Bibelvers der Woche 09/2019

Meine Zeit ist dahin und von mir weggetan wie eines Hirten Hütte. Ich reiße mein Leben ab wie ein Weber; er bricht mich ab wie einen dünnen Faden; du machst’s mit mir ein Ende den Tag vor Abend.
Jes 38,12

Hier ist der Link für den Kontext des Verses, in der Lutherbibel 2017.

Und sie dreht sich doch… rückwärts!

Als ich ihn zog, hat der Vers mich sofort beeindruckt und erschreckt, ohne dass ich schon etwas über seinen Kontext wusste. Das ist sehr expressive Sprache: hier schreit jemand in höchster Todesnot. Ich glaubte zunächst, es sei Jesaja selbst. 

Aber es ist Hiskia, der hier schreit, König des Südreichs, großer Reformer, der viel dazu beigetragen hat, aus dem JHWH-Kult ein Judentum zu formen. Hiskia ist todkrank. Er weiß, dass er stirbt, und auch Jesaja weiß es. Der Prophet kommt, dem König auszurichten, dass er seine Dinge ordnen möge, er werde sterben, es sei vorbei. Hiskia wendet sein Angesicht zur Wand und betet. Da lässt der Herr Jesaja sagen, er habe sein Gebet erhört, er werde ihn retten, seinen Tagen noch fünfzehn Jahre zulegen und ihm außerdem gegen die Assyrer beistehen. Als Zeichen werde er den Schatten, der bereits die Stufen des Palasts heruntergegangen ist, wieder hinaufgehen lassen. „Da ging die Sonne die zehn Stufen zurück, die sie hinabgestiegen war“.

Unser Vers ist aus dem sog. Lied des Hiskia, Hiskias Gebet. Es ist ein Psalm, die nicht Psalter steht. Hier stirbt jemand, und stirbt am Ende doch nicht. Die Sonne, die Zeit, läuft rückwärts. Im Buch Josua lässt Gott die Sonne stillstehen, um Josua mehr Zeit in einer Schlacht zu geben. Hier ist es Hiskia, der mehr Zeit bekommt, ganze fünfzehn Jahre. 

Ein Wunder ist geschehen. War also mein Erschrecken unberechtigt? Ein Wunder ist die große Ausnahme, sonst ist es keines, die Regel war und ist eine ganz andere. „Wenn auch tausend fallen zu deiner Seite, …  so wird es doch dich nicht treffen“ — die Zusage aus Psalm 91, wem gilt sie denn? Den tausenden offenbar nicht. Die Antwort in Psalm 91 ist hermetisch: „Wer unter dem Schirm des Höchsten sitzt und unter dem Schatten des Allmächtigen bleibt,…“ Das erinnert sehr an Exodus 33,19: „Wem ich gnädig bin, dem bin ich gnädig, und wessen ich mich erbarme, dessen erbarme ich mich“. Sind dies wenige, viele, alle? Das unterliegt Gottes unverfügbarem Ratschluss. Wie Hiob hätten wir lieber einen Rechtsanspruch, am besten einklagbar. Aber den gibt es nicht. Es gibt Gnade. So brutal es klingt: wir sind Gott schutzlos ausgeliefert. 

Das Lied des Hiskia ist Bestandteil der Laudes im Totenoffizium der katholischen Kirche und damit in jedem Stundenbuch enthalten. Vielleicht sollte man es beten, bevor es zu spät ist, so wie Hiskia es tat. Es ist ein sehr eindrücklicher Text, ich füge das Lied in voller Länge an. 

„Der HERR hat mir geholfen, darum wollen wir singen und spielen, solange wir leben, im Hause des HERRN!“ 

Ich wünsche uns eine Woche unter dem Schirm des Höchsten.
Ulf von Kalckreuth

Dies ist das Lied Hiskias, des Königs von Juda, als er krank gewesen und von seiner Krankheit gesund geworden war:

Ich sprach: In der Mitte meines Lebens muss ich dahinfahren,
zu des Totenreichs Pforten bin ich befohlen für den Rest meiner Jahre.
Ich sprach: Nun werde ich nicht mehr sehen den HERRN,
ja, den HERRN im Lande der Lebendigen,
nicht mehr schauen die Menschen,
mit denen, die auf der Welt sind.
Meine Hütte ist abgebrochen
und über mir weggenommen wie eines Hirten Zelt.
Zu Ende gewebt hab ich mein Leben wie ein Weber;
er schneidet mich ab vom Faden.
Tag und Nacht gibst du mich preis;
bis zum Morgen schreie ich um Hilfe;
aber er zerbricht mir alle meine Knochen wie ein Löwe;
Tag und Nacht gibst du mich preis.
Ich zwitschere wie eine Schwalbe
und gurre wie eine Taube.
Meine Augen sehen verlangend nach oben:
Herr, ich leide Not, tritt für mich ein!
Was soll ich reden und was ihm sagen?
Er hat’s getan!
Entflohen ist all mein Schlaf
bei solcher Betrübnis meiner Seele.
Herr, davon lebt man,
und allein darin liegt meines Lebens Kraft:
Du lässt mich genesen
und am Leben bleiben.
Siehe, um Trost war mir sehr bange.
Du aber hast dich meiner Seele herzlich angenommen,
dass sie nicht verdürbe;
denn du wirfst alle meine Sünden hinter dich zurück.
Denn die Toten loben dich nicht,
und der Tod rühmt dich nicht,
und die in die Grube fahren,
warten nicht auf deine Treue;
sondern allein, die da leben, loben dich so wie ich heute.
Der Vater macht den Kindern deine Treue kund.
Der HERR hat mir geholfen,
darum wollen wir singen und spielen,
solange wir leben,
im Hause des HERRN!

Bibelvers der Woche 08/2019

Aber Melchisedek, der König von Salem, trug Brot und Wein hervor. Und er war ein Priester Gottes des Höchsten.
Gen 14,18

Hier ist ein Link für den Kontext des Verses, zur Lutherbibel 2017.

Eine Begegnung

Abraham, sonst halbnomadischer Viehzüchter, begegnet uns hier als Feldherr. Sein Bruder Lot war in einem Krieg zwischen zwei verfeindeter Bündnissen gefangen genommen worden. An der Spitze von 318 Knechten und den Männern befreundeter Clans erzwingt Abraham die Entscheidung, befreit seinen Bruder und rettet die Könige von Sodom und Gomorrha. 

Was dann kommt, beschäftigt Juden wie Christen bis heute. Hier die Zeilen, die unseren Vers umgeben: 

Als er nun zurückkam von dem Sieg über Kedor-Laomer und die Könige mit ihm, ging ihm entgegen der König von Sodom in das Tal Schawe, das ist das Königstal. Aber Melchisedek, der König von Salem, trug Brot und Wein heraus. Und er war ein Priester Gottes des Höchsten und segnete ihn und sprach: Gesegnet seist du, Abram, vom höchsten Gott, der Himmel und Erde geschaffen hat; und gelobt sei Gott der Höchste, der deine Feinde in deine Hand gegeben hat. Und Abram gab ihm den Zehnten von allem.

Melchisedek ist hier nicht nur König, sondern auch Priester des Herrn. Er segnet Abraham und dieser gibt ihm den Zehnten. Der Stammvater des auserwählten Volks erkennt damit Melchisedeks Hoheit als Priester an! Die Priester der Hebräer stammen von Aaron ab, dem Bruder Moses, ein Levit und damit Nachkomme Abrahams. Melchisedek gehört also einer anderen, ursprünglichen und höheren Ordnung des Priestertums Gottes an. So sieht es der Hebräerbrief im Neuen Testament, und nennt Jesus Christus einen „Hohepriester der Ordnung Melchisedeks“. Auch das Alte Testament erkennt in Psalm 110 Melchisedek als Priester eigener Art und sieht ihn als Urbild eines Königs von Israel, vielleicht Davids, vielleicht des Messias.

Zwei Heilige begegnen sich! Es ist schwer zu entscheiden, ob der Vers in dieser sehr alten Textschicht wirklich messianisch gedeutet werden sollte. Aber etwas anderes tritt klar hervor. Abraham ist nicht der erste mit einer definierten Beziehung zu Gott. Es gab bereits Priester des Herrn in Kanaan. 

Es gibt in der Torah nicht nur ein auserwähltes Volk, es gibt auch besondere, heilige Orte. „Salem“ ist vermutlich Jerusalem. Auch Mose begegnet (am Beginn der Exoduserzählung) einem Priester des Herrn weit entfernt von den Hebräern. Auf der Flucht aus Ägypten wegen eines Mordes kommt er nach Midian, ein Land südlich von Kanaan und östlich der Halbinsel Sinai, wohl in der Landschaft um das heutige Eilat. Die Midianiter sind kriegerische Wüstenbewohner. Bei ihnen trifft er Zippora. Ihr Vater ist Priester beim Horeb, dem Gottesberg. Nach vielen Jahren, in denen er für seinen Schwiegervater die Schafe gehütet hat, begegnet Mose in der Wüste am Horeb dem Herrn, im brennenden Dornbusch. Dort eröffnet ihm dieser seinen heiligen Namen: JHWH. 

Wir treffen Gott dort, wo er sich zeigt. Nicht unbedingt dort, wo oder bei wem wir es erwarten. Seien wir offen für besondere Begegnungen – vielleicht in dieser Woche? 
Ulf von Kalckreuth

Bibelvers der Woche 07/2019

Doch so spricht der Herr HErr: Wenn die vierzig Jahre aus sein werden, will ich die Ägypter wieder sammeln aus den Völkern, darunter sie zerstreut sollen werden,…
Hes 29,13

Hier ist ein Link für den Kontext des Verses, zur Lutherbibel von 2017.

Eine nicht erfüllte Prophezeiung

Liest man den Vers der Woche, so möchte man sofort stutzen: Wieso Ägypten? Was Ezechiel schreibt, hätte man ohne weiteres auf Juda beziehen können: von Eroberern zerstreut, sammelt es sich nach geraumer Zeit wieder aus den Völkern.

Aber Ägypten ist gemeint. Ezechiel prophezeit eine Niederlage des Pharao und eine vierzig Jahre andauernde, völlige Verwüstung des Landes als Strafe für den Hochmut seiner Herrscher und die Unzuverlässigkeit gegenüber dem Bündnispartner Israel. Im nachfolgenden Kapitel 30 gibt es eine weitere Prophezeiung, dergemäß der Untergang Ägyptens konkret durch Nebukadnezar von Babylon herbeigeführt werde. Auch die nachfolgenden Kapitel 31 und 32 behandeln den bevorstehenden Untergang Ägyptens. Ähnliche Visionen gibt es in Jesaja 19 und in Jeremia 46. Die drei großen Propheten sind sich über das Schicksal Ägyptens einig. 

Nun ging allerdings Ägypten nicht unter, nicht durch die Babylonier jedenfalls. Erst später, durch den persischen König Kambyses II, Sohn des Kyros, verliert das Land seine Unabhängigkeit. Aber auch dann wird es nicht verwüstet, sondern eher erneuert und zu Wohlstand geführt.

Was können wir anfangen mit einer nicht erfüllten Prophezeiung aus sehr ferner Zeit? Vielleicht ist das Bild wichtig, das die Propheten zeichnen. Die kulturelle und politische Großmacht Ägypten war immer geistiger Bezugspunkt für die Israeliten — oft gehasst, viel bewundert, manchmal auch geliebt. In Ägypten fand Josef Sicherheit vor seinen Brüdern und später sein Namensvetter vor Herodes. In Ägypten wurden die Israeliten ein Volk, aus Ägypten zogen sie durch die Wüste ins Heilige Land, geführt von einem Propheten, der einen ägyptischen Namen trug und am ägyptischen Königshaus erzogen wurde. Im Bündnis mit Ägypten wollten sie der babylonischen Herrschaft entkommen.

Beim Lesen von Ezechiels Text tritt mir mein eigenes Land vor Augen. Nach dem Krieg war Deutschland zerschlagen und verwüstet. Nach fünfundvierzig Jahren konnte es die Teilung überwinden. Wie einstmals Ägypten, so war Deutschland geistiger Bezugspunkt für die Juden, nicht erst in der Katastrophe, lange vorher schon und irgendwie auch nachher noch, for better or worse. Das jüdische Volk und Deutschland haben denselben Schutzpatron, den Erzengel Michael.

In den Visionen von Ezechiel und Jesaja ergeht es den Ägyptern perspektivisch wie dem jüdischen Volk. Bei Ezechiel eher negativ gefärbt, die Ägypter sinken politisch auf den Status von Juda herab: 

Denn so spricht Gott der HERR: Wenn die vierzig Jahre um sein werden, will ich die Ägypter wieder sammeln aus den Völkern, unter die sie zerstreut werden sollen, und will das Geschick Ägyptens wenden und sie wieder ins Land Patros bringen, in ihr Vaterland; aber sie sollen dort nur ein kleines Königreich sein. Sie sollen kleiner sein als andere Reiche und nicht mehr sich erheben über die Völker, und ich will sie gering machen, dass sie nicht über die Völker herrschen sollen,… (Eze 29, 13-15) 

Jesajas Prophezeiung ist rund hundertfünfzig Jahre älter. Der große Rivale Ägyptens heißt hier noch Assyrien. Auch Jesaja schließt in einer Parallelführung mit Israel, seine Vision aber ist ergreifend versöhnlich: 

Und der HERR wird die Ägypter schlagen und heilen; und sie werden sich bekehren zum HERRN, und er wird sich von ihnen bitten lassen und sie heilen. Zu der Zeit wird eine Straße sein von Ägypten nach Assyrien, dass die Assyrer nach Ägypten und die Ägypter nach Assyrien kommen, und die Ägypter samt den Assyrern werden dem Herrn dienen. Zu der Zeit wird Israel der Dritte sein mit Ägypten und Assyrien, ein Segen mitten auf Erden; denn der HERR Zebaoth wird sie segnen und sprechen: Gesegnet bist du, Ägypten, mein Volk, und du, Assur, meiner Hände Werk, und du, Israel, mein Erbe! (Jes 19, 22-25)

Der Herr sei mit uns in dieser Woche!
Ulf von Kalckreuth

Bibelvers der Woche 06/2019

Darum hüte dich vor seinem Angesicht und gehorche seiner Stimme und erbittere ihn nicht; denn er wird euer Übertreten nicht vergeben, und mein Name ist in ihm.
Ex 23,21

Hier ist ein Link für den Kontext des Verses, zur Übersetzung von 2017.

Der Weg

Das Volk Israel hat sich auf den Weg ins Gelobte Land gemacht und lagert am Sinai. Dort werden die zehn Gebote verkündet und Mahnungen und Verheißungen ausgesprochen. Der Bundesschluss steht bevor. Hier der unmittelbare Kontext:

Siehe, ich sende einen Engel vor dir her, der dich behüte auf dem Wege und dich bringe an den Ort, den ich bereitet habe. Darum hüte dich vor seinem Angesicht und gehorche seiner Stimme und erbittere ihn nicht; denn er wird euer Übertreten nicht vergeben, und mein Name ist in ihm. Wirst du aber seiner Stimme hören und tun alles, was ich dir sagen werde, so will ich deiner Feinde Feind und deiner Widersacher Widersacher sein.

Über mehrere Jahre besuchten wir regelmäßig einen Kindergottesdienst, wo die größeren Kinder von den kleinen und ganz kleinen mit einem Lied verabschiedet wurden. „Siehe, ich sende einen Engel vor Dir her…“ Ich habe das ab und zu auf der Gitarre begleitet. Das Bild vom Engel als Begleiter unseres Wegs fühlte sich vertraut an und verlieh den Kindern Sicherheit.

Wie man sich denken kann, kam der darauf folgende Vers im Lied nicht vor. In der Bibel haben Engel so gar nichts Kuscheliges an sich: sie sind Diener Gottes, so das hebräische Wort, Werkzeuge seines Willens, seine Stellvertreter, oft genug als furchterregende Kämpfer. Auch hier: das Volk macht sich auf einen Weg, an dessen Ende eine Eroberung stehen soll. Der Engel unseres Verses ist wie Gott selbst. Wie die Israeliten Gott nicht schauen können ohne zu sterben, so sollen sie sich vor dem Antlitz dieses Engels hüten. Er wird sie bewahren und auf dem Weg führen, und sie sollen ihn nicht erbittern, denn er wird Übertretung nicht vergeben —der Name Gottes ist in ihm.

Schutz und Strafe, Fluch und Segen als Seiten derselben Medaille, dieses Motiv zieht sich durch die ganze Bibel. Wird unser Tun von Gott und den höheren Mächten argwöhnisch betrachtet und sanktioniert? Ist es gut, in ständiger Furcht vor Strafe zu leben? Sollen wir das?

Der Vers bietet eine Perspektive. Es geht ganz ausdrücklich um einen Weg, den Gott uns bestimmt hat, mit einem Ziel, das er bereitet hat. Wenn der Weg gut ist, dann ist Abweichen schlecht. In der Wüste ist das evident. Wer vom Weg abweicht, kann umkommen. Im besten Fall wird er das Ziel auf einem anderen, schwierigeren und gefährlicheren Weg erreichen. Das Abweichen vom Weg trägt die Strafe in sich. 

Das schafft die Drohung nicht aus der Welt. Aber ich habe keine Mühe, damit zu leben. Nie und nirgends ist es eine gute Idee, etwas Notwendiges nicht zu tun. 

Ich wünsche uns eine Woche mit dem Engel auf dem Weg,
Ulf Von Kalckreuth