde“ oder „fester Lehm“ nötig ist. Manche Bibelübersetzungen, so auch die neue Lutherbibel, halten „dicke Erde“ (‚avi ha’adama) gar für einen Ortsnamen. Wie dem auch sei, wer einen Tempel einrichten will, braucht nicht nur Genie und fast unbegrenzte Ressourcen, sondern er muss sein Werk auch gut gründen, in dicker Erde eben. So ungefähr verstehe ich die Wendung.

Ich wünsche uns allen für das kommende Jahr dicke Erde genug, dass wir unsere Aufgaben und unseren Auftrag erfüllen können, was immer diese auch seien, und darin glücklich sind!
Jerusalem, 29. Dezember 2019, Ulf von Kalckreuth

Jerusalem Altstadt, Jahreswende 2019/2920
Jerusalem, Altstadt, Jahreswende 2019/2020

Bibelvers der Woche 52/2019

Ein Knecht aber des Herrn soll nicht zänkisch sein, sondern freundlich gegen jedermann, lehrhaft, der die Bösen tragen kann…
2. Tim 2,24

Hier ist ein Link zum Kontext in der Lutherbibel 2017.

Die „Bösen tragen“

Hier ist der letzte BdW in diesem Jahr. Er richtet sich an diejenigen, die Führungsaufgaben in der Gemeinde haben, im weiteren Sinne aber auch an jeden, der geistliche oder weltliche Führung übernimmt: nicht nur Politiker und Manager, auch Eltern, Lehrer und Leiter von Arbeitskreisen.  

Zum besseren Verständnis hier zunächst den vollständigen Satz in der Fassung von 2017: 

Ein Knecht des Herrn aber soll nicht streitsüchtig sein, sondern freundlich gegen jedermann, im Lehren geschickt, einer, der Böses ertragen kann und mit Sanftmut die Widerspenstigen zurechtweist. Vielleicht hilft ihnen Gott zur Umkehr, die Wahrheit zu erkennen und wieder nüchtern zu werden aus der Verstrickung des Teufels, von dem sie gefangen sind, zu tun seinen Willen.

Die Aufforderung enthält drei Elemente: 

  1. Wir sollen das, was wir gelernt und erfahren haben, weitergeben, in Paulus Worten: „lehrhaft“ sein. Unser Wissen und unsere Erfahrungen sind ein Schatz, den Gott uns anvertraut. Wir sollen den rechten Gebrauch davon machen 
  2. Wir sollen freundlich dabei sein, nicht „zänkisch“. Das steht mit Absicht sogar an erster Stelle. Und es ist schwer. Wenn ich von einer Wahrheit überzeugt bin und noch dazu den Auftrag habe, sie weiterzugeben — wie soll ich die Geduld bewahren, wenn andere nicht interessiert sind, nicht zuhören, nicht verstehen, gar spotten? Wie soll ich ruhig bleiben, wenn andere aus guten oder weniger guten Gründen das gerade Gegenteil behaupten?
  3. Das, was uns dennoch an Unwillen entgegenschlägt, sollen wir ertragen und standhaft bleiben. Auch das ist schwer. 

Ein Vers für mich, denke ich. Als ich ihn las, dachte ich nicht zuerst an Führung im Gemeindekontext, sondern an meine Rolle als Vater. „Lehrhaft“ bin ich, sicher, diesen Auftrag habe ich immer ernst genommen. Aber bei den anderen beiden Forderungen sieht es viel schlechter aus. Ich musste auch an meine Arbeit denken. Vor einigen Jahren bin ich an den Forderungen 2 und 3 gescheitert, weil für mich Forderung 1 über allem stand.

Da gibt es Rückkopplungen. Je schlechter es um Forderung 3 bestellt ist, umso schwerer ist Forderung 2 zu erfüllen. Und umgekehrt — je gereizter jemand auftritt, umso eher wird er Reaktionen ernten, die schwer zu verdauen sind. 

Wir müssen unsere Aufgaben ernst nehmen. Und ohne Freundlichkeit, und ohne die Fähigkeit, ungerechte und verletzende Reaktionen anderer zu ertragen, können wir sie nicht erfüllen. Das weiß jeder, der mit Kindern zu tun hat. Warum ist es denn dann so schwer? Wenn wir unfreundlich werden, und wenn wir uns zu leicht verletzen lassen, geht es eigentlich nicht mehr um unsere Aufgabe, sondern um unsere Eigenliebe. Ist sie verletzt, so hindert uns dies an allem anderen. Im Grunde lädt uns also Paulus ein, unsere Eigenliebe zu vergessen und NUR an die Aufgabe zu denken. Denn dann dienen ja die zweite und dritte Forderung der ersten, es gibt keinen Widerspruch und kein Problem! 

Aber ist das denn möglich? Ich selbst bin gescheitert, ich darf das fragen. Auch Paulus hatte seine Probleme. Bei Forderung 2 hilft uns, dass wir uns als Erlöste sehen dürfen. Wir müssen nichts beweisen, wir müssen nicht unbedingt recht behalten, wozu? Und Forderung 3 zu erfüllen ist dann nicht schwer, wenn und solange wir uns als Kinder Gottes sehen und den anderen auch. Und wenn es um das Wort Gottes geht, steht Forderung 1 für „Knechte Gottes“ über allem.  

So kann es gehen, aber man muss stark bleiben. 

So kann man die drei Forderungen auch in anderen Situationen erfüllen. Immer dann jedenfalls, wenn wir ehrlich überzeugt sind, dass die Aufgabe wichtiger ist als unsere Eigenliebe. Stellen wir fest, dass es nicht so ist, können wir uns guten Gewissens einer neuen Aufgabe zuwenden — wir müssen uns nicht allem zur Magd machen!

Es freut mich, dass ich das alte Jahr mit diesem Vers abschließen durfte. Ich wünsche uns eine gute Woche, in der wir freundlich sind zu jedermann und von anderen nichts Böses ertragen müssen. Und mitten darin in dieser Woche liege ein fröhliches Weihnachtsfest für alle! 
Ulf von Kalckreuth

Bibelvers der Woche 51/2019

Nun aber begehren sie eines bessern, nämlich eines himmlischen. Darum schämt sich Gott ihrer nicht, zu heißen ihr Gott; denn er hat ihnen eine Stadt zubereitet.
Hebr 11,16

Hier ist ein Link zum Kontext in der Lutherbibel 2017.

Die Verheißung

Unser Vers fügt sich nahtlos an den BdW der Kalenderwoche 47 an, an das große Versprechen, das sich durch die Bibel zieht. Erinnern Sie sich?

Ihr werdet aber über den Jordan gehen und in dem Lande wohnen, das euch der HErr, euer Gott, wird zum Erbe austeilen, und er wird euch Ruhe geben von allen euren Feinden um euch her, und ihr werdet sicher wohnen. (Dtn 12,10)

Hier geht es um die spezifische christliche Fassung dieser originären Verheißung, die im Alten Testament erst einem Menschen, dann einem Volk gegeben wurde. Nun soll sie Menschen aus allen Völkern gelten und sich nicht auf irdisches Land beziehen, sondern auf das Reich Gottes. Zum besseren Verständnis hier der Vers in seinem unmittelbaren Kontext

Diese alle (Abel, Henoch, Noah, Abraham, Sarah, d.V)) sind gestorben im Glauben und haben die Verheißungen nicht ergriffen, sondern sie nur von ferne gesehen und gegrüßt und haben bekannt, dass sie Gäste und Fremdlinge auf Erden sind. Wenn sie aber solches sagen, geben sie zu verstehen, dass sie ein Vaterland suchen. Und wenn sie das Land gemeint hätten, von dem sie ausgezogen waren, hätten sie ja Zeit gehabt, wieder umzukehren. Nun aber streben sie zu einem besseren Land, nämlich dem himmlischen. Darum schämt sich Gott ihrer nicht, ihr Gott zu heißen; denn er hat ihnen eine Stadt gebaut.

Ich glaube, man kann es einfacher sagen. Die Zeugen der ersten Zeit, über die in Genesis berichtet wird, haben geglaubt. Sie glaubten etwas, das sie nicht sehen konnten und im Vertrauen darauf sind sie ausgezogen und haben Bekanntes aufgegeben. Es ist das Reich Gottes, das sie eigentlich suchten und auf das immer schon die Verheißung lautete. Diese Verheißung haben sie zu Lebzeiten nicht erlangt, sie steht ihnen noch aus. Sie werden sie gemeinsam mit denen erlangen, die jetzt leben, so steht es am Ende des Abschnitts. 

Ich liebe die Vorstellung vom Reich Gottes. Etwas, das nicht hier ist, aber doch schon da, das wir als einzelne, lokal, schon leben können, manchmal wenigstens, dessen Erfüllung für alle, global, aber noch aussteht. Vielleicht ist die globale Erfüllung (und die dazugehörige Apokalypse) am Ende auch ein Gleichnis für die lokale Form, das Reich Gottes in unserem eigenen Leben. 

Auch wir müssen ausziehen und aufgeben, um suchen und finden zu können, und vermutlich finden wir, indem wir in Bewegung sind, nicht alles auf einmal, sondern entlang des Wegs immer mehr. So verstehe ich die Geschichte der Alten. Und jeder von uns hat am Ende seine eigene Apokalypse vor sich. 

Ich wünsche uns allen eine gesegnete Adventswoche auf dem Weg zum besseren Land,
Ulf von Kalckreuth

Bibelvers der Woche 50/2019

Und weil sich dein Herz erhebt, dass du so schön bist, und hast dich deine Klugheit lassen betrügen in deiner Pracht, darum will ich dich zu Boden stürzen und ein Schauspiel aus dir machen vor den Königen.
Hes 28,17

Hier ist ein Link zum Kontext in der Lutherbibel 2017.

Wer ist Luzifer? 

Der Abschnitt, in dem unser Vers steht, Hes 28, 11-19, ist schön und schrecklich zugleich. Vielleicht lesen Sie ihn erst einmal. 

Die ersten drei Jahre meiner Grundschulzeit war ich Schüler an einer katholischen Konfessionsschule, seinerzeit der einzige evangelische Schüler. Der Religionsunterricht wurde von Ordensschwestern erteilt. Sie erzählten mir eine Geschichte, die ich nie vergessen habe. Unter den Engeln Gottes war einer, der schöner und klüger war als die anderen, ein Engelfürst wie Michael und Gabriel. Sein Name war Luzifer, Morgenstern, „Lichtbringer“. Berauscht von seiner Schönheit und Klugheit wollte er mehr sein als die anderen, wollte er sein wie Gott. Er vermochte es, viele andere Engel auf seine Seite zu ziehen, und es kam zum Kampf unter den Engeln Gottes. Gegen Luzifer stritten Michael und seine Getreuen. Luzifer wurde überwunden und in die Hölle gestürzt, nun war er Satan und steht für die dunkle Seite der Welt. 

Die Geschichte ist wichtig. In der Nussschale erklärt sie, wie das Dunkle in die Welt kommt, obwohl Gott hell ist. Dass es real ist und mächtig, trotz Gottes Allmacht. Dass des Bösen Kraft aber nur vorläufig ist. Wie es verlockend sein kann und schön, auch beim dritten Hinschauen. Und selbstverständlich habe ich angenommen, dass die Geschichte in der Bibel steht. 

Aber dort steht sie nicht. Jedenfalls nicht im Buch Genesis, wo sie zu vermuten wäre. Als ich das irgendwann merkte, begann ich, sie zu suchen. Man erzählt sie sich überall bei den Christen, und sie wird auf drei Bibelstellen zurückgeführt. Eine davon ist Hes 28, aus der unser Vers stammt. Die beiden anderen sind Jes 14,12-14 und Off 12,3ff, der Kampf des Drachen mit den Engeln.

Aber sonderbar: der Text in Offenbarung bezieht sich auf die Endzeit, ist Apokalypse, nicht Genesis, er erzählt das Ende der Welt, nicht ihren Ursprung. Und die Texte von Jesaja und von Hesekiel behandeln lebende Menschen, Jesaja den König von Babylon, Hesekiel in unserem Vers den König von Tyros. Der Prophet stimmt sogar ein Klagelied für den König an, von Gott befohlen. Das wäre sehr viel „sympathy for the devil“, um es mit den Stones zu sagen. 

Recht betrachtet steht die Geschichte vom Höllensturz nicht in der Bibel. Aber wir kennen sie, und auch Johannes, Hesekiel und Jesaja könnten sie gekannt haben. Vielleicht haben sie die Geschichte bewusst genutzt, zitiert, um „ihren“ jeweiligen Gegenstand — die Endzeit und die Könige von Tyros und Babylon — zu beleuchten. In ihren Grundzügen wird sie im äthiopischen Henochbuch erzählt, dessen alte hebräische Fassung in Qumran aufgetaucht ist. Wenn es aber in unserem Vers nicht in erster Linie um Luzifer geht, um was dann? Es muss wichtig sein, Tyros empfängt mit drei Kapiteln bei Hesekiel enorme Aufmerksamkeit.

***

Zwei Szenen mit meinen Kindern. In der vergangenen Woche ging ich abends nach der Kinderoper mit Mathilde durch die Taunusanlage. Es war dunkel und die Hochhäuser ringsum waren hell erleuchtet und neigten sich wie Giganten über uns. Mathilde war begeistert von der blendenden Pracht. Ich auch, aber ich dachte an den Bibelvers und stellte mir vor, sie stürzten über uns zusammen. 

Meine ältere Tochter, Esther, hat mich in der vorvergangenen Woche in die Welt von Instagram eingeführt. Ich habe jetzt einen eigenen Account und kann sehen, wie Menschen sich und ihr Leben darstellen. Überall Ästhetik — manche stellen das dar, was sie sehen und wie sie es sehen, manche andere schamlos immer wieder sich selbst. Alles ausweglos hochselektiv. Die Accounts wachsen organisch und verweisen aufeinander, sind miteinander verflochten. Instagram und Facebook sind Teil der „echten“ Welt geworden, die Menschen leben darin und ein wenig auch dadurch. Auch hier lässt mich etwas nicht los: Was geschieht, wenn der Träger des Accounts stirbt? Seine Bilder, seine Kommentare, seine Nachrichten bleiben, was sie sind, sie wachsen nur nicht weiter. In der virtuellen Welt bleiben sie stehen, glänzend und schön, abgelöst von unserer Körperlichkeit. Wir entgrenzen.

Dann verstand ich, worauf ich Abschnitt und Vers beziehen kann. Der Text von Hesekiel passt auf uns, viel besser noch als auf die Menschen, die der Prophet selbst kannte. Nach den Maßstäben des Altertums sind wir von Engeln und Göttern kaum zu unterscheiden. Viele von uns jedenfalls. Das Internet, die sozialen Medien und der Flugverkehr machen uns fast allwissend und allgegenwärtig. Manche von uns richten ihr ganzes Leben auf diesen Feenglanz. 

Wenn wir uns vergessen und zu Göttern werden, gehen wir unter. Wie der König von Tyros und die Frau des Fischers im Märchen. Und könnte es nicht sein, dass auch die uralte Geschichte vom gefallenen Engel, die mir die Ordensschwester weitergegeben hat, eigentlich uns meint, schön und schrecklich zugleich, unentwirrbar, und die Kämpfe in unserem Inneren?
Ulf von Kalckreuth 

Mathilde vor der Alten Oper

Bibelvers der Woche 49/2019

Dies ist die Last über Arabien: ihr werdet im Walde in Arabien herbergen, ihr Reisezüge der Dedaniter.
Jes 21,13

Hier ist ein Link zum Kontext in der Lutherbibel 2017.

Verlorene Wege

Unser Vers ist in der Übersetzung von 1912 nicht leicht zu verstehen, hier mit ein wenig Kontext die Übersetzung von 2017:

Dies ist die Last für Arabien: Ihr müsst im Gestrüpp, in der Steppe über Nacht bleiben, ihr Karawanen der Dedaniter. Bringt den Durstigen Wasser entgegen, die ihr wohnt im Lande Tema; bietet Brot den Flüchtigen. Denn sie flohen vor dem Schwert, ja, vor dem blanken Schwert, vor dem gespannten Bogen, vor der Gewalt des Kampfes.

Jesaja lebte im achten Jahrhundert vor Christus in Judäa und war Prophet und Zeuge des Untergangs des Nordreichs, des größeren, glanzvolleren und oft feindlichen israelitischen Geschwisterstaats, der den Assyrern anheimfiel. Seine Visionen erstrecken sich aber auch auf die Nachbarvölker, hier auf Arabien, dessen Einwohner sich die Hebräer verwandt wussten. 

Andere Völker sollten Land verlieren oder Städte — die Dedaniter waren Händler, sie hatten kein Land und keine Städte. Was hatten sie, was konnten sie verlieren? Sie hatten Wege, ein System von Rastplätzen mit Ruhestätten und Wasser, die zu benutzen sie das Recht hatten. Das war ihre Existenzgrundlage als Fernhändler (‚Karawanen‘). 

Der Herr ist hier mitnichten der Gott, der allen alles recht macht. Jesaja verkündigt eine harte Zeit. Die Dedaniter verlieren ihre Wege. Sie müssen ungeschützt übernachten, im Gestrüpp, haben keinen Zugang zu den Oasen. Diese sind durch Invasoren besetzt, die Dedaniter müssen fliehen.

Wie fühlt es sich an, seine Wege verloren zu haben? Was bleibt? Die Dedaniter sind marginalisiert, in Gefahr, mit ihren Tieren zu verdursten. Einen letzten Weg gibt es, eine letzte Hoffnung. Jesaja appelliert nicht an Gott. Der hat sein Urteil gesprochen. Er appelliert an die Solidarität der Nachbarn in Tema. Sie werden aufgerufen, das Unheil zu mildern, das von Gottes Ratschluss ausgeht. Nicht in Erfüllung eines Gebots — sie hängen dem Gott Israels gar nicht an — sie sollen es einfach tun. Ohne Grund.

Die Bibel spricht oft rauh und lapidar. Die Botschaft dieses sehr alten Texts ist erschütternd existentialistisch. Wir sind es gewohnt, Gott anzurufen, das Unheil zu mildern, das von unseren Mitmenschen ausgeht. Aber wer macht das Schicksal — Gott oder die Menschen? Und an wem ist es, zu mildern? Vielleicht tun wir sein Werk gerade dann?

Ich wünsche uns eine Woche, in der wir unsere Wege sicher gehen können. In der wir Kraft finden, dem zu helfen ohne Grund, der seine Wege verloren hat.
Ulf von Kalckreuth