Bibelvers der Woche 44/2019

Und der HErr tat, wie Mose gesagt hatte, und schaffte das Ungeziefer weg von Pharao, von seinen Knechten und von seinem Volk, daß nicht eines übrigblieb.
Ex 8,27

Hier ist der Link zur Lutherbibel 2017 für den Kontext des Verses.

Verblendung

Das klingt doch richtig gut — Mose betet, und der Herr schafft das schreckliche Ungeziefer weg vom ägyptischen Volk, das sehr gelitten hat, so dass nicht ein Tier übrigbleibt. 

Aber etwas ist wie in einem Alptraum. Dieselbe Geschichte wiederholt sich immer wieder, neun Mal, mit Variationen. Der ägyptische König soll seine hebräischen Bausklaven in die Wüste ziehen und ein Opfer verrichten lassen, sagt Moses. Der König weigert sich. Dann geschieht etwas spektakulär-schreckliches: Blut, Frösche, Stechmücken aus dem Nil, Ungeziefer, Viehpest, Blattern, Hagel, Heuschrecken, Finsternis — jedes religiös erzogene jüdische Kind kann die Plagen auswendig hersagen. Der Pharao lenkt ein und bittet Mose, die Plage von ihm und seinem Volk zu nehmen, dann werde er den Opferdienst in der Wüste erlauben. Die Plage verschwindet ins Nichts, aus dem sie gekommen ist. Und dann geschieht es, neunmal: „der Pharao verhärtete sein Herz auch diesmal, und ließ das Volk nicht ziehen“. Die nächste Plage kommt. 

Unglaublich, nicht wahr? Beim zehnten Mal schließlich geschieht eine Katastrophe. Alle erstgeborenen Söhne im Land sterben, nur die der Israeliten nicht. Die hebräischen Kinder sind geschützt durch Blut am Türrahmen, das Blut eines zuvor geschlachteten Lamms, das dem Todesengel den Weg weist: hier nicht! Das ist der Kern des Pessach-Festes, aus dem unser Osterfest erwachsen ist. Schockiert erlaubt der Pharao den Auszug, der nicht vorübergehend bleibt: die Bausklaven der Ägypter ziehen in die Wüste, um dort ihrem Gott zu begegnen.

In der langen Erzählung wirkt der Pharao wie ferngesteuert. Jedes Mal gibt er nach, um die Konzession sofort wieder zurückzunehmen, wenn die Not gebannt ist. Und auch der Herr wiederholt seinen Part immer wieder. Da spielen zwei ein Spiel. Aber eigentlich spielt das Spiel nur einer, der andere nämlich ist ein Roboter, eine Marionette. Am Anfang des siebten Kapitels (Ex 7,1-5) eröffnet Gott dem Mose, er werde das Herz des Pharaos verhärten, so dass dieser nicht auf ihn, Mose, hören werde. Und dann werde Gott in spektakulärer Weise, „durch große Gerichte“ das Volk aus Ägyptenland führen. 

Die Gebetserhörung im gezogenen Vers ist daher durchaus nicht das, was sie zu sein scheint. Sie öffnet nur den Vorhang für den nächsten Akt. Der Pharao hat keine Willensfreiheit, und so schließt sich eine Heimsuchung an die andere, wie in einer Schleife, die Gott selbst programmiert hat, mit einer Abzweigung zu einem weithin sichtbaren blutigen Ende. 

Es ist nicht leicht, als Nichtjude zu dieser Erzählung ein positives Verhältnis zu entwickeln. „Wen Gott vernichten will, den schlägt er mit Blindheit“ heißt es. Wir dürfen in der Tat dankbar sein, wenn wir lesen können, was die Welt uns mitteilt. Die Bibelstelle scheint auch darauf hinzudeuten, dass — im gegebenen Kontext jedenfalls — Gottes Treue ausschließlich dem auserwählten Volk gilt. Wer gehört dazu? Wer nicht? 

Noch etwas: Konflikte, die sich nach festem Schema wiederholen und die Beteiligten zu Automaten machen, gibt es auch heute: Familien- und Ehestreit, Tarifkämpfe, Bürgerkriege, zermürbende Fehden unter Kollegen. Wenn es eine Hölle gibt, dann sieht sie vermutlich so aus. Wir sollten ihr entfliehen, wenn es geht.

Ich wünsche uns eine gesegnete Woche, im Vollbesitz unseres Urteilsvermögens, 
Ulf von Kalckreuth

Bibelvers der Woche 43/2019

…und soll es auf dem Altar opfern samt dem Speisopfer und ihn versöhnen, so ist er rein.
Lev 14,20

Hier ist ein Link zum Kontext in der Lutherbibel 2017

Reinheit II

Der Bibelvers der vergangenen Woche handelte von Reinheit als zentralem Konzept im Verhältnis zwischen Gott und Mensch. Im Vers dieser Woche geht es um Reinheit in einem sehr kreatürlichen Kontext. Aussatz ist eine spezifische und besonders krasse Form von Unreinheit. Der Aussätzige musste außerhalb der Gemeinschaft leben und war recht weitgehend seinem Schicksal überlassen. Eine Katastrophe für ihn. Es geschah aber auch, dass jemand gesundete. Dies musste zunächst vom Priester verifiziert werden. Anschließend wurde er rituell in den Zustand der Reinheit zurückgeführt — über die physische Heilung hinaus war ein Akt erforderlich, die Gemeinschaft mit Gott und den Menschen wieder herzustellen. 

Das Ritual ist kompliziert. Es zog sich über acht Tage hin und erforderte mehrere Opfer. Im Anschluss an die Begutachtung wurde zunächst ein sehr spezielles Opfer gebracht, bei dem ein Vogel mit dem Blut des anderen Vogels besprengt freigelassen wurde. Ich sehe darin ein Bild für die Heilung selbst, die den Kranken gewissermaßen durch den Tod hindurchführt. Nach sieben bzw. acht Tagen war ein weiteres, komplexes Opfer nötig, das nicht weniger als drei der in den ersten Kapiteln von Leviticus beschriebenen Grundtypen umfasste: ein Schuldopfer, ein Speisopfer und ein Brandopfer

Ich kann und will hier nicht in die Einzelheiten gehen, ich verstehe sie zu wenig. Wichtig ist folgendes: Das Schuldopfer kommt von einem Menschen, den seine Verfehlungen von Gott und den Menschen getrennt haben. Weil er unrein ist, kann er die Tötung des Opfertiers nicht selbst vornehmen. Der Priester muss es für ihn tun, ein Anteil des Opfers geht an ihn. Das Brandopfer sind „zum lieblichen Geruch“, sie gelten Gott ganz allein, die Opfergemeinschaft nahm nicht daran teil. Brandopfer kommen von kultisch reinen Menschen, die einen Grund haben, Freude mit Gott zu teilen. Sie führen das Opfer normalerweise selbst aus. Nicht aber in diesem Fall: Die Reinigung ist erst das Ziel, der Priester muss also auch das Brandopfer schlachten, stellvertretend für den zu Reinigenden. 

Opfer ist immer Kommunikation mit Gott. Der komplizierte Ritus spiegelt die Aspekte wieder, die das Wiedererlangen der Reinheit hat. Der erste Akt wirkt magisch und steht für die Heilung selbst. Das zweite Opfer überwindet das „Defizit“ der Unreinheit so, wie ein Mensch sich vom Makel der Sünde befreit. Sünde und Unreinheit ist eins. Der dritte Teil schließlich ist eine innige Zuwendung des Gereinigten, des zurück ans Ufer Gelangten, zu Gott selbst — ich hätte diese Zuwendung gern als Dank bezeichnet, aber Dankopfers sind in der Nomenklatur von Levitikus eine eigene Kategorie (Kapitel 3).

Um dieses Brandopfer, den letzten Teil des Ritus, geht es im gezogenen Vers. Die Reinheit ist eigentlich bereits da, und doch bedarf sie, um wirklich zu werden, eines Aktes, der selbst Reinheit bereits voraussetzt. „Mind-boggling“ würde der Brite sagen. Bezeichnenderweise findet sich der Nachsatz „so ist er rein“ ein erstes Mal bereits im Anschluss an die siebentägige Wartefrist nach dem Vogelopfer.

Zufällig habe ich am Sonntag der vergangenen Woche eine Predigt zur Heilung der zehn Aussätzigen gehört, Luk 17,11-19. Der beschriebene Ritus ist integraler Teil der Erzählung von Lukas. Jesus heilt zehn Aussätzige, die an ihn und seine Heilkraft glauben. Er schickt sie zum Priester, damit dieser die Heilung feststellt. Aber nur einer kehrt zurück, um Jesus zu danken und Gott zu loben — und dies ausgerechnet ein Samariter, von denen die Juden geistlich nicht viel erwarteten. Jesus bringt seine Enttäuschung über die anderen zum Ausdruck und sagt dem Samariter: Steh auf, geh hin, dein Glaube hat Dir geholfen! 

Ich denke, Jesus und der Samariter tun hier etwas, das dem letzten Teil des Ritus entspricht: die Reinheit ist technisch bereits hergestellt, sie muss aber im Miteinander von Mensch und Gott vollzogen werden. Jesu Rolle ist ambivalent – ist er Priester? Vertritt er Gott? 

Reinheit, die nicht mit Gott gelebt wird, ist unwirklich, theoretisch, vielleicht gar wertlos. Ich habe mir Reinheit stets als Zustand gedacht, der auf Erden nicht zu erreichen ist, der metaphysischer Fluchtpunkt eines immer physisch bleibenden Lebens ist. Die beiden Bibelstellen erwecken nun eher den Eindruck, als ob Reinheit vor Gott nicht nur durchaus erreicht werden kann, sondern sogar Voraussetzung ist für die aktive Gemeinschaft mit Gott. 

Ich wünsche uns eine Woche, in der unsere Reinheit nicht folgenlos bleibt — was immer das dann bedeutet. 
Ulf von Kalckreuth

Bibelvers der Woche 42/2019

…und sprach zu ihnen: Ein jeglicher werfe weg die Greuel vor seinen Augen, und verunreinigt euch nicht an den Götzen Ägyptens! denn ich bin der HErr, euer Gott.
Hes 27,7

Hier ist ein Link zum Kontext in der Lutherbibel 2017

Nach Jeremia nun ein Vers von Hesekiel / Ezechiel. Die beiden Propheten haben gleichzeitig gewirkt, aber an verschiedenen Orten — Jeremia lebte bis zur Zerstörung der Stadt 587 in Jerusalem und musste dann nach Ägypten ziehen, während Hesekiel als junger Priester mit der ersten Gruppe der Exilanten im Jahr 597 nach Babylon kam und dort als Prophet wirkte. Ihre Perspektiven unterscheiden sich daher ein wenig — während Jeremias das Unheil kommen sieht und sich verzweifelt dagegenstemmt, ist Hesekiel zum selben Zeitpunkt bereits „überrollt“ — und er fragt sich, wie das geschehen konnte und wie es nun weitergeht. 

Seid rein vor mir, denn ich bin euer Gott!

Eine Delegation der Exilierten kommt zu Hesekiel, um den Herrn zu befragen. Der Herr lässt Hesekiel ausrichten, dass er nicht sprechen werde: „So wahr ich lebe, ich lasse mich nicht von Euch befragen“. Er fragt Hesekiel, ob dieser vielleicht Lust habe, das Volk zu richten, d.h. zu führen? Und dann erläutert Gott, warum er nicht mehr spricht.

Der Abschnitt unseres Verses ist beinahe wie ein Lied, mit dem gezogenen Vers oder Varianten davon als Refrain. Gott blickt auf die Geschichte des Volks zurück. Es wächst in Ägypten heran. Der Herr hatte den Vätern versprochen, es zu seinem Volk zu machen und ihm das Gelobte Land zu geben. Er stellt sich dem Volk in Ägypten vor und stellt nur diese eine Forderungen: seid rein vor mir, denn ich bin euer Gott. Es ist dies eine Form des ersten Gebots. Von anderen Geboten ist nicht die Rede, sie wurden noch nicht gegeben. 

Die Strophen des Liedes beschreiben, wie das Volk die Forderung nie erfüllt, und der Herr das Volk und sein Versprechen dennoch nicht verwirft, „um seines Namens willen“ — er hat sein Versprechen sichtbar für alle gegeben, er will es halten. Er versucht es immer neu: Er stellt sich Mose vor. Er führt das Volk in die Wüste, um es dort zu reinigen. Er gibt ihm Gebote, als Krücke, als Ausführungsbestimmung für die eine Grundforderung. Er gibt ihm das Land. 

Das Volk aber verehrt seine Götzen weiter. 

Gottes Gesprächsbereitschaft hat nun aufgehört — bis zu dem Punkt, wo die Gebote, die er gibt, nicht mehr alle gut sind und dem Leben dienen (Vers 25). Das erinnert ein wenig an den Vers der letzten Woche. Das Volk soll seinen Götzen dienen, wie es will. Und doch will Gott sein Versprechen, seine Vision von der Einheit von Mensch und Gott wahrmachen, das zerstreute Volk zusammenführen auf seinem heiligen Berg. Das steht am Ende des Abschnitts, und der Widerspruch könnte nicht krasser sein: an diesem Punkt ist kein Weg dorthin mehr sichtbar. 

Reinheit als Forderung, die vor allem anderen steht. Sonderbar. Das erinnert an 3. Mose 19,2: „Ihr sollt heilig sein, denn ich bin heilig, der Herr, euer Gott.“ Ich habe in dieser Woche eine eigenartige Erfahrung gemacht. In Luxemburg mache ich eine Fortbildung, die eigentlich eher eine statistische Grundausbildung ist. Als ich ankam, spät nachts, fand ich mich in einem Konvikt wieder. Es dauerte ein wenig bis ich verstanden hatte, wo ich bin: Die katholische Kirche hat auf ihrem großen, mehrere Gebäude umfassenden Ausbildungszentrum einen Hotelbetrieb errichtet, um Zimmer zu vermieten, die sie aktuell nicht braucht. Und alles in dieser Stadt ist so unglaublich teuer, dass selbst die Pizza unbezahlbar ist. Da ich neun bis zehn Stunden sitzen muss und mittags die Zeit und das Geld nicht fürs Essen reichen, laufe ich stattdessen im Luxemburger Festungsgraben. Sehr lange schon habe ich nicht mehr regelmäßig gejoggt, ich bin froh, dass ich die Laufsachen dabei habe. Abends esse ich einfach und vegetarisch. An den ersten Tagen regnet es pausenlos, so sehr, dass man das Grundstück — außer zum Joggen — kaum verlassen kann. Die Familie ist in den Ferien. Funkstille. Abends lese ich die Geschichte Jeremias von Franz Werfel. Ich bin unvorbereitet auf sehr eigenartige Weise reduziert, es ist beinahe wie im Kloster. Freude macht das nicht, aber es wirkt: der Wechsel aus Konzentration und Bewegung, wenig, aber gutes Essen und genügend Schlaf machen mich fokussiert und ruhig. 

Ich denke, der Vers hat etwas mit dieser Erfahrung zu tun. Reinheit hat den Charakter eines Meta-Gebots — über aller Drangsal von richtig und falsch steht die Forderung, sich nicht mit unnützem Ballast zu füllen, sondern sein Leben einfach zu führen. Mit dem Herrn, nicht gegen ihn. Die Gräuel vor unseren Augen sollen wir wegwerfen. Ägyptische Götzen sind dabei heute nicht mehr im Spiel, es ist all dasjenige, was uns hindert, die Wirklichkeit zu sehen. 

Heute ist Sonntag. Ich sitze draußen vor dem Stadtgraben, dem Val de Petrusse, und blicke – mit leichtem, aber merklichen Hungergefühl – in einen herrlichen, lichten und goldenen Herbst. Ein Gottesdienst nach anglikanischem Ritus liegt hinter mir, eine Jazz-Matinee und ein langer Spaziergang. Im Gottesdienst gab es ein Sündenbekenntnis und die Verkündung der Vergebung der Sünden.

Und ich wünsche uns die ganze nächste Woche so, in Reinheit.
Ulf von Kalckreuth

Luxembourg, Val de Petrusse, Frühherbst

Bibelvers der Woche 41/2019

Denn ich habe den Verderber über dich bestellt, einen jeglichen mit seinen Waffen; die sollen deine auserwählten Zedern umhauen und ins Feuer werfen.
Jer 22,7

Hier ist ein Link zur Lutherbibel 2017, für den Kontext des Verses.

Propheten und andere Werkzeuge Gottes

Wieder Jeremia, wie vor zwei Wochen. Dieser Vers mag exemplarisch für seine dunkle Seite stehen. Im vorhergehenden Abschnitt 21 wird erzählt, wie König Zedekia den Hohepriester Paschhur, den Erzfeind Jeremias, zu ihm entsendet um ihn zu fragen, welche Bewandtnis es mit dem Angriff des neubabylonischen König Nebukadnezars habe. Jeremia weiss, dass dies der Anfang vom Ende Judas und all dessen ist, was er gekannt hat. Der Herr hat den Untergang der Stadt beschlossen und ist ihr Feind geworden. Er wagt es, dies dem Hohenpriester und dem König mit deutlichen Worten zu sagen. Er empfiehlt die Kapitulation: nur derjenige, der die Stadt verlässt, wird Nebukadnezars Angriff überleben. Das ist nichts anderes als ein Aufruf zu Desertion und Fahnenflucht — mit dieser Antwort ist Jeremias Leben in unmittelbarer Gefahr. Mit seinem Leben hat er in Abschnitt 20 bereits abgeschlossen und es verflucht.

Jeremia ist nicht leicht zu lesen, und der Abschnitt um den Vers gehört zu den härteren. Abschnitt 22 ist ein Rückblick auf andere prophetische Botschaften, an und über die Könige Judas vor Zedekia. Das Buch Jeremia ist nicht chronologisch geordnet. Der Text ist vielmehr nach inhaltlichen Gesichtspunkten strukturiert, manchmal beinahe assoziativ. Ständig gibt es Rückblicke nach hinten und Verweise nach vorn. Vielleicht hat das mit seinen Entstehungsbedingungen aus mehreren Quellen zu tun, es ist aber im Grunde nicht unpassend für den Bericht über das Leben eines Propheten, für den die Worte Vergangenheit und Zukunft nicht dieselbe Bedeutung haben wie für uns. Wir wissen nicht, an welchen König sich die Botschaft um den gezogenen Vers herum eigentlich richtet. Bei den anderen Prophezeiungen des Abschnitts sind die Bezüge benannt, hier nicht. Sie mag also allen Königen gelten. Stimmung und Aussage ist in der Tat typisch für Jeremias Grundbotschaft, die sich im Lauf der Zeit wenig ändert, nur immer präziser wird. 

Jeremia sagt, Gott habe für das Königshaus Verderber bestellt, mit verschiedenen und je eigenen Waffen. Im hebräischen Text und in allen modernen Übersetzungen steht „Verderber“ im Plural — der Singular in der alten Lutherübersetzung 1912 soll vielleicht eine Assoziation mit dem Satan wecken. Das ist schwer zu verteidigen. Im hebräischen Text steht für „bestellt“ wörtlich „heiligen“. Man würde dieses Wort zum Beispiel für die Berufung eines Propheten oder die Bestimmung eines heiligen Bezirks verwenden. Das Königshaus wird also von Gott eben nicht „zum Teufel geschickt“, seine Vernichtung ist vielmehr ein sakraler Akt, eine Art Opferhandlung. Dazu passt, dass Jeremia König Nebukadnezar, den Herrscher des heidnischen Babylon, den Zerstörer Judas, immer wieder als Werkzeug des Herrn bezeichnet.

Während die dem König Zedekia in Abschnitt 21 angekündigte Vernichtung bereits ausweglos ist, ist das Ende des Königshauses in dem nachgeschobenen Rückblick um den gezogenen Vers herum noch bedingt — darauf, nämlich, dass das Königshaus nicht doch noch umkehrt. Der Absatz um den Vers sagt auch, worum es geht, was geändert werden muß: die moralische Verworfenheit der Elite, ihre Gleichgültigkeit gegenüber grundlegenden Prinzipien von Recht und Gerechtigkeit.

Mit seiner Sprache und seinen Botschaften ist Jeremia für fast alle Menschen seiner Umgebung unerträglich. Dabei ist er als Sprachrohr Gottes ohne rechte Wahl und er ist sich in dieser Rolle oft genug selbst unerträglich. Mir fällt bei dem Vers und dem Abschnitt ein Video ein, dass ich kürzlich gesehen habe. Greta Thunberg, sechzehnjährige Schülerin aus Schweden mit Asperger-Syndrom, spricht vor der Vollversammlung der Uno. Mit einem Gesicht verzerrt von Schmerz und Zorn sagt sie, schreit sie fast, die Politiker auf den Bänken vor ihr hätten ihr das Leben gestohlen — sie sollte in ihrem Alter mit ihren Freundinnen unterwegs sein statt sich um Politik zu kümmern. Und sie und alle anderen würden immer nur belogen, von Leuten, die das eine sagen und das andere täten. „How can you dare“ fragt sie mehrmals, „How can you dare?“

Da ist sehr viel von Jeremia. Die (hier ebenfalls noch bedingt) angekündigte Vernichtung, der Vorwurf der moralischen Verkommenheit, und auch das Leiden desjenigen, der dies alles aussprechen und die Folgen tragen muß. Ich will nicht darüber reden, ob Greta Thunberg der vor ihr sitzenden Angela Merkel in jeder Weise gerecht geworden ist, obwohl es reizvoll wäre. Thunberg hat in New York als Prophetin, als Künderin, gesprochen. So wird sie auch gesehen. Sie füllt eine Rolle aus, die viel zu groß für sie ist, und sie wird das bezahlen müssen. 

Aber Thunberg ist keine Prophetin, nicht wahr? Sie spricht nicht im Namen Gottes wie Jeremia und die anderen, sondern im Namen der Wissenschaft — ungewöhnlich eigentlich für ein sechzehnjähriges Mädchen. Die Wissenschaft ist das höhere Wesen, das wir noch kennen, den Namen Gottes haben wir vergessen. Das verwirrt mich. Es gibt keine Propheten mehr, und doch ist da jemand, die so sehr Künderin ist. 

Prophetin ohne Gott? Spricht Gott auch durch Menschen, die sich nicht auf ihn beziehen? Auf diese Frage gibt unser Vers ja nebenbei einen Hinweis… Ich wünsche uns, nicht nur für die kommende Woche, dass wir die Zeichen an der Wand lesen lernen, die Gott uns schreibt. 
Ulf von Kalckreuth